Leitsatz (amtlich)
1. Auch in den Fällen, in denen die BA der Auffassung ist, daß der Antragsteller zu keiner auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Leistung mehr in der Lage ist, ist AFG § 103 Abs 2 anzuwenden.
2. Die Vorschrift des AFG § 103 Abs 2 S 2 enthält die Fiktion, daß der Antragsteller noch in der Lage ist, in den ihm nach seinen Kenntnissen und Fertigkeiten offenstehenden und zumutbaren Berufstätigkeiten unter den dort üblichen Bedingungen in einem Umfang zu arbeiten, durch den er mindestens die Hälfte des Einkommens eines vergleichbaren gesunden Versicherten erzielt. Diese Fiktion ist auch im Rahmen der AFG §§ 101 und 112 Abs 8 zu beachten.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ist auch dann grundsätzlich nicht ausgeschlossen, wenn der Arbeitslose wegen Minderung seines Leistungsvermögens zu keiner auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Erwerbstätigkeit mehr imstande ist.
2. Die Ablehnung von Arbeitslosengeld wegen einer Leistungsminderung setzt eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit voraus. Dies gilt auch dann, wenn das Arbeitsamt der Überzeugung ist, daß der Antragsteller nicht einmal mehr eine kurzzeitige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ausüben kann (sogenannte Null-Fälle).
3. In Fällen der Arbeitsunfähigkeit kann das Arbeitsamt dann ohne Mitwirkung des Rentenversicherungsträgers entscheiden, wann das Ende der Arbeitsunfähigkeit sich unzweifelhaft absehen läßt (vorübergehende Leistungsunfähigkeit).
Normenkette
AFG § 103 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, Abs. 2 S. 2 Fassung: 1969-06-25, § 101 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1969-06-25, § 112 Abs. 8 Fassung: 1969-06-25; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. November 1976 insoweit aufgehoben, als es den Urteilsausspruch des Sozialgerichts Marburg neu gefaßt hat.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, Arbeitslosengeld (Alg) zu versagen, weil der Kläger wegen seines geminderten Leistungsvermögens der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehe.
Der Kläger (geboren 1934) meldete sich am 26. Juli 1973 arbeitslos und beantragte Wiederbewilligung von Alg, das ihm für die vorangegangene Zeit wegen Erkrankung entzogen worden war. Die Beklagte lehnte nach ärztlicher Untersuchung des Klägers den Antrag ab mit der Begründung, daß seine Leistungsfähigkeit so gemindert sei, daß er zZt zu einer Arbeitsleistung nicht imstande sei (Bescheid vom 15. August 1973). Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 27. August 1973).
Im Laufe des Verfahrens hat der Kläger nach zwischenzeitlicher Arbeitstätigkeit erneut Anträge am 30. Oktober 1973 und 17. Januar 1974 gestellt. Der Antrag vom 17. Januar 1974 wurde aus den gleichen Gründen abgelehnt (Bescheid vom 12. März 1974). Über den anderen Antrag wurde bisher nicht ausdrücklich entschieden.
Auf die Klage hat das Sozialgericht - SG - Marburg durch Urteil vom 24. Juli 1974 den Bescheid vom 15. August 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 1973 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 26. Juli 1973 Alg für den Restanspruch von 81 Tagen zu gewähren. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat die Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen auf Antrag des Klägers vom 5. Juni 1974 entschieden, daß Berufsunfähigkeit noch nicht vorliege (Bescheid vom 28. November 1974). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 29. November 1976 die Berufung der Beklagten mit der Ergänzung zurückgewiesen, daß auch der Bescheid der Beklagten vom 12. März 1974 aufgehoben wird. Das LSG hat dazu ausgeführt: Es sei von der objektiven Verfügbarkeit iS von § 103 Abs 1 Nr 2, 2. Halbsatz des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) auszugehen, solange der Rentenversicherungsträger nicht mindestens Berufsunfähigkeit festgestellt habe. Dies gelte auch in Fällen, in denen die Bundesanstalt für Arbeit (BA) der Auffassung sei, daß überhaupt kein Leistungsvermögen mehr vorhanden sei. Die Frage, ob ein Arbeitsloser keinerlei Beschäftigung mehr verrichten könne oder ob seine Leistungsfähigkeit lediglich gemindert sei, könne meistens nicht eindeutig beantwortet werden. Deshalb könne aus den Formulierungen in § 103 Abs 1 AFG "nur geringfügige Beschäftigung (§ 102) ausüben kann" und "in seiner Leistungsfähigkeit gemindert" nicht geschlossen werden, daß nur für diese Grenzfälle des Leistungsrechts zunächst eine Entscheidung des zuständigen Rentenversicherungsträgers einzuholen sei. Dies ergebe sich auch nicht aus der alleinigen Erwähnung von Berufsunfähigkeit in § 103 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und Abs 2 Satz 1 AFG. Eine gesonderte Erwähnung der Erwerbsunfähigkeit sei nicht erforderlich gewesen, weil sie Berufsunfähigkeit einschließe. Bestätigt werde die vorgenommene Auslegung durch die Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drs V/2291, S. 57) und die Begründung des Bundestagsausschusses für Arbeit zur Fassung des § 103 (BT-Drs V/4110, S. 18), aus denen sich ergebe, daß eine Nahtlosigkeit zwischen Rentenversicherungsleistung und Alg herbeigeführt werden sollte. Diese Nahtlosigkeit sei aber nur gewährleistet, wenn in jedem Fall zunächst eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers erforderlich sei. Da die LVA keine Entscheidung getroffen habe, daß der Kläger berufsunfähig oder erwerbsunfähig sei, müsse er auch als verfügbar angesehen werden; es stehe ihm dementsprechend Alg zu. Hinsichtlich des Bescheides vom 12. März 1974 sei eine Klarstellung des Tenors des Urteils erster Instanz erforderlich gewesen. Auch durch diesen Bescheid sei über einen Rest des Anspruchs auf Alg ablehnend entschieden worden und dieser Bescheid sei Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 103 AFG. Entgegen der Auffassung des LSG sei aus dem Wortlaut des § 103 Abs 1 Satz 2 AFG zu schließen, daß nur Fälle gemeint seien, in denen wenigstens eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt werden könne. Unterstützt werde diese Folgerung dadurch, daß auch nur der Fall der Berufsunfähigkeit in diesem Teil der Vorschrift erwähnt sei. Die Erwerbsunfähigkeit werde nur in § 103 Abs 2 Satz 3 AFG genannt. Dies sei dort auch notwendig, um auch in den Fällen einen Anspruchsübergang sicherzustellen, in denen die BA die Befähigung zu geringfügiger Beschäftigung bejaht habe, der Rentenversicherungsträger aber Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und nicht nur wegen Berufsunfähigkeit gewähre. Auch in den Gesetzesbegründungen sei nur von der Sicherung der Nahtlosigkeit zwischen Berufsunfähigkeitsrente und Alg, nicht aber zwischen Erwerbsunfähigkeitsrente und Alg die Rede. Völlige Nahtlosigkeit zwischen den Leistungen der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung sei ohnehin nicht herzustellen, weil Rente unter Umständen auch aus versicherungsrechtlichen Gründen versagt werden könne. Für eine so weitgehende Beschneidung der Kompetenzen der BA, wie sie das LSG vornehme, gebe es auch keinen sachgerechten Grund. Nur dann, wenn wenigstens eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt werden könne, lasse sich eine Zuordnung zum Risikobereich der Arbeitslosenversicherung begründen, weil nur dann der Lohnausfall auf der Unfähigkeit des Arbeitsmarktes beruhe, das vorhandene Leistungsvermögen zu nutzen. Schließlich fehle auch für die Fälle, in denen ein Leistungsvermögen überhaupt nicht mehr vorhanden sei, ein Maßstab für die Bemessung des Alg. § 112 Abs 2 AFG setze stets ein vorhandenes Leistungsvermögen voraus. Die Auslegung des LSG vereinfache die Probleme keineswegs, sondern verschiebe sie nur. Es sei dann zwar nicht mehr zwischen geringfügigem Leistungsvermögen und völliger Leistungsunfähigkeit zu unterscheiden, wohl aber zwischen dauerndem Unvermögen zur Leistung und vorübergehendem Unvermögen aufgrund akuter Erkrankung.
Schließlich fehle in Fällen völliger Leistungsunfähigkeit auch eine Voraussetzung der Arbeitslosigkeit. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. März 1976 - 7 RAr 93/74 - (BSGE 41, 229) seien zu den Arbeitslosen nur solche Personen zu rechnen, die andernfalls in der betreffenden Zeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang ausüben würden. Das sei bei Leistungsunfähigen nicht möglich.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im wesentlichen unbegründet.
Sie kann nur insoweit Erfolg haben, als das LSG den Urteilsausspruch des SG Marburg neu gefaßt hat. Der Ausspruch des LSG, daß auch der Bescheid der Beklagten vom 12. März 1974 aufgehoben wird, enthält nämlich keine Klarstellung des sozialgerichtlichen Urteils, sondern eine darüber hinausgehende neue Entscheidung zuungunsten der Berufungsklägerin (Beklagten). Hierzu war das LSG nicht befugt. Eine Klarstellung kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Bescheid vom 12. März 1974 dem SG nicht gemäß § 96 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mitgeteilt worden ist und auch sonst keine Anhaltspunkte vorhanden sind, daß es hiervon Kenntnis erhalten hat. Daraus wird deutlich, daß das Gericht den Bescheid weder direkt noch "inzidenter" aufgehoben haben kann. Ein Bescheid, der nach § 96 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden ist - wie das auch hier hinsichtlich des Bescheides vom 12. März 1974 der Fall ist - wird auch nicht ohne weiteres dadurch aufgehoben, daß das SG für den gleichen Zeitraum eine inhaltlich andere materielle Entscheidung trifft. Die formelle Beseitigung des Bescheides erfordert einen entsprechenden Urteilsausspruch. Der Rechtsstreit über einen solchen Bescheid bleibt deshalb in diesen Fällen bei dem SG anhängig (LSG Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1970, 448; Peters/Sautter/Wolff SGG § 96 Anm 2 b - S. II/54 - unten). Das Verfahren ist durch das SG von Amts wegen weiterzuführen. Die somit über das Urteil des SG hinausgehende Entscheidung des LSG zum Nachteil der Beklagten ist rechtswidrig. Sie verstößt gegen den Grundsatz, daß das Urteil des ersten Rechtszuges nur insoweit abgeändert werden darf, als eine Abänderung beantragt ist (§ 202 SGG iVm § 536 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Zutreffend hat das LSG hingegen entschieden, daß der Anspruch des Klägers auf Alg nicht wegen mangelnder Verfügbarkeit verneint werden kann. Es hat richtig erkannt, daß die Ablehnung von Alg wegen einer Leistungsminderung eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit voraussetzt (§ 103 Abs 2 AFG) und daß dies auch dann gilt, wenn die BA (oder das Gericht) der Überzeugung ist, daß der Antragsteller nicht einmal mehr eine geringfügige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ausüben kann (sogenannte Null-Fälle).
Die gegenteilige Auffassung der Beklagten orientiert sich zu sehr am Wortlaut des § 103 AFG, ohne den Sinnzusammenhang der Vorschrift zu beachten. Nach § 103 Abs 1 Satz 2, 2. Halbsatz AFG wird Verfügbarkeit bei Personen, deren Leistungsfähigkeit so weit eingeschränkt ist, daß die Grenze der Geringfügigkeit (§ 102 AFG) erreicht oder unterschritten wird, noch anerkannt, wenn nicht gleichzeitig die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit vorliegen. Verfügbarkeit setzt also entweder eine Leistungsfähigkeit von mehr als geringfügigem Umfang voraus oder eine Leistungsfähigkeit oberhalb der Berufsunfähigkeitsgrenze. Daß hierbei auch die Fälle von Erwerbsunfähigkeit miterfaßt sind, ist unabweisbar, weil die Erwerbsunfähigkeit ein noch geringeres Leistungsvermögen voraussetzt als die Berufsunfähigkeit. § 103 Abs 1 Satz 2, 2. Halbsatz Nr 1 AFG ist so zu lesen, daß bei einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf Beschäftigungen unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze Verfügbarkeit (nur) zu verneinen ist, wenn "mindestens" Berufsunfähigkeit vorliegt. Fälle völliger Leistungsunfähigkeit sind also hier miterfaßt.
Durch § 103 Abs 2 AFG wird dieses System nicht grundsätzlich verändert. In Satz 1 wird zunächst nur die Entscheidungsbefugnis, ob Berufsunfähigkeit (oder Erwerbsunfähigkeit) vorliegt, auch für den Bereich der Arbeitslosenversicherung den Rentenversicherungsträgern übertragen. Durch diese Beteiligung des Rentenversicherungsträgers an der Entscheidung der BA über die Verfügbarkeit soll vermieden werden, daß unterschiedliche Auffassungen zweier Leistungsträger letztlich zu Lasten des Versicherten gehen. Die materiellen Voraussetzungen der Verfügbarkeit werden hierdurch überhaupt nicht berührt. Eine Veränderung der materiellen Grundlagen ergibt sich erst aus § 103 Abs 2 Satz 2 AFG. Die dort getroffene Regelung, daß Arbeitslose bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers als nicht berufsunfähig gelten, will die Unsicherheit beseitigen, die die lange Dauer der Feststellung von Berufsunfähigkeit für den Versicherten mit sich bringt. Sie löst dieses Problem, indem bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers ein Leistungsvermögen oberhalb der Berufsunfähigkeitsgrenze fingiert wird. Hierbei handelt es sich nicht lediglich um die formale Fiktion des Tatbestandsmerkmals "nicht berufsunfähig", also eine auf den engen Wirkungsbereich des § 103 Abs 1 Satz 2, 2. Halbsatz Nr 1 AFG begrenzte Unterstellung. Es handelt sich vielmehr um eine materielle Fiktion vorhandenen Leistungsvermögens. Der Antragsteller gilt als fähig, durch die auf dem Arbeitsmarkt angebotenen Beschäftigungsmöglichkeiten im Rahmen seines Berufs oder zumutbarer Verweisungsberufe die Hälfte des Einkommens eines vergleichbaren gesunden Versicherten zu erzielen (§ 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; dazu Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 - GS 2/75, 3/75, 4/75, 3/76 SGb 1977, 122). Mit dieser materiellen Fiktion der Leistungsfähigkeit bewegt sich § 103 Abs 2 AFG auch bei Fällen völliger Leistungsunfähigkeit durchaus im Rahmen des Systems von § 103 Abs 1 AFG, das an sich - insoweit ist der Beklagten zuzustimmen - die Fähigkeit, Leistungen zu erbringen, voraussetzt. Mit der Fiktion wird nämlich nicht zum Ausdruck gebracht, daß es auf die Leistungsfähigkeit nicht ankommt, sondern bestätigt, daß Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung an sich nur für Personen mit vorhandenem Leistungsvermögen vorgesehen sind. Anderenfalls wäre es nicht nötig gewesen, das Leistungsvermögen zu fingieren. Dabei wird zwar letztlich in Kauf genommen, daß uU auch solche Personen Alg erhalten, die über kein Leistungsvermögen mehr verfügen. Dies ist aber nicht nur eine normale Folge einer Fiktion, sondern vom Gesetzgeber im Hinblick auf das Ziel der möglichst vollkommenen Nahtlosigkeit zwischen Arbeitslosen- und Rentenversicherung auch gewollt.
Der Schluß, daß § 103 Abs 2 Satz 2 AFG nicht nur formale Bedeutung hat, sondern eine materielle Fiktion von Leistungsvermögen enthält, folgt daraus, daß diese Vorschrift überhaupt nur unter dieser Voraussetzung wirksam werden kann. Die Beklagte hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der Begriff der Arbeitslosigkeit (§ 101 AFG) nur Arbeitnehmer erfaßt, die im Zeitpunkt der Antragstellung und während der Zeit der anschließenden Beschäftigungslosigkeit dem Kreis der Personen zuzurechnen sind, die anderenfalls in dieser Zeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang ausüben würden (BSGE 41, 229 = SozR 4100 § 101 Nr 1). Würde der Fiktion des § 103 Abs 2 Satz 2 AFG nur formale Bedeutung im Rahmen von § 103 AFG zugemessen, so müßte dementsprechend bei Prüfung der Voraussetzungen des § 101 AFG in allen Fällen, in denen die Leistungsfähigkeit nach Auffassung der Beklagten die Geringfügigkeitsgrenze unterschreitet, Alg dennoch versagt werden, weil die Voraussetzungen des § 101 AFG nicht vorliegen. Da § 103 Abs 2 AFG aber nur für Fälle wirksam wird, in denen die Leistungsfähigkeit unter die Geringfügigkeitsgrenze gesunken ist, könnte diese Vorschrift nie zur Begründung des Alg-Anspruchs führen und wäre damit überflüssig. Ähnliches gilt für die Berechnung des Alg. Nach § 112 Abs 8 AFG ist nämlich bei Leistungsgeminderten das Alg nach der Leistung zu berechnen, zu der der Arbeitslose tatsächlich noch in der Lage ist. Das würde für alle Fälle einer Leistungsminderung, die die Geringfügigkeitsgrenze unterschreiten, so geringfügige Leistungen ergeben, daß das Ziel des § 103 Abs 2 AFG, eine nahtlose Unterhaltssicherung durch Alg und Rentenversicherung zu ermöglichen, weitgehend verfehlt würde. Die Beklagte hat deshalb selbst in ihrem Runderlaß Nr 138/70 (Dienstbl. A 1970, 379, 381 f) diese Fiktion im materiellen Sinne verstanden und bestimmt, daß für die Berechnung des Alg in Fällen des § 103 Abs 2 AFG von einer Leistungsfähigkeit von 21 Stunden wöchentlich auszugehen ist.
Neben diesen, in der Systematik des AFG angelegten Gründen sprechen auch Gründe aus dem System der Rentenversicherung dafür, daß sich die Fiktion des § 103 Abs 2 AFG auch auf Fälle der Erwerbsunfähigkeit erstreckt. Es ist nämlich regelmäßig im voraus schwer, eindeutig zu beurteilen, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit besteht. Dies folgt einmal aus der erheblichen Schwankungsbreite ärztlicher Beurteilungen. Der vorliegende Fall ist dafür ein Musterbeispiel. Auf diesen Gesichtspunkt ist bereits in der amtlichen Begründung zu § 103 (zu BT-Drs V/4110 S. 18 zu § 94 Abs 1 a) und in dem Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 - GS 2/75, 3/75, 4/75, 3/76 (SGb 1977, 122) - hingewiesen worden. Hinzu kommt, daß nach dem Beschluß des Großen Senats der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers längere Vermittlungsbemühungen vorauszugehen haben, deren Ausgang ungewiß ist. Diese mehrfache Unsicherheit in der Beurteilung schließt es aus, die Anwendbarkeit von § 103 Abs 2 AFG auf die Fälle zu beschränken, in denen letztlich nur auf Berufsunfähigkeit erkannt wird.
Der Gesetzgeber hat dieses Problem auch gesehen und ihm insoweit ausdrücklich Rechnung getragen, als der Rechtsübergang des Rentenanspruchs auf die BA nach § 103 Abs 2 Satz 3 AFG sowohl bei Zuerkennung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit als auch einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit eintritt. Diese Erwähnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit läßt den Rückschluß zu, daß die Anwendung des gesamten § 103 Abs 2 AFG nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen nur Berufsunfähigkeit in Betracht kommt. Ein Anhalt dafür, daß innerhalb der Fälle von Erwerbsunfähigkeit danach zu differenzieren wäre, ob die Erwerbsunfähigkeit auf völligem Leistungsunvermögen oder dem geminderten Leistungsvermögen in Verbindung mit der Arbeitsmarktsituation beruht, ist weder aus dem AFG zu entnehmen, noch läßt sich aus der Sicht der Rentenversicherung eine solche Trennungslinie mit hinreichender Klarheit ziehen.
Die Motive für die Einführung des § 103 AFG (BT-Drs V/4110 S. 18 zu § 94 Abs 1 a) bestätigen ebenfalls die hier vorgenommene Auslegung, daß auch in Fällen völliger Leistungsunfähigkeit bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers die Fiktion des § 103 Abs 2 AFG eingreift. Der Ausschuß für Arbeit, der diese Regelung im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen hat, hat deutlich gemacht, daß volle Nahtlosigkeit zwischen Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung erreicht werden soll. Wenn der Ausschuß in seiner Begründung ausführt, "zur Herstellung der vollen Nahtlosigkeit" halte er es für erforderlich, "daß der Arbeitslose bis zur Entscheidung des Rentenversicherungsträgers nicht als berufsunfähig angesehen werden darf" und es im nächsten Satz heißt: "gewährt der Rentenversicherungsträger nachträglich Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ...", so kann dies nur bedeuten, daß alle Fälle einbezogen werden sollten, in denen mindestens Berufsunfähigkeit vorliegt, also auch alle Fälle der Erwerbsunfähigkeit.
Die hier vorgenommene Auslegung führt auch nicht - wie die Beklagte meint - zu unzuträglichen Ergebnissen. Der Beklagten kann nicht gefolgt werden, daß durch die Einbeziehung der Nullfälle lediglich die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Leistungsunfähigkeit und geringfügigem Leistungsvermögen auf die Abgrenzung zwischen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit und dauernder Erwerbsunfähigkeit verschoben werden. Selbst wenn eine solche Verschiebung einträte, läge doch ihre entscheidende Auswirkung darin, daß damit für Fälle dauernder Leistungsunfähigkeit die Nahtlosigkeit zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung weitgehend sichergestellt wird.
Abgesehen davon trifft es aber auch nicht zu, daß die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit und dauerndem Leistungsunvermögen in gleichem Umfang auftreten und gleiches Gewicht haben wie bei der Abgrenzung zwischen Leistungsunfähigkeit und geringfügigem Leistungsvermögen. § 118 Abs 1 Nr 2 AFG sieht ausdrücklich vor, daß für Zeiten des Krankengeldbezuges der Anspruch auf Alg ruht. Diese Vorschrift gilt auch für Fälle, in denen wegen der Arbeitsunfähigkeit keine Verfügbarkeit vorliegt (BSGE 21, 286). Daraus folgt, daß bei Krankengeldbeziehern die Entziehung des Alg wegen fehlender Verfügbarkeit überflüssig ist und folglich die Differenzierung zwischen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit und dauerndem Leistungsunvermögen nicht vorgenommen werden muß. Sofern man nämlich eine Entziehung bei einem Fall des Ruhens überhaupt für zulässig hält (so BSGE 14, 280, 282), so könnte die Entziehung allein schon wegen des Ruhens erfolgen. Hält man hingegen die Entziehung nach § 151 AFG bei einem Ruhenstatbestand für unzulässig, so würde das Ruhen kraft Gesetzes eintreten und eine Entziehung wegen fehlender Verfügbarkeit wäre ebenfalls zur Leistungseinstellung und Begründung von Rückforderungsansprüchen nicht erforderlich. Die Entziehung wegen fehlender Verfügbarkeit kommt deshalb lediglich noch in den selteneren Fällen in Betracht, in denen kein Krankengeld gezahlt wird. Die hierbei etwa auftauchenden Schwierigkeiten sind dementsprechend schon vom Umfang der betroffenen Fälle her wesentlich geringer als bei der Abgrenzung zwischen Leistungsunfähigkeit und geringfügigem Leistungsvermögen.
In Fällen der Arbeitsunfähigkeit kann aber die BA auch nur dann ohne Mitwirkung des Rentenversicherungsträgers befinden, wenn deren Ende sich unzweifelhaft absehen läßt, die Leistungsunfähigkeit des Arbeitslosen also nur vorübergehend ist. Sobald zweifelhaft ist, ob es sich nicht nur um eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit handelt, ist der zuständige Rentenversicherungsträger zu beteiligen.
Die Beklagte sieht ferner zu Unrecht eine Unzuträglichkeit darin, daß bei denjenigen Arbeitnehmern, die noch eine Leistung von mehr als geringfügiger Dauer erbringen können, gesondert zu prüfen sei, ob die in diesem Zeitrahmen mögliche Arbeitsleistung auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werde, während dies bei Personen, die unter die Fiktion des § 103 Abs 2 AFG fallen, nicht mehr geprüft werden könne. Die Beklagte übersieht hierbei, daß eine solche gesonderte Prüfung im Rahmen von § 103 Abs 1 AFG nicht vorzunehmen ist. Die Dauer der noch möglichen Arbeitszeit ist kein abstrakter Begriff, sondern orientiert sich an den auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotenen Erwerbstätigkeiten. Die Folgerung, ein Arbeitnehmer könne eine Arbeitsleistung von mehr als geringfügiger Dauer erbringen, enthält dementsprechend die Aussage, daß er in diesem zeitlichen Umfang Erwerbstätigkeiten verrichten kann, die auf dem Arbeitsmarkt angeboten werden. Trifft dies nicht zu, so ist er in Wahrheit nicht in der Lage, in mehr als geringfügigem Umfang zu arbeiten, sondern lediglich in einem geringeren zeitlichen Rahmen oder überhaupt nicht. Genau die gleiche Folgerung ist für die Personen zu ziehen, die der Fiktion des § 103 Abs 2 AFG unterfallen. Sie gelten als nicht berufsunfähig. Der Begriff der Berufsunfähigkeit ist ebenfalls ein Begriff, der sich konkret an den Möglichkeiten orientiert, auf dem Arbeitsmarkt durch Erwerbstätigkeit ein Einkommen zu erzielen. Dies hat der Große Senat des BSG in dem Beschluß vom 10. Dezember 1976 (SGb 1977, 122) noch einmal deutlich hervorgehoben. Personen, bei denen der Rentenversicherungsträger die Berufsunfähigkeit (oder Erwerbsunfähigkeit) noch nicht festgestellt hat, gelten somit als fähig, Erwerbstätigkeiten auszuüben, die in den ihnen zugänglichen Berufen üblicherweise angeboten werden. Daraus folgt, daß sowohl in den Fällen, in denen ein Leistungsvermögen von mehr als geringfügiger Dauer bejaht wird als auch in den Fällen, in denen es als geringfügig eingeschätzt wird und deshalb die Fiktion des § 103 Abs 2 AFG eingreift, stets auch die Fähigkeit zu bejahen ist, eine der Art nach auf dem Arbeitsmarkt übliche Tätigkeit in dem genannten zeitlichen Umfang zu erbringen.
Nach alledem hat das LSG zu Recht entschieden, daß die Beklagte die Verfügbarkeit des Klägers zu Unrecht verneint hat. Da keine Anhaltspunkte zu erkennen sind, daß die übrigen Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg bestehen, konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1651962 |
BSGE, 29 |