Orientierungssatz
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Fristversäumnis bei Einlegung der Berufung - Bindung an Entscheidung des Großen Senats.
Normenkette
SGG § 44 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 67 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs. 1 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.11.1971; Aktenzeichen L 9 J 1286/71-3) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 20.07.1971; Aktenzeichen S 13 J 981/70) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. November 1971 aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) vom 1. Januar 1970 an begehrt, ohne Verschulden gehindert war, die Berufungsfrist zu wahren und ob ihm deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
Die Beklagte hatte dem Kläger mit Bescheid vom 23. Dezember 1969 Rente auf Zeit wegen EU vom 25. September bis 31. Dezember 1969 gewährt. Sie lehnte es aber ab, ihm Rente wegen EU über den 31. Dezember 1969 hinaus zu gewähren (Bescheid vom 1. Juni 1970). Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. Juli 1971). In der Rechtsmittelbelehrung dieses Urteils heißt es u.a.:
"Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats Berufung eingelegt werden. Die Berufung ist innerhalb der Frist schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart-W., Breitscheidstraße 18, einzulegen. Sie kann auch zur Niederschrift (Protokoll) des Urkundsbeamten der dortigen Geschäftsstelle oder der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Mannheim, P 6, 20/21, erklärt werden."
Das Urteil wurde am 6. August 1971 zur Zustellung durch die Post durch eingeschriebenen Brief aufgegeben. Der Kläger hat gegen das Urteil mit einem an das SG Mannheim gerichteten und dort am 25. August 1971 eingegangenen Schreiben vom 22. August 1971 Berufung eingelegt. Das Schreiben ging erst am 14. September 1971 beim Landessozialgericht (LSG) ein. Nachforschungen des LSG ergaben, daß der Vorsitzende des SG noch am 25. August 1971 verfügt hatte, die Berufungsschrift an das LSG weiterzuleiten; diese Verfügung hatte er mit Rotstift als eilig gekennzeichnet. Die Verfügung wurde am 2. September 1971 ausgefertigt, gelangte am 7. September 1971 zur Poststelle des SG und wurde am 13. September 1971 mit der Berufungsschrift und den Akten bei der Post aufgegeben. Nähere Einzelheiten über die verzögerte Erledigung konnten nicht mehr ermittelt werden.
Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 15. November 1971). Es hat eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) abgelehnt, weil der Kläger die am 9. September 1971 abgelaufene Berufungsfrist nicht schuldlos versäumt habe. Der Kläger habe die zutreffende Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG nicht beachtet. Das Fehlverhalten des Klägers stelle zweifelsfrei eine Bedingung dar, ohne die die Berufungsfrist gewahrt worden wäre. Dahingestellt bleiben könne, ob den mit der Weiterleitung der Berufungsschrift, beim SG Mannheim befaßten Bediensteten ebenfalls ein Fehlverhalten vorzuwerfen wäre, da die nicht zeitgerechte Weitersendung durch das SG den Kläger nicht entlasten könne. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Er rügt Verletzung des § 67 SGG.
Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 23. November 1973 dem Großen Senat (Gr.S.) des Bundessozialgerichts (BSG) gemäß § 42 SGG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
"Ist ein Berufungskläger, der entgegen dem Gesetz (§ 151 des Sozialgerichtsgesetzes) und entgegen der ordnungsgemäß erteilten Rechtsmittelbelehrung die Berufungsfrist nicht an das Landessozialgericht, sondern an das Sozialgericht gesandt hat, deshalb "ohne Verschulden" an der Einhaltung der Berufungsschrift verhindert gewesen (§ 67 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes), weil durch die Weiterleitung der Berufungsschrift vom Sozialgericht an das Landessozialgericht die Berufungsfrist versäumt worden ist?"
Der Gr.S. des BSG hat durch Beschluß vom 10. Dezember 1974 die Vorlage folgendermaßen beantwortet:
"Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes kann auch gewährt werden, wenn eine Rechtsmittelschrift trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung nicht an das zuständige Gericht, sondern an eine unzuständige Stelle (z.B. Gericht, Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts) übersandt worden ist und infolge pflichtwidrigen Verhaltens dieser Stelle die Rechtsmittelschrift erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingeht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Rechtsmittelkläger eine natürliche Person ist."
Der Kläger, der seine Revision weiterverfolgt, beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. November 1971 aufzuheben, ihm wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und ihm unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Mannheim vom 20. Juli 1971 und des Bescheids der Beklagten vom 1. Juni 1970 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Januar 1970 an zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung des Gr.S. in der vorliegenden Sache ist gemäß § 44 Abs. 2 SGG für den erkennenden Senat bindend. Dem Kläger ist daher nach Maßgabe der Gründe des Beschlusses des Gr.S. die ihm vom LSG verwehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist (§ 67 SGG) zu bewilligen. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG ist deshalb statthaft. Das Berufungsgericht hätte daher die Sache selbst prüfen und über sie entscheiden müssen. Daran hat es sich von seinem Rechtsstandpunkt aus gehindert gesehen. Nunmehr wird es dies nachzuholen haben. Das angefochtene Urteil muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten, auch über die des Revisionsverfahrens, bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen