Orientierungssatz
Eine völlige Erwerbsunfähigkeit durch eine vom Arbeitsunfall unabhängige Vorerkrankung ist nicht anzunehmen, wenn dem Verletzten ein Mindestmaß an Arbeitskraft verblieben ist, mit der er Arbeiten von wirtschaftlichem Wert in nennenswertem Umfang noch verrichten kann. Trotz Schizophrenie und Geistesschwäche kann ein Versicherter in der Lage sein, ein Drittel derjenigen Arbeitsleistungen zu erbringen, die eine gesunde landwirtschaftliche Hilfskraft erbringen würde.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. November 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin gegen die beklagte Berufsgenossenschaft einen Anspruch auf Verletztenrente gemäß § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Die im Jahre 1924 geborene Klägerin leidet unter Schizophrenie und Geistesschwäche. Diese Krankheit war im Jahre 1945 in Erscheinung getreten und hatte 1947 Krankenhausbehandlung erforderlich gemacht. Stationäre Behandlung mußte seitdem nicht mehr in Anspruch genommen werden. Wegen häufigen Einnässens und dadurch bedingten Mehrverschleißes an Kleidern und Unterwäsche erhält sie von der Sozialhilfeverwaltung eine Beihilfe. Auf dem Anwesen ihres Bruders verrichtet die Klägerin unter Aufsicht einfache Feld-, Stall- und Hausarbeiten, die ihr jeweils im einzelnen aufgetragen werden.
Am 14. Oktober 1966 erlitt die Klägerin bei Feldarbeiten einen Unfall (einen linksseitigen medialen Schenkelhalsbruch). Am 16. Januar 1967 stürzte sie erneut, als sie Briketts zum Kartoffeldämpfer tragen wollte und brach sich den linken Oberschenkel nochmals an der Eintrittsstelle des Schenkelhalsnagels.
Die Beklagte übernahm die entstandenen Heilbehandlungskosten, lehnte jedoch mit Bescheid vom 28. Mai 1968 die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil die Klägerin infolge ihrer Geistesschwäche nicht in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Sie sei mithin bereits vor dem Unfall völlig erwerbsunfähig gewesen; daher könne ihre Erwerbsunfähigkeit durch den Unfall nicht weiter gemindert worden sein.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Nachdem das Sozialgericht (SG) ein Gutachten des Leiters der Nervenklinik ... Priv.-Doz. Dr. ... und seines Oberarztes Dr. ... vom 16. März 1970 eingeholt hatte, hat es durch Urteil vom 30. Juni 1970 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 28. Mai 1968 verurteilt, anläßlich des Arbeitsunfalls vom 14. Oktober 1966 und dessen mittelbarer Folge vom 16. Januar 1967 (Zustand nach Oberschenkelfraktur links) die gesetzlichen Geldleistungen zu gewähren. Es ist der Auffassung des genannten Gutachtens gefolgt, die Klägerin sei nicht völlig erwerbsunfähig; denn sie könne noch ungefähr ein Drittel der Arbeitsleistung einer gesunden landwirtschaftlichen Hilfskraft erbringen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Diese hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, das SG sei zutreffend davon ausgegangen, daß keine völlige Erwerbsunfähigkeit der Klägerin vorliege. Die Arbeit der Klägerin habe für den Bruder, bei dem sie beschäftigt gewesen sei, durchaus einen wirtschaftlichen Wert, was schon daraus hervorgehe, daß er den Ausfall der Arbeitskraft der Klägerin als spürbare Belastung bezeichnet habe. Auch eine angeordnete und überwachte Arbeit sei eine Arbeit im Rechtssinne, und es habe sich bei der Klägerin nicht um geringfügige Tätigkeiten gehandelt; denn die von der Klägerin ausgeführten Verrichtungen hätten zu den üblichen und betriebsnotwendigen Tätigkeiten, die in einem landwirtschaftlichen Betrieb verrichtet werden müssen, gehört.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Sie meint, nur derjenige, der in der Lage sei, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine wirtschaftlich verwertbare und erwerbsbringende Tätigkeit auszuüben, könne als erwerbsfähig i. S. des § 581 RVO angesehen werden. Die Klägerin habe jedoch nicht einmal angeordnete Arbeiten ausführen können, sondern sie habe bei deren Ausführung noch ständig überwacht werden müssen, da sie geistig überhaupt nicht in der Lage gewesen sei, Arbeiten ohne ständige Kontrolle zu erledigen. Sie habe also rein körperlich gesehen, quantitativ etwa ein Drittel jener Handreichungen ausführen können, die einer gesunden Arbeitskraft möglich gewesen seien. Qualitativ sei die Klägerin zu irgendwelchen Arbeiten überhaupt nicht in der Lage gewesen, weil ihr dazu die geistigen Voraussetzungen gefehlt hätten. Die erforderliche Überwachung habe sich auch auf das völlig inadäquate Affektverhalten sowie das ständige Einnässen der Klägerin erstreckt.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des SG Würzburg vom 30. Juni 1970 und des Bayerischen LSG vom 11. November 1971 aufzuheben sowie die Klage gegen den Bescheid vom 28. Mai 1968 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist unbegründet.
Der Klägerin kann ein Anspruch auf Verletztenrente aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 14. Oktober 1966 und dessen mittelbaren Unfallfolgen vom 16. Januar 1967 nicht mit der Begründung versagt werden, die Klägerin sei, wie die Beklagte zu Unrecht annimmt, schon vor dem Arbeitsunfall völlig erwerbsunfähig gewesen.
Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um mindestens ein Fünftel gemindert ist. Die rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) muß durch den Arbeitsunfall verursacht worden sein. Daraus folgt, daß einem Versicherten keine Verletztenrente gewährt werden kann, wenn im Unfallzeitpunkt bereits infolge anderer Krankheiten oder Gebrechen dauernde Erwerbsunfähigkeit vorgelegen hat. In einem solchen Fall ist die MdE nicht infolge des Unfalls, sondern allein durch die unfallunabhängigen Beeinträchtigungen eingetreten. Eine bereits völlig entfallene Erwerbsunfähigkeit kann somit durch einen Arbeitsunfall nicht mehr gemindert werden. Diese Rechtsauffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 30, 224, 225; BSG vom 24. Juni 1971 - 5 RKnU 7/69 - in Die Praxis, 1972, 276; Urteil vom 25. Mai 1972 - 5 RKnU 2/70 -; Urteil vom 28. September 1972 - 7 RU 71/70 - in SozR Nr. 13 zu § 581 RVO sowie Urteil vom 27. Februar 1973 - 5 RKnU 8/71). Ihr tritt der Senat bei.
Das LSG ist jedoch unter Würdigung der Verhältnisse der Klägerin zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß bei der Klägerin eine völlige Erwerbsunfähigkeit zur Unfallzeit nicht bestanden hat. Der Begriff der völligen Erwerbsunfähigkeit, wie er insbesondere im Urteil des 5. Senats vom 17. Dezember 1969 (BSG 30, 224) geprägt worden ist, hat das Berufungsgericht nicht verkannt. Wie bereits der 7. Senat in seinem Urteil vom 28. September 1972 ausgeführt hat, ist der Begriff der völligen Erwerbsunfähigkeit nicht einer Erwerbsunfähigkeit i. S. des § 1247 Abs. 2 RVO gleichzusetzen, vielmehr sind an diesen Begriff strengere Anforderungen zu stellen (vgl. BSG in SozR Nr. 2 zu § 561 RVO aF - keine völlige Erwerbsunfähigkeit eines Blinden - dieser Entscheidung folgend BSG Urt. v. 27.4.1973 - 5 RKnU 27/71). Völlige Erwerbsunfähigkeit bedeutet, daß der Verletzte dauernd die Fähigkeit verloren hat, einen irgendwie nennenswerten Verdienst zu erlangen, d. h., er muß aus gesundheitlichen Gründen unfähig sein, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, noch Erwerb zu verschaffen (siehe RVA, AN 1897, 463, 464; BSG 17, 160, 161; BSG Urt. v. 25. Mai 1972 - 5 RKnU 2/70 - und diesen Entscheidungen folgend BSG vom 28. September 1972 aaO). Dies gilt auch dann, wenn die Chance, eine solche Arbeit zu erhalten, nicht groß ist (BSG, Urt. v. 27.4.1973 - 5 RKnU 27/71). Der 7. Senat des BSG ist deswegen zu dem Ergebnis gekommen, völlige Erwerbsunfähigkeit aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Versicherten sei anzunehmen, wenn der Verletzte nur noch gelegentlich eine Reihe von Arbeiten im eigenen Betrieb, Haus oder Garten erledigen könne (vgl. auch Urt. des BSG vom 25. Mai 1972 - 5 RKnU 2/70). Im übrigen sei lediglich zu fordern, daß es sich bei der vom Versicherten vor dem Arbeitsunfall verrichteten Tätigkeit um eine solche gehandelt habe, die auch üblicherweise in anderen landwirtschaftlichen Betrieben gegen Entgelt verrichtet werde Auch müßten die vom Versicherten ausgeführten Arbeiten nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig in nennenswertem Umfang geleistet worden sein. Es sei nicht von Bedeutung, ob auch fremde Arbeitgeber, sei es aus konjunkturellen Gründen, sei es bedingt durch das Lebensalter des Versicherten, sich bereit finden würden, diesen einzustellen. Es genüge, daß sich der Versicherte unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheit in dem Betrieb, in dem er tatsächlich vor dem Unfall tätig war, nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten noch einen im vorgenannten Sinne nennenswerten Erwerb hätte verschaffen können. Dieser Ansicht des 7. Senats stimmt der erkennende Senat im wesentlichen zu.
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht völlig erwerbsunfähig gewesen ist. Es hat dabei berücksichtigt, daß eine Schizophrenie in Schüben zu verlaufen pflegt und beeinträchtigungsfreie Intervalle die Regel sind, wie auch bei der Klägerin die letzte stationäre Behandlung vor 24 Jahren stattgefunden habe und ein akuter schizophrener Schub seither nicht mehr aufgetreten sei.
Das LSG hat weiter festgestellt, daß die Klägerin in der Lage ist, ein Drittel derjenigen Arbeitsleistungen zu erbringen, die eine gesunde landwirtschaftliche Hilfskraft erbringen würde, und für den Unternehmer habe diese durchaus auch einen wirtschaftlichen Wert gehabt, was daraus hervorgehe, daß er den Ausfall der Arbeitskraft der Klägerin als spürbare Belastung bezeichnet habe. Auch wenn ihre Tätigkeit jeweils habe angeordnet und überwacht werden müssen, habe sie ihre Arbeiten zur Zufriedenheit des Unternehmens ausgeführt. Diese tatsächlichen Feststellungen sind von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen. Unter den hier gegebenen Umständen kann deshalb das Vorbringen der Revision, die Klägerin habe insbesondere auch wegen ihres "völlig inadäquaten Affektverhaltens", des "ständigen Einnässens" und mit Rücksicht auf ihre "komplett fehlende geistige Steuerungsfähigkeit" keine ins Gewicht fallende Erwerbsfähigkeit mehr besessen, zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung führen. Denn dieses Vorbringen beeinträchtigt nicht die Feststellung des LSG, daß die Klägerin immerhin noch 1/3 der Arbeitsleistungen, die eine gesunde landwirtschaftliche Hilfskraft erbringen würde, vollbracht hat. Dann läßt sich aber nicht feststellen, daß die Klägerin vor dem Unfall bereits in dem Sinne völlig erwerbsunfähig gewesen ist, daß sich kein irgendwie gearteter Unfall noch nennenswert erwerbsmindernd bei ihr hat auswirken können. Abgesehen hiervon haben aber die medizinischen Sachverständigen betont, "daß sich die Klägerin leicht führen läßt"; sie sind deshalb abschließend zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin vor dem Unfall noch "etwa 1/3 des Verdienstes einer einfachen landwirtschaftlichen Hilfskraft" habe erzielen können.
Nach alledem ist das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gekommen, daß die Klägerin nicht völlig erwerbsunfähig war und ihr mithin ein Anspruch auf Verletztenrente aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 14. Oktober 1966 in Verbindung mit den Folgen des Unfalls vom 16. Januar 1967 zusteht. Die Höhe der durch den Unfall verursachten MdE war im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen. Dafür wird allerdings die Feststellung des LSG, daß die Klägerin "heute wieder" die gleichen Arbeiten wie vor dem Unfall verrichten kann, von Bedeutung sein. Die Revision der Beklagten konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen