Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.05.1986) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1986 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch für die Zeit vor dem 1. Januar 1979 zu gewähren oder ob insoweit der Rentenanspruch verjährt ist.
Der am 19. Januar 1909 geborene Kläger ist anerkannter Verfolgter iS von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). In einem 1971 begonnenen Verfahren begehrte er die Anerkennung von Beitrags- und Ersatzzeiten sowie die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Am 17. Juli 1972 ging bei der Beklagten ein vom damaligen Bevollmächtigten des Klägers ohne erläuternden Zusatz übersandtes ärztliches Attest vom 20. Februar 1972 ein, in dem ua die Diagnose „arteriosclerotic heart disease” mit Verengung der Kranzgefäße und häufigen Anfällen von „Angor pectoris” sowie eine chronische Kreislaufinsuffizienz mit Schwellung der Beine und Atemnot gestellt wurden. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte am 10. Dezember 1982 (Az.: L 14 J 7/82), Beitrags- und Ersatzzeiten für den Kläger vorzumerken.
In einem am 9. Februar 1983 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben begehrte der Kläger die Nachzahlung von Altersruhegeld für die Zeit ab 1. Februar 1974, wobei er auf einen seiner Ansicht nach bereits gestellten Antrag verwies. Auf die Rückfrage der Beklagten hin, wann erstmals ein Antrag auf Rente gestellt worden sei, reichte der Kläger einen auf den 16. Mai 1983 datierten förmlichen Antrag auf Altersruhegeld ein. Mit Bescheid vom 13. Juni 1983 stellte die Beklagte die Rentenleistung für die Zeit ab 1. Februar 1974 fest, wobei sie von einem am 18. Januar 1974 eingetretenen Versicherungsfall ausging. Als Rentenantrag sah sie das am 9. Februar 1983 eingegangene Schreiben des Klägers an. Die Rentenleistungen vom 1. Februar 1974 bis einschließlich 31. Dezember 1978 seien gemäß § 45 des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – (SGB 1) verjährt. Mit Bescheid vom 27. September 1983 stellte die Beklagte das Altersruhegeld unter Berücksichtigung nachentrichteter Beiträge neu fest, ohne ihren Standpunkt zur Verjährungsfrage aufzugeben. Der dagegen gerichtete Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 24. November 1983 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 27. November 1985 abgewiesen. Auf die vom SG zugelassene Berufung des Klägers hat das LSG mit Urteil vom 15. Mai 1986 die Entscheidung des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger das Altersruhegeld ab 1. Februar 1974 zu zahlen: Der Rentenanspruch sei für die Zeit vor dem 1. Januar 1979 nicht verjährt. Nicht erst im Februar 1983 sei der Rentenantrag gestellt worden. Vielmehr stelle die Vorlage des ärztlichen Attestes vom 20. Februar 1972 einen formlos konkludenten Rentenantrag dar. Dieser sei als Antrag auf Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente auszulegen, da er in keinem erfindlichen Zusammenhang mit dem seinerzeit laufenden Vormerkungsverfahren gestanden habe. Nach § 1254 Abs. 2 RVO hätte er ab Januar 1974 als Antrag auf Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5 RVO bearbeitet werden müssen. Die Beklagte könne sich auch dann nicht auf Verjährung berufen, wenn der Antrag erst im Februar 1983 gestellt worden sei. Sie sei nämlich wegen des seit 1971 laufenden Vormerkungsverfahrens mit dem Fall des Klägers befaßt gewesen. Daher habe sie ihn aufgrund einer gesteigerten Betreuungspflicht auf die Antragstellung hinweisen müssen. Nach Treu und Glauben und aus dem Rechtsgedanken des Herstellungsanspruchs sei die Verjährungseinrede daher nicht statthaft.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das LSG habe ihr keine Gelegenheit gegeben, sich zur Wertung des ärztlichen Attestes als Rentenantrag zu äußern. Sie sei daher von dieser rechtlichen Würdigung überrascht worden, da diesem Gesichtspunkt im bisherigen Verfahren keine Bedeutung beigemessen worden sei und auch der Kläger sich darauf nicht berufen habe. Ferner seien die §§ 1545 Abs. 1 Nr. 2, 1254 Abs. 2 RVO verletzt; denn in der Vorlage des Attestes könne kein Rentenantrag gesehen werden, weil es nur Krankheitsbefunde und keinerlei erläuternde Zusätze enthalten habe. § 1254 Abs. 2 RVO könne nicht angewendet werden. Der Kläger sei kein Rentenempfänger gewesen. Die Beklagte rügt ferner eine Verletzung der §§ 45 SGB 1, 44 Abs. 4 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB 10), da es ihr nicht verwehrt gewesen sei, von der Verjährungseinrede Gebrauch zu machen. Sie habe gegenüber dem Kläger, der sich durch einen Bevollmächtigten habe vertreten lassen, keine Hinweispflicht verletzt. Aber selbst bei einer Pflichtverletzung sei im Hinblick auf § 44 Abs. 4 SGB 10 die rückwirkende Leistungsgewährung stets auf vier Jahre begrenzt, so daß die Verjährungseinrede nicht unstatthaft sein könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger hat sich zur Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird. Die vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen lassen eine abschließende Entscheidung noch nicht zu.
Die Beklagte beruft sich zu Recht auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Sie beruft sich darauf, daß sie sich zum Inhalt des ärztlichen Attestes vom 20. Februar 1972, insbesondere zum Schweregrad des bescheinigten Krankheitsbefundes, nicht habe äußern können, so daß das Gericht diesem Attest fälschlicherweise die entscheidungserhebliche Bedeutung eines Rentenantrags beigemessen habe. Der in Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) geschützte und in § 62 SGG wiederholte Anspruch auf rechtliches Gehör beinhaltet, daß den Beteiligten die Möglichkeit gegeben werden muß, sich zu allen rechtserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (§ 128 Abs. 2 SGG). Der Grundsatz wird verletzt, wenn für eine Gerichtskunde oder eine nicht zu erwartende gerichtliche Tatsachenwürdigung bisher keine Hinweise vorhanden waren (BSG SozR 1500 § 62 Nrn 11 und 20). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber nicht auf das Äußerungsrecht gemäß § 128 Abs. 2 SGG beschränkt. Das Gericht hat ferner § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG zu beachten, wonach der Vorsitzende das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern hat. Die Beteiligten können aber zum Sach- und Streitstand nur Stellung beziehen, soweit ihnen die rechtlichen Gesichtspunkte bekannt sind, die vom Gericht als entscheidungserheblich in Betracht gezogen werden. Sofern Beteiligte solche Gesichtspunkte erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten haben, darf das Gericht gemäß § 202 SGG iVm § 278 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) seine Entscheidung darauf nur stützen, wenn vorher Gelegenheit zur Äußerung bestand. So soll verhindert werden, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der sie nach dem tatsächlichen Sach- und Streitstand bisher keine Veranlassung hatten, Stellung zu nehmen. Die Beteiligten müssen vielmehr die Möglichkeit haben, ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen oder weiteren Beweis anzubieten (vgl BSG a.a.O. Nr. 20).
Nach den Ausführungen des LSG waren die dem Kläger am 20. Februar 1972 ärztlich attestierten Krankheitsbefunde schwerwiegender Natur. Da diesbezüglich kein Beweis erhoben worden ist, beruhte diese Feststellung offenbar auf einer Gerichtskunde. Die Beklagte hätte Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten müssen. Auch wurde sie durch die rechtliche Qualifizierung des Attestes als Rentenantrag überrascht, da im bisherigen Verfahren diesem Gesichtspunkt keine Bedeutung beigemessen worden ist. Deshalb brauchte die Beklagte ohne Hinweis nicht damit zu rechnen, daß das Gericht in dem übersenden des Attestes einen Antrag auf Gewährung einer Versichertenrente sehen würde. Dies gilt um so mehr, als diese rechtliche Wertung letztlich einen der tragenden Gründe für die Entscheidung des LSG darstellt. Der Beklagten ist somit das ihr garantierte rechtliche Gehör nicht gewährt worden.
Eine Verletzung der §§ 1545 Abs. 1, 1254 Abs. 2 RVO rügt die Beklagte dagegen zu Unrecht. § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO bestimmt, daß Leistungen aus der RVO auf Antrag hin festzustellen sind. Dieser Antrag hat für die Gewährung von Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 RVO keine materiell-rechtliche Bedeutung; denn dort wird nur die Erfüllung der Wartezeit und die Vollendung des 65. Lebensjahres vorausgesetzt.
Soweit das LSG davon ausgegangen ist, der Kläger habe mit der Vorlage des Attestes den inneren Willen erklärt, eine Berufsunfähigkeits- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente zu beantragen, handelte es sich um eine Tatsachenfeststellung. Der Schluß des LSG, in der Vorlage des Attestes den auf eine Antragstellung gerichteten Willen des Klägers zu erblicken, ist nicht zu beanstanden und – abgesehen von der Verletzung des rechtlichen Gehörs – nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden.
Das LSG hat in der Vorlage des Attestes nicht nur den Willen des Klägers erblickt, eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente zu beantragen, sondern in Anwendung des § 1254 Abs. 2 RVO das auch als Antrag auf Altersruhegeld gewertet. Das dagegen gerichtete Revisionsvorbringen der Beklagten vermochte den Senat nicht zu überzeugen. Der Rentenantrag ist grundsätzlich an keine Form gebunden. Es genügt, wenn für die Verwaltung erkennbar ist, welche Leistungen der Antragsteller begehrt (vgl BSGE 7, 118, 120). Das Attest ist zwar ohne Erläuterungen übersandt worden. Unter den gegebenen Umständen lag es aber nahe, daß der damals noch nicht 65jährige Kläger eine Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente beantragen wollte; denn nur in diesem Zusammenhang konnte das ärztliche Attest eine Rolle spielen. Ein solcher Antrag war in Anwendung des § 1254 Abs. 2 RVO ab Januar 1974 als Antrag auf Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5 RVO zu bearbeiten. Nach § 1254 Abs. 2 RVO hat der Versicherungsträger bei einem Empfänger von Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente von Amts wegen die Rente in Altersruhegeld umzuwandeln, sofern der Versicherte nichts anderes bestimmt. Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten hindert die Anwendung dieser Vorschrift nicht, daß der Kläger noch kein Rentenempfänger war. Nach dem Wortlaut des § 1254 Abs. 2 RVO ist zwar von einem „Empfänger” einer Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente die Rede. Eine Umwandlung kann begrifflich auch nur erfolgen, wenn bereits etwas bezogen worden ist. § 1254 Abs. 2 RVO ist aber auch anzuwenden, wenn über einen Antrag auf Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente noch nicht entschieden worden ist, inzwischen jedoch die Voraussetzungen für ein Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5 RVO erfüllt sind. Es bietet sich geradezu an, diesen Antrag von Amts wegen als Altersruhegeldantrag zu bearbeiten.
Zu Recht wendet sich die Beklagte im Ergebnis dagegen, daß das LSG die Verjährungseinrede als unzulässig angesehen hat. Diesem rechtlichen Gesichtspunkt kommt allerdings eine entscheidungserhebliche Bedeutung nur zu, wenn ein – die Verjährung unterbrechender – Rentenantrag (vgl § 45 Abs. 3 SGB 1) nicht schon im Januar 1974, sondern erst im Februar 1983 rechtswirksam gestellt wurde. Das wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung ggf zu berücksichtigen haben.
Nach Auffassung des LSG ergibt sich die – bei der Rentenantragstellung im Jahre 1983 rechtsrelevante – Unzulässigkeit der Verjährungseinrede aus einer Verletzung von Hinweis- und Betreuungspflichten durch die Beklagte. Im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des BSG zu § 44 Abs. 4 SGB 10 (vgl BSG in SozR 1300 § 48 Nr. 32) kann hier unentschieden bleiben, ob die Beklagte solche Pflichten verletzt hat. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB 10 schreibt vor, daß Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor Rücknahme erbracht werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wurde. Diese Vorschrift enthält einen Grundgedanken, nach dem eine nachträgliche Leistungsgewährung stets auf vier Jahre begrenzt ist. Es ist daher gerechtfertigt, die zeitliche Grenze des § 44 Abs. 4 SGB 10 auch für Fälle anzuwenden, in denen die Nichtgewährung einer Sozialleistung in der Vergangenheit auf keinem die Rentenleistung zu Unrecht ablehnenden Verwaltungsakt, sondern auf einem sonstigen rechtswidrigen Verhalten des Versicherungsträgers beruhte. Der Grundsatz von Treu und Glauben und der sozialrechtliche Herstellungsanspruch führen nicht dazu, über diese zeitliche Grenze für eine Nachzahlungspflicht hinauszugehen; denn der § 44 Abs. 4 SGB 10 enthält eine vom Gesetzgeber gewollte allgemeine Ausschlußfrist (BSG SozR 1300 § 44 Nrn 24 und 25; Urteile vom 19. September 1986 – 11a RA 10/86 und 11a RA 14/86 –). Der 4a Senat des BSG hat zwar Bedenken geäußert, ob § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB 10 ein Grundgedanke entnommen werden kann, die rückwirkende Erbringung von Leistungen durchweg auf vier Jahre zu begrenzen. Im Fall einer Verletzung der Umwandlungsvorschrift des § 1254 Abs. 2 Satz 1 RVO hat der 4a Senat eine entsprechende Anwendung des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB 10 abgelehnt und die Verjährungseinrede als unzulässig angesehen (BSG SozR 2200 § 1254 Nr. 7). Im Rechtsstreit des Klägers ist die Fallkonstellation aber anders, weil die erhobene Verjährungseinrede einen rückwirkenden Leistungsanspruch betrifft, der sich wegen der Verletzung von Hinweis- und Betreuungspflichten nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches richtet, für den § 44 Abs. 4 SGB 10 analog gilt. Im Ergebnis konnte die Beklagte sich daher auch bei einer Verletzung solcher Pflichten auf eine nur vier Jahre rückwirkende Verpflichtung zur Leistung berufen, allerdings nur für den Fall, daß der Leistungsantrag erst im Februar 1983 gestellt worden ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen