Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenentziehung. Änderung der Verhältnisse. Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit. Medizinische Befunde

 

Orientierungssatz

Kann ein Versicherter eine Tätigkeit nur unter unzumutbaren Schmerzen, einer unzumutbaren Anspannung seiner Willenskräfte, unter Gefährdung oder auf Kosten seiner Gesundheit verrichten, so ist er zu ihrer Ausübung gesundheitlich nicht in der Lage. Das gilt auch dann, wenn er unter den genannten Umständen eine zumutbare Arbeit tatsächlich ausübt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1286 Abs 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.05.1979; Aktenzeichen L 6 J 21/78)

SG Koblenz (Entscheidung vom 22.11.1977; Aktenzeichen S 6 J 304/76)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die dem Kläger gewährte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu entziehen.

Der Kläger, der als Matrose (mit Matrosenbrief) in der Binnenschiffahrt tätig gewesen war, erlitt im Mai 1965 einen Verkehrsunfall, der zu einer Querschnittslähmung führte. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit vom 1. April 1966 bis zum 31. Dezember 1968 die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit. Mit Bescheid vom 25. März 1969 lehnte sie den auf Weitergewährung der Rente gerichteten Antrag ab, weil der Kläger inzwischen zum Industriekaufmann umgeschult worden war, im September 1968 die Abschlußprüfung bestanden hatte und seit Dezember 1968 in einem Kaufhaus beschäftigt war. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte am 9. Dezember 1970, dem Kläger ab Januar 1969 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen, weil der Kläger den körperlichen Anforderungen im Umschulungsberuf eines Industriekaufmannes nicht gewachsen sei. Er sei nicht im Umschulungsberuf tätig, sondern lediglich mit Bürohilfsarbeiten betraut. Es sei nicht auszuschließen, daß im Laufe der Zeit in seinem Umschulungsberuf ein seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten entsprechender Arbeitsplatz gefunden werde. Dieses Urteil ist nicht angefochten, sondern von der Beklagten ausgeführt worden.

Der Kläger ist seit Oktober 1975 bei einem Berufsförderungswerk als Sachbearbeiter im Einkauf mit einem Monatsgehalt von etwa 1.687,-- DM brutto tätig. Die Beklagte entzog mit Bescheid vom 14. Juni 1976 die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit mit Ablauf des Monats Juli 1976, weil der Kläger mit Erfolg auf den Beruf eines Industriekaufmanns umgeschult worden sei und einen entsprechenden Arbeitsplatz innehabe.

Das SG hat die dagegen gerichtete Klage mit Urteil vom 22. November 1977 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 11. Mai 1979 auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil und den Bescheid der Beklagten vom 14. Juni 1976 aufgehoben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe vor Erlaß des Rentenentziehungsbescheides nach § 34 Abs 2 Nr 3 des Allgemeinen Teils zum Sozialgesetzbuch (SGB 1) von einer Anhörung des Klägers absehen dürfen. Gleichwohl sei dieser Bescheid rechtswidrig, denn die Voraussetzungen des § 1286 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lägen nicht vor. Der Kläger habe zwar einen seiner Umschulung entsprechenden Arbeitsplatz inne, der in bestmöglicher Weise seiner körperlichen Behinderung angepaßt und ihm auch im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO rechtlich zumutbar sei. Gleichwohl sei er weiterhin berufsunfähig. Infolge der Lähmung im Bereich der ableitenden Harnwege sei es zu einer chronischen Infektion der Blase und wahrscheinlich auch der Nierenbecken gekommen. Daraus resultiere eine ständige in die Zukunft weisende Gefährdung, weshalb der Kläger auch tagsüber Zeit und Ruhe brauche, um möglichst ungefährdet mit den Schwierigkeiten der Blasen- und auch der Darmentleerung fertig zu werden. Überhaupt benötigte er für alle Verrichtungen des täglichen Lebens einen über das übliche Maß weit hinausgehenden Zeitaufwand. Er solle darüber hinaus täglich etwa zwei Stunden körperliche Trainingsmaßnahmen durchführen, um eine Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes möglichst zu vermeiden. Der Kläger müsse bereits für die allgemeine Lebensführung und Erhaltung seines außerordentlich beeinträchtigten Gesundheitszustandes Zeit sowie körperliche und seelische Kräfte täglich in außergewöhnlichem Umfang aufbringen. Daß er daneben täglich vollschichtig eine Berufstätigkeit ausübe, überfordere ihn und gefährde unmittelbar seine Gesundheit. Das gelte auch bei einer halbschichtigen Beschäftigung. Das Innehaben eines Arbeitsplatzes stehe daher der Rentengewährung ebensowenig entgegen wie die Höhe des vom Kläger erzielten Arbeitseinkommens.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, durch die Erlangung eines seiner Umschulung entsprechenden Arbeitsplatzes seien die tragenden Gründe für die Weitergewährung der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit weggefallen. Der Kläger sei also infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig. Er verrichte tatsächlich eine Arbeit, die ihm im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO zumutbar sei. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme den erhobenen medizinischen Befunden in der Regel kein so starker Beweiswert zu wie dem Umstand, daß der Versicherte eine Erwerbstätigkeit tatsächlich noch ausübe. Aus der jahrelangen tatsächlichen Arbeitsleistung auf einem, seinem Gesundheitszustand angepaßten Arbeitsplatz müsse daher geschlossen werden, daß er zur Verrichtung dieser Tätigkeit auch fähig sei. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte zusätzlich gerügt, die Feststellung im Berufungsurteil, die jetzige Tätigkeit überfordere den Kläger und gefährde seine Gesundheit auch bei halbschichtiger Ausübung, werde von dem medizinischen Gutachten, auf das sich das Berufungsurteil im wesentlichen stütze, nicht getragen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben

und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts

zurückzuweisen;

hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht

zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg, denn das LSG hat im Ergebnis mit Recht das erstinstanzliche Urteil und den Rentenentziehungsbescheid der Beklagten aufgehoben.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte nach § 34 Abs 1 SGB 1 verpflichtet war, dem Kläger vor Erlaß des Rentenentziehungsbescheides Gelegenheit zur Äußerung zu geben oder ob sie - wie das LSG meint - nach § 34 Abs 2 Nr 3 SGB 1 von der Anhörung absehen konnte. Der Rentenentziehungsbescheid ist schon deshalb rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO nicht vorliegen.

Nach dieser Vorschrift wird die Rente entzogen, wenn der Versicherte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Zwar ist in den Verhältnissen des Klägers seit der Rentengewährung insofern eine Änderung eingetreten, als er bei einem Berufsförderungswerk die Tätigkeit eines Sachbearbeiters aufgenommen hat. Obwohl diese Tätigkeit wegen der qualitativen Gleichwertigkeit zu seinem früheren Facharbeiterberuf im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO rechtlich zumutbar ist, hat diese Änderung in den Verhältnissen des Klägers doch nicht zum Wegfall der Berufsunfähigkeit geführt.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die die Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat und an die der erkennende Senat daher nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, überfordert die Berufstätigkeit den Kläger und gefährdet unmittelbar seine Gesundheit. Es mag dahingestellt bleiben, ob die erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Rüge der Beklagten, diese Feststellung werde nicht von dem medizinischen Gutachten getragen, der in § 164 Abs 2 Satz 3 SGG vorgeschriebenen Form entspricht. Sie ist jedenfalls nicht in der Revisionsbegründungsfrist geltend gemacht worden und muß schon deshalb unberücksichtigt bleiben.

Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl SozR Nrn 23, 24 zu § 35 RKG aF; SozR 2600 § 45 Nrn 17, 21) kann ein Versicherter nicht auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, bei denen er sich oder andere gefährdet. Kann ein Versicherter eine Tätigkeit nur unter unzumutbaren Schmerzen, einer unzumutbaren Anspannung seiner Willenskräfte, unter Gefährdung oder auf Kosten seiner Gesundheit verrichten, so ist er zu ihrer Ausübung gesundheitlich nicht in der Lage. Das gilt auch dann, wenn er unter den genannten Umständen eine zumutbare Arbeit tatsächlich ausübt. Zwar hat nach der Rechtsprechung des BSG die Tatsache der Ausübung einer zumutbaren Arbeit in der Regel einen stärkeren Beweiswert als die scheinbar dies ausschließenden medizinischen Befunde (vgl SozR Nr 24 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1247 Nr 12). Diese Beweisregel zwingt das Tatsachengericht aber nicht, auch dann von der Fähigkeit des Versicherten zur tatsächlich ausgeübten Tätigkeit auszugehen, wenn auch bei Berücksichtigung der tatsächlichen Arbeitsleistung zur Überzeugung des Tatsachengerichts feststeht, daß die tatsächliche Arbeitsleistung den Versicherten überfordert und in seiner Gesundheit gefährdet. Es kommt nicht darauf an, ob diese Feststellung des LSG im vorliegenden Fall zwingend oder überzeugend ist. Das Berufungsgericht hat jedenfalls die vom BSG aufgestellte Beweisregel nicht verletzt.

Der 11. Senat des BSG hat zwar entschieden, für einen Versicherten gelte der Teilzeitarbeitsmarkt wegen eines von ihm innegehabten Arbeitsplatzes grundsätzlich auch dann nicht als verschlossen, wenn er ganztags beschäftigt ist und hierbei durch die Schwere oder Dauer der Arbeit gesundheitlich überfordert wird (vgl SozR 2200 § 1247 Nr 22). Im vorliegenden Fall geht es aber - im Gegensatz zu der zitierten Entscheidung des 11. Senats - nicht um die Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes, sondern um die Fähigkeit des Versicherten zur Verrichtung einer zumutbaren Arbeit. Auch der 11. Senat hat in dem von ihm entschiedenen Fall nicht angenommen, der Versicherte sei zu der ihn überfordernden Ganztagsbeschäftigung fähig. Vielmehr hat er bei der bestehenden Fähigkeit zur Teilzeittätigkeit die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes verneint, wenn der Versicherte eine - wenn auch ihn überfordernde - Ganztagstätigkeit ausübt. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG ist aber davon auszugehen, daß auch eine gleichartige Halbtagstätigkeit den Kläger überfordern und in seiner Gesundheit gefährden würde.

Die Höhe des vom Kläger erzielten Erwerbseinkommens ist deshalb ohne Bedeutung. Zwar hat die Rente wegen Berufsunfähigkeit Lohnersatzfunktion. Liegen die Voraussetzungen des § 1246 RVO aber vor, so ist der Rentenanspruch auch begründet. Bei bestehender Berufsunfähigkeit unterstellt der Gesetzgeber eine durch die Rente auszugleichende Lohneinbuße, so daß - abgesehen von der in § 1246 Abs 2 RVO enthaltenen Lohnhälfte - die konkrete Lohneinbuße nicht zu prüfen ist. Offen geblieben ist in der Rechtsprechung lediglich die Frage, ob Berufsunfähigkeit auch dann vorliegt, wenn der Versicherte ein den Lohn seiner früheren Tätigkeit kraß übersteigendes Erwerbseinkommen hat (vgl BSG SozR Nr 103 zu § 1246 RVO). Abgesehen davon, daß hier kein Anhaltspunkt dafür vorhanden ist, muß darüber hinaus ein Erwerbseinkommen unberücksichtigt bleiben, das der Versicherte mit einer Tätigkeit erzielt, die ihn überfordert und in seiner Gesundheit gefährdet.

Kann der Kläger also nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine zumutbare Tätigkeit nicht verrichten, so ist er weiterhin berufsunfähig, so daß die Beklagte nicht berechtigt war, die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu entziehen. Der erkennende Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656472

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