Leitsatz (redaktionell)
Ist ein Berufungskläger, der entgegen dem Gesetz (SGG § 151) und entgegen der ordnungsgemäß erteilten Rechtsmittelbelehrung die Berufungsschrift nicht an das LSG, sondern an das SG gesandt hat, deshalb "ohne Verschulden" an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen (SGG § 67 Abs 1), weil durch die Weiterleitung der Berufungsschrift vom SG an das LSG die Berufungsfrist versäumt worden ist?
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1, § 151
Tenor
Dem Großen Senat des Bundessozialgerichts wird gemäß § 42 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist ein Berufungskläger, der entgegen dem Gesetz (§ 151 des Sozialgerichtsgesetzes) und entgegen der ordnungsgemäß erteilten Rechtsmittelbelehrung die Berufungsschrift nicht an das Landessozialgericht, sondern an das Sozialgericht gesandt hat, deshalb "ohne Verschulden" an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen (§ 67 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes), weil durch die Weiterleitung der Berufungsschrift vom Sozialgericht an das Landessozialgericht die Berufungsfrist versäumt worden ist?
Gründe
Die Beteiligten streiten in erster Hinsicht darüber, ob der Kläger ohne Verschulden gehindert war, die Berufungsfrist einzuhalten und ob wegen Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war; sachlich ist zwischen den Beteiligten streitig, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 31. Dezember 1969 hinaus hat.
Die Rechtsmittelbelehrung des klageabweisenden Urteils des Sozialgerichts (SG) Mannheim vom 20. Juli 1971, dem Kläger am 9. August 1971 zugestellt, lautete u. a.:
"Die Berufung ist innerhalb der Frist schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart-W., B-straße 18, einzulegen. Sie kann auch zur Niederschrift (Protokoll) des Urkundsbeamten der dortigen Geschäftsstelle oder der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Mannheim, P 6, 20/21, erklärt werden".
Der Kläger hat gegen das Urteil mit einem an das SG gerichteten und dort am 25. August 1971 eingegangenen Schreiben vom 22. August 1971 Berufung eingelegt. Das SG hat dieses Schreiben an das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Begleitschreiben vom 2. September 1971 und den Akten weitergeleitet; dort ist es am 14. September 1971 eingetroffen. Das LSG hat nach Belehrung des Klägers über die Fristversäumnis die Berufung als unzulässig verworfen und die Revision zugelassen (Urteil vom 15. Dezember 1971). Es hat dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) verweigert, da er nicht ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Berufungsfrist einzuhalten; auch nach Beweisaufnahme hat es nicht feststellen können, worauf die verzögerliche Weitergabe des Schreibens des Klägers vom SG zum LSG beruht. Der Kläger habe - so hat das LSG ferner ausgeführt - die zutreffende Rechtsmittelbelehrung nicht beachtet und damit nicht jede von ihm im prozessualen Verkehr zu fordernde Sorgfalt aufgewendet; somit habe er schuldhaft gehandelt. Auch ein möglicher Rechtsirrtum über die Form der Berufungseinlegung beim SG schließe die Vorwerfbarkeit seines Fehlverhaltens nicht aus. Vielmehr hätte sich der Kläger, wenn er hierüber Zweifel gehabt habe, Rechtsbelehrung verschaffen bzw. rechtskundigen Rat einholen müssen (Hinweis auf Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur SGb, Anm. 7 a zu § 67). Zweifelsfrei stelle das Fehlverhalten des Klägers eine Bedingung dar, ohne die die Berufungsfrist gewahrt worden wäre; denn hätte der Kläger die Berufungsschrift entsprechend dem eindeutigen Wortlaut der Rechtsmittelbelehrung unmittelbar an das LSG gerichtet und gesandt, wäre sie dort rechtzeitig eingetroffen. Dies allein stehe schon einer Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegen (Hinweis auf Peters/Sautter/Wolff, aaO). Das LSG hat es von dieser Auffassung her offengelassen, ob den mit der Weiterleitung der Berufungsschrift beim SG befaßten Bediensteten ebenfalls ein Fehlverhalten vorzuwerfen wäre. Das LSG vertritt die Auffassung, daß ein derartiges Fehlverhalten den Kläger jedenfalls nicht entlasten könne; ein für die Säumnis des Klägers ursächliches Verschulden könne nachträglich nicht mehr ausgeräumt werden (Hinweis auf Peters/Sautter/Wolff, aaO sowie auf BVerwG 6, 161). Mit dieser Rechtsauffassung wendet sich das LSG gegen die vom Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Entscheidungen vertretene gegenteilige Auffassung (2. Senat, Urteil vom 28. August 1968 - 2 RU 268/66 - SozR Nr. 41 zu § 67 SGG; 10. Senat, Urteil vom 22. September 1971 - 10 RV 210/71 -; 11. Senat, Urteil vom 21. Oktober 1971 - 11 RA 106/71 - SGb 1971, 477).
Der 12. Senat möchte der Auffassung des LSG beitreten, sieht sich hieran aber durch das einen anderen Standpunkt einnehmende Urteil des 11. Senats vom 21. Oktober 1971 - 11 RA 106/71 -, SGb 1971, 477 (vgl. kritisch dazu: Klink, SGb 1972, 389) gehindert. Auf Anfrage hat der 11. Senat an seiner in diesem Urteil vertretenen Auffassung festgehalten (Beschluß vom 8. März 1973). Er meint, ein nachfolgendes Verhalten von Bediensteten des SG könne auch für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung rechtserheblich sein. Der 2. und 10. Senat, die in den Urteilen vom 28. August 1968 - 2 RU 268/66 - (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) und vom 22. September 1971 - 10 RV 210/71 - das Fehlverhalten von Verwaltungsstellen, also nicht eines Gerichts, im Hinblick auf eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beurteilen hatten, haben nach vorsorglicher Anfrage an ihrer in den genannten Urteilen niedergelegten Rechtsauffassung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - auch das Fehlverhalten einer anderen (Verwaltungs-) Stelle kann für die Wiedereinsetzung rechtserheblich sein - festgehalten (Beschlüsse vom 24. Mai und 28. August 1973).
Demgegenüber läßt sich der 12. Senat von folgenden Erwägungen leiten:
Nach dem Wortlaut des § 67 Abs. 1 SGG: "Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren" ist nur darauf abzuheben, ob die Fristversäumnis "ohne Verschulden" des Beteiligten, der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erstrebt, eingetreten ist. Nach dem Wortlaut kommt es demnach nicht auf irgendein späteres Verhalten anderer Personen oder Stellen oder Behörden an. Es ist nur das Verhalten des Klägers zu beurteilen. Der Kläger hat sich aber entgegen der richtigen Rechtsmittelbelehrung fehlerhaft verhalten. Darin sehen auch alle mit der Streitfrage befaßten Senate des BSG übereinstimmend ein "Verschulden" i. S. von § 67 Abs. 1 SGG. Wäre der Kläger der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung gefolgt, wäre es nicht zu der Fristversäumnis gekommen. Schon vom Wortlaut her müßte ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwehrt werden.
Das Ergebnis bleibt dasselbe, wenn die Vorschrift des § 67 Abs. 1 SGG nach ihrem Sinn und Zweck ausgelegt wird. Sinn und Zweck der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegen allgemein in der Rechtswohltat, daß durch eine Entscheidung einer Verwaltung oder eines Gerichts ein durch Fristversäumnis im jeweiligen Verfahren entstandener Rechtsnachteil beseitigt wird. Die gerichtlichen Verfahrensordnungen enthalten keine einheitliche Regelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; die Wiedereinsetzung ist vielmehr in den einzelnen Verfahrensgesetzen verschieden gestaltet, so daß von einem allgemeinen einheitlichen Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung im gesamten deutschen Verfahrensrecht nicht gesprochen werden kann (BVerfGE 4, 309, 314). § 233 der Zivilprozeßordnung (ZPO) läßt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur zu, wenn die säumige Partei durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle an der Wahrnehmung der Frist verhindert war. Demgegenüber sind die inhaltlich, wenngleich wörtlich nicht voll übereinstimmenden Regelungen zur Wiedereinsetzung in den §§ 60 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und § 67 SGG insofern für die Prozeßbeteiligten günstiger, als sie auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, wenn jemand "ohne Verschulden" verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten (ähnlich § 189 Abs. 3 BEG: wer "ohne sein Verschulden" die Antragsfrist vom 1.4.1958 versäumt hat). Bei jeder nicht auf ein Verschulden eines Beteiligten zurückzuführenden Versäumung einer gesetzlichen Verfahrensfrist ist also Wiedereinsetzung zu gewähren. Damit wird von Beteiligten nicht der äußerste Sorgfaltsgrad wie in § 233 ZPO, sondern lediglich ein gewissenhaftes und sachgemäßes Handeln gefordert (BVerwG Buchholz 310, § 60 VwGO Nr. 53 Blatt 19). Das gewissenhafte und sachgemäße Handeln wird einem Beteiligten wesentlich durch eine Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelbelehrung erleichtert. Während die ZPO eine solche nicht kennt, die Strafprozeßordnung (StPO) in § 35 a eine Rechtsmittelbelehrung zwingend vorschreibt, ohne über ihre Form Bestimmungen zu enthalten, ordnet § 9 Abs. 4 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) an, daß auf den zur Zustellung an die Parteien bestimmten Ausfertigungen der Urteile und der das Verfahren beendenden Beschlüsse im Beschlußverfahren zu vermerken ist, ob gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel zulässig ist und bei welchem Gericht, in welcher Form und binnen welcher Frist es einzulegen ist. BAG 1, 232, 235 läßt es entsprechend dem überwiegenden Gerichtsgebrauch genügen, wenn der zugestellten Urteilsausfertigung eine besondere, fest oder auch nur lose eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt wird, ferner, daß bei gleichliegenden Sachen einer Partei in einer Rechtsmittelbelehrung darauf hingewiesen wird, sie gelte auch für alle übrigen Urteile (vgl. ferner zur Rechtsmittelbelehrung im arbeitsgerichtlichen Verfahren: Auffahrt/Schönherr, ArbGG, 2. Aufl., 1968, § 9 Anm. 2; Dersch/Volkmar, ArbGG, 1955, § 9 Anm. 14). Die verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen der VwGO, FGO und des SGG schreiben - noch weitergehend und insoweit für die Beteiligten günstiger - vor, daß jeder mit einem Rechtsbehelf anfechtbaren Entscheidung eine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung beizugeben ist (§§ 58, 73 Abs. 3, 84 Abs. 2, 117 Abs. 2 Nr. 6 VwGO; §§ 55, 105 Abs. 2 Nr. 6 FGO; § 247 AO; §§ 66, 84 Abs. 2, 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG). Damit ist in allen verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen der Auffassung Rechnung getragen worden, daß im sozialen Rechtsstaat jedermann durch eine verständlich gefaßte Anleitung in den Stand versetzt sein soll, auf die jeweilig verfahrensrechtlich vorgeschriebene Weise sein Recht - auch im Gerichtsverfahren - zu suchen (vgl. auch BSG 1, 194; 1, 227, 229; SozR Nr. 23 und 27 zu § 66 SGG). Die darin zum Ausdruck kommende staatliche Fürsorge wird durch die Regelung des § 66 Abs. 2 SGG bei fehlender oder unrichtiger Rechtsmittelbelehrung bekräftigt. Angesichts dieser weitgehenden Hilfestellung durch die gesetzlich vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung für Verfahrensbeteiligte, seien diese nun rechtsunkundig oder, wie z. B. Behörden, sehr wohl rechtskundig, muß von dem Verfahrensbeteiligten, der ein Rechtsmittel einlegen will, erwartet werden, daß er sich genau an die gerade für ihn gedachte und zu seinen Gunsten der Entscheidung beigegebene Anleitung hält (BSG SozR Nr. 33 zu § 66 SGG). Er weiß durch die Rechtsmittelbelehrung, an welches Gericht er sich zu wenden hat (vgl. BGH RzW 1962, 179; OVG Koblenz RzW 1972, 110 f.). Läßt er die Rechtsmittelbelehrung außer Acht, handelt er verfahrensrechtlich nicht "ohne Verschulden"; ihm kann nicht durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geholfen werden (vgl. auch: Peter Heinzel, Die Beiträge, 1973, 105 f.).
Freilich wird dem Beteiligten durch die Rechtsmittelbelehrung nicht jede eigene Überlegung abgenommen. Sollte ein Beteiligter aufgrund seiner Unerfahrenheit die Rechtsmittelbelehrung nicht oder nicht ganz verstehen, ist es ihm zuzumuten, sich an geeigneter Stelle danach zu erkundigen, wie anhand der Rechtsmittelbelehrung zu verfahren ist. Unterläßt er eine solche Erkundigung, hat er für die Folgen einzustehen (vgl. BVerwG Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 23). Das gilt auch für den Fall, daß ein Rechtsmittelkläger - wie hier - entgegen der rechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsmittelbelehrung seine Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht zwar noch innerhalb der Verfahrensfrist anbringt, diese aber versäumt ist, nachdem das angegangene Gericht die Weiterleitung an das zuständige und in der Rechtsmittelbelehrung bezeichnete Gericht veranlaßt hat. Wer sich nicht an die ihm gegebene schriftliche Rechtsmittelbelehrung hält, kann zu seiner Entschuldigung nicht geltend machen, daß das unzuständige Gericht bei schnellerer Bearbeitung des Vorgangs den Fehler des Rechtsmittelklägers hätte erkennen und die Sache noch rechtzeitig an das zuständige Gericht hätte weiterleiten können (ebenso: BFH 90, 395, 396 = BStBl. II 1968, 121). Ein Verschulden eines Prozeßbeteiligten kann nicht durch spätere Ereignisse wieder ausgeräumt werden, und zwar weder durch ein späteres Verhalten eines Beteiligten (BVerwG 6, 161, 162) noch eines Gerichtsbediensteten oder sonstigen Dritten (vgl. BVerwG Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 67; 310, § 132 Nr. 61).
Von dieser Rechtsauffassung ist ursprünglich auch die Rechtsprechung des BSG im Beschluß des 1. Senats vom 28. Januar 1956 - 1 RA 115/55 - (SozR Nr. 3 zu § 151 SGG) ausgegangen mit dem Leitsatz:
"Wird die Berufung schriftlich eingelegt, so ist die Frist des § 151 Abs. 1 SGG nur dann gewahrt, wenn die Berufungsschrift innerhalb dieser Frist zum LSG gelangt ist; es genügt nicht, daß sie innerhalb der Frist bei dem SG eingegangen ist, dessen Urteil mit der Berufung angefochten wird".
Auch hier hatte der Kläger die Berufungsschrift entgegen der Rechtsmittelbelehrung an das SG, anstatt an das LSG gesandt. Im Beschluß heißt es dazu: "...; das Urteil des SG U. ist dem Kläger, wie einwandfrei festgestellt ist, am 12.7.1954 zugestellt worden; dieses Urteil enthielt auch die ausdrückliche Belehrung, daß eine etwaige Berufung beim LSG M. einzulegen ist; trotzdem hat der Kläger die Berufungsschrift vom 10.8.1954 an das SG U. gerichtet; daß diese Berufungsschrift dann erst am 13.10.1954, also lange nach dem 12.8.1954, dem Tag des Ablaufs der Berufungsfrist zum LSG in M. gelangt ist, ist vom Kläger selbst zu vertreten". Der in dem o. a. enthaltene Satz: "Das SG ist nicht verpflichtet, jede Postsache unmittelbar nach Eingang daraufhin zu prüfen, ob seine Zuständigkeit gegeben ist oder ob die Sache an eine andere zuständige Stelle weiterzuleiten ist", enthält entgegen der Stellungnahme des 11. Senats lediglich eine Begründung des grundsätzlichen Standpunkts, wie er als präzise, wenngleich gestraffte Inhaltsangabe in dem oben wiedergegebenen Leitsatz festgehalten worden ist, nicht aber, wie der 11. Senat jetzt zu meinen scheint, den Inhalt der Entscheidung selbst.
Das BVerwG (aaO, Nr. 67) hat in einem Fall, in dem der Prozeßbevollmächtigte des Klägers die Revisionsschrift anstatt beim Verwaltungsgericht (VG) beim BVerwG eingereicht hat, dieses die Weiterleitung an das VG veranlaßte, wo sie verspätet einging, die Wiedereinsetzung abgelehnt; es hat ausgeführt, wenn auch in manchen Fällen eine - unrichtig - beim BVerwG eingelegte Revision an das zuständige VG weitergeleitet werde, enthebe ein solches Verfahren die Partei und ihren Prozeßbevollmächtigten nicht der Verpflichtung, auf die Förmlichkeiten der Revisionseinlegung selbst zu achten und für Fehler, die in einer von dem Prozeßbevollmächtigten verschuldeten Nichtbeachtung von Förmlichkeiten bestehen, die Verantwortung zu tragen. U. a. könne nicht damit gerechnet werden, das BVerwG werde dafür sorgen, daß die Revisionsschrift so rechtzeitig an das VG weitergeleitet werde, daß sie dort noch fristgerecht eingehe. Das BVerwG hat dies unter ausdrücklicher Zustimmung zu den gleichlautenden Erwägungen des Bundesgerichtshofes - BGH - (NJW 1972, 684) damit begründet, der Umfang der prozessualen Fürsorgepflicht gehe nicht so weit. Der erkennende Senat ist derselben Meinung. Die prozessuale Fürsorgepflicht findet in der Rechtsmittelbelehrung ihren Ausdruck; sie erstreckt sich auch noch darauf, fehlgegangene Schriften an die richtige Stelle weiterzuleiten, nicht jedoch darauf, auf damit verbundene Fristen zu achten und danach die Weiterleitung einzurichten. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß die Vorschrift des § 91 SGG, welche die unverzügliche Abgabe der bei einer in Abs. 1 aaO bezeichneten Stellen eingegangenen Klageschrift an das zuständige Gericht der Sozialgerichtsbarkeit anordnet (Abs. 2 aaO), von der entsprechenden Geltung im Berufungs- und Revisionsverfahren ausdrücklich ausgenommen ist (§§ 153 Abs. 1, 165 SGG). Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, einen unrichtig handelnden Prozeßbeteiligten von dem damit verbundenen Risiko zu entlasten, indem Wiedereinsetzung gewährt wird. Rechtsmittelfristen dienen der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Bei schuldhafter Fristversäumung bestimmt das Gesetz zugunsten des Prozeßgegners den Ausschluß der befristeten Prozeßhandlung. Es wäre gesetzwidrig, diesen gesetzlich verfügten Ausschluß durch Gewährung der Wiedereinsetzung zu umgehen (vgl. BVerwG Buchholz aaO Nr. 53).
Auch der Bundesfinanzhof (BFH) hält sich in ständiger Rechtsprechung auf dieser Linie: Richtet ein Revisionskläger seine Revisionsschrift unrichtig an den BFH, leitet dieser sie sodann an das Finanzgericht (FG) weiter, so ist für die Fristwahrung allein der Eingang beim FG maßgebend; hierdurch etwa eintretende Fristversäumnisse, Fehlleitungen usw. gehen zu Lasten des Klägers, ohne daß ihm Wiedereinsetzung zu gewähren ist (BFH 90, 395 = BStBl. II 1968, 121; BFH 91, 341 = BStBl. II 1968, 350; BFH BStBl. II 1973, 246; ebenso für das Einreichen eines Schreibens an den unzuständigen Regierungspräsidenten: VGH Mannheim NJW 1973, 385).
Dieses Ergebnis läßt sich nicht damit bekämpfen, es lasse keinen Raum für Milde. Alle Wiedereinsetzungsvorschriften tragen dem Gedanken der Findung des richtigen Rechts zu Lasten des Eintritts der Bindungswirkung und der Rechtskraft und damit den Interessen des Gegners Rechnung. Dabei ist aber zu beachten, daß dieser Einbruch in die Bindung von Verwaltungsakten und die Rechtskraft von Urteilen nur dann zu verantworten ist, wenn die allein auf den Mangel des Verschuldens desjenigen abgehoben wird, der eine gesetzliche Verfahrensfrist versäumt hat. Die Nachlässigkeit eines Beteiligten - dies könnte sehr wohl auch ein Versicherungs- oder Versorgungsträger sein - darf nicht auf seinen Gegner abgewälzt werden. Wer eine gesetzliche Verfahrensfrist nicht schuldlos versäumt, verwirkt im Interesse des schutzwürdigen Gegners die weitere Ausübung seines Rechtes (vgl. Wolfram Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, S. 105 ff.).
Zusammenfassend ist zu sagen: Der 12. Senat ist der Auffassung, daß § 67 Abs. 1 SGG sowohl nach dem Wortlaut als auch nach Sinn und Zweck dahin auszulegen ist, daß auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur zu gewähren ist, wenn ein Beteiligter ohne Verschulden eine gesetzliche Verfahrensfrist versäumt hat, ohne daß dabei ein (späteres) Verhalten anderer (Personen, Stellen oder Behörden) zu berücksichtigen ist.
Da der erkennende Senat in dieser Rechtsfrage von der im Urteil des 11. Senats vom 21. Oktober 1971 - 11 RA 106/71 - (SGb 1971, 477) zum Ausdruck gekommenen Entscheidung abweichen will, hat er, wie eingangs ersichtlich, beschlossen, die Rechtsfrage dem Großen Senat des BSG gemäß § 42 SGG zur Entscheidung vorzulegen.
Da die Rechtsauffassung des 11. Senats zur Wiedereinsetzung auch von derjenigen anderer oberster Bundesgerichte abweicht, nämlich des BVerwG in:
BVerwG 6, 161,
Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 67,
Buchholz 427/3 § 341 Nr. 3,
JR 1973, 76
und des BFH in:
BFH 90, 395 = BStBl. II 1968, 121,
BFH 91, 341 = BStBl. II 1968, 350,
BStBl. II 1973, 246,
dürfte der Große Senat des BSG nicht umhin können, wenn er der Rechtsprechung des 11. Senats zur vorgelegten Rechtsfrage folgen wollte, die ihm vom erkennenden Senat gestellte Rechtsfrage gemäß §§ 2, 11 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 - RSpr. EinhG - (BGBl I 661) dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Entscheidung vorzulegen. Der Annahme, daß es sich um dieselbe Rechtsfrage handelt, steht nicht entgegen, daß sie in verschiedenen Gesetzen (VwGO, FGO, SGG) geregelt ist (vgl. Gemeinsamer Senat, Beschluß vom 6. Februar 1973 - GmS-OGB 1/72 -).
Fundstellen