Leitsatz (amtlich)
1. Die Verrichtung der Notdurft im Freien in der Nähe der Betriebsstätte steht grundsätzlich unter Unfallversicherungsschutz, auch wenn dies unmittelbar nach Beendigung der im Freien ausgeführten Arbeiten geschieht.
2. Zum Begriff der "selbstgeschaffenen Gefahr" beim Übersteigen einer (fast ständig geschlossenen und nur bei Bedarf geöffneten) Bahnschranke.
Leitsatz (redaktionell)
Das leichtsinnige Verhalten eines bei einem Unfall ums Leben gekommenen Versicherten kann dann nicht als die allein wesentliche betriebsfremde Unfallursache gewertet werden, wenn betriebliche Verhältnisse am Arbeitsplatz und besondere im Unfallzeitpunkt bestehende Umstände das Zustandekommen des Unfalls begünstigten.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 07.07.1976; Aktenzeichen L 2 U 117/75) |
SG München (Entscheidung vom 05.02.1975; Aktenzeichen S 24 U 485/72) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 1976 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Kläger machen Hinterbliebenenansprüche nach ihrem am 4. Oktober 1971 tödlich verunglückten Ehemann und Vater Benedetto F (F.) geltend.
F. war als Gleiswerker bei einem Bauunternehmen in B/Rheinland beschäftigt. Dieses hatte im Oktober 1971 für die Deutsche Bundesbahn neben dem Gleiskörper der Bahngleise B-K zwischen den Bahnhöfen S und R Kabel zu verlegen. Am 4. Oktober 1971 kurz nach Arbeitsschluß (15. 10Uhr)gingen die Arbeiter zu einem Werkbus, der auf der Seite der Baustelle wenige Meter von einem Bahnübergang entfernt abgestellt war und der die Arbeiter zu ihren Unterkünften bringen sollte. Die beiden Sicherheitsposten, die bei jedem herannahenden Zug die Arbeiter durch laute akustische Signale warnten, wurden darauf abgezogen. F. hatte (unbeobachtet) die Gleise überschritten, um - nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) - auf der anderen Seite des Bahnkörpers seine Notdurft zu verrichten. Während sich die meisten Arbeiter bereits im Bus befanden, versuchte F., innerhalb der herabgelassenen Bahnschranken - nach deren überspringen - die Gleise zu überqueren. Dabei wurde er von der Lokomotive eines D-Zuges erfaßt und getötet. Die Bahnschranken wurden fast ständig geschlossen gehalten und nur bei Bedarf geöffnet.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 17. März 1972 Unfallentschädigungsansprüche abgelehnt, da ein versicherungspflichtiger Arbeitsunfall nicht vorgelegen habe: F. habe sich bei dem Überschreiten der Gleise auf einem Abweg befunden und in einem Gefahrenbereich mit übergroßer Unfallgefahr begeben; er sei somit einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen. Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 17. März 1972 verurteilt, den Klägern die gesetzlichen Unfallentschädigungsleistungen zu gewähren (Urteil vom 5. Februar 1975). Das LSG hat durch Urteil vom 7. Juli 1976 die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen, soweit sie die Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe betraf; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, hinsichtlich des Sterbegeldes und der Überbrückungshilfe sei die Berufung gemäß § 144 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig; hinsichtlich der Hinterbliebenenrentenansprüche sei der Berufung der sachliche Erfolg zu versagen. F. habe kurz vor seinem Tode die Gleise überschritten, um seine Notdurft zu verrichten. Demnach habe er sich nicht auf einem - versicherungsrechtlich nicht geschützten - Abweg befunden. Besondere Eile sei für ihn geboten gewesen, da er die Abfahrt des Werkbusses nicht verzögern wollte. Der wesentliche innere und ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit sei auch nicht durch eine selbstgeschaffene Gefahr oder ein absolut vernunftwidriges Verhalten beseitigt worden. Der Gefahrenbereich sei noch wesentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, zumal betriebsfremde Absichten keine Rolle gespielt hätten. Ganz offensichtlich habe F. den herannahenden Zug nicht bemerkt und sei sich deshalb der auf ihn zukommenden Gefahr nicht bewußt gewesen.
Auf die Beschwerde der Beklagten hat der Senat mit Beschluß vom 20. Januar 1977 wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen. Die Beklagte hat frist- und formgerecht Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 548 Abs 1 Satz 1 bzw des § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt dazu vor, der Verunglückte habe am 4. Oktober 1971 die Arbeit bereits beendet, seinen Heimweg jedoch noch nicht angetreten gehabt. Auf die relativ kurze Dauer des dazwischenliegenden - unversicherten - Zeitraumes komme es nicht an. Die vom LSG angenommene Notdurftverrichtung habe nicht dem Zwecke des Heimweges gedient, sondern sei ein rein eigenwirtschaftlicher und daher unversicherter Vorgang. Deshalb habe auch das zweimalige Überschreiten der Gleise - Hin- und Rückweg - als Abweg nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterstanden. Da der Verunglückte täglich mit der Gefährlichkeit des Bahnbetriebes konfrontiert worden sei, handele es sich um den typischen Fall einer sog. selbstgeschaffenen Gefahr; er sei über die geschlossene Bahnschranke in den somit offensichtlich unmittelbar zu erwartenden Zug hineingelaufen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene LSG-Urteil, soweit es die Berufung der Beklagten zurückwies, und das erstinstanzliche Urteil insoweit, als es die Beklagte nicht nur zur Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe verurteilte, aufzuheben und die Klage hinsichtlich der Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Hinterbliebenenrente abzuweisen;
hilfsweise,
das angefochtene LSG-Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 2. Senats des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 1976 zurückzuweisen.
Sie nehmen Bezug auf ihr bisheriges Vorbringen und tragen weiter vor, die Heimfahrt von der Arbeitsstelle sei unter Führung und Verantwortung der Arbeitgeberin erfolgt und habe daher noch zur versicherten Tätigkeit gehört. Die Notwendigkeit, zur Verrichtung der Notdurft die Bahngleise zu überschreiten, sei in den Verhältnissen der Arbeitsstelle begründet gewesen, da die Arbeitgeberin keine Toilette zur Verfügung gestellt habe. Das Überschreiten der geschlossenen Bahnschranke habe sich aus der Eile ergeben, den zur Rückfahrt bereitstehenden Bus zu erreichen. Insgesamt seien die Betriebsbedingungen, die den Unfall verursacht hätten, ungleich wesentlicher als die eigenen Entschlüsse des Verstorbenen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 160 a Abs 4 letzter Satz, 160, 164, 166 SGG); sie erweist sich jedoch als unbegründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß den Klägern die Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen. Das LSG ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung der Beklagten hinsichtlich der Ansprüche auf Sterbegeld - als einmalige Leistung - und auf Überbrückungshilfe - die nach § 591 RVO auf einen Zeitraum von 3 Monaten nach dem Tode des Versicherten beschränkt ist - gemäß § 144 Abs 1 Nrn 1 und 2 SGG ausgeschlossen war. Im Revisionsverfahren ist daher nur noch der Anspruch der Kläger auf Gewährung von Hinterbliebenenrente im Streit (vgl auch Revisionsantrag der Beklagten).
Der Ehemann und Vater der Kläger hat am 4. Oktober 1971 einen Arbeitsunfall erlitten, an dessen Folgen er gestorben ist. Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 548 Satz 1 RVO). Zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall muß ein ursächlicher Zusammenhang bestehen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 22. Januar 1976 in SozR 2200 RVO § 548 Nr 15). Als Ursache und Mitursache sind nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes (nur) die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (ständige Rechtsprechung des BSG; vgl bereits BSGE 1, 72, 76; 1, 150, 157; 1, 268). Welche Bedingungen wesentlich und deshalb rechtlich als Ursache oder Mitursache anzusehen sind, ist eine Wertentscheidung; diese richtet sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalles.
Ergänzend zu § 548 schreibt § 550 RVO vor, daß als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gilt ("Wegeunfall"). Die Auffassung der Beklagten, daß ein versicherter Arbeitsunfall schon deshalb ausscheide, weil der Verunglückte seine betriebliche Tätigkeit am Unfalltage bereits beendet, den Rückweg aber noch nicht begonnen hatte und sich somit in einem - versicherungsrechtlich nicht geschützten - Zwischenstadium befunden habe, vermag der Senat nicht zu teilen. Ebenso wie Vorbereitungshandlungen zur Aufnahme der Arbeit - jedenfalls im örtlichen Bereich des Arbeitsplatzes - bereits den ursächlichen Zusammenhang zwischen einem dabei erlittenen Unfall und der versicherten Tätigkeit begründen können (zB Heraussuchen und Schärfen des Arbeitsgerätes), endet auch der Versicherungsschutz nicht stets mit dem Schluß des unmittelbaren Arbeitsvorganges (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1977 S. 482 c und d). Zumindest das Sammeln und Ordnen des benötigten Arbeitsgerätes sowie die körperliche Reinigung oder Erfrischung während oder nach Arbeitsschluß auf der Betriebsstätte oder in ihrer unmittelbaren Nähe stehen noch unter Unfallversicherungsschutz, wenn diese Verrichtungen im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen (vgl auch BSGE 16, 236, 239). So liegt der Fall hier. Nach den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft, auf deren Inhalt das LSG "zur Ergänzung des Tatbestandes wegen der Einzelheiten verwiesen" hat (Urt. S 4), und den Bekundungen des Zeugen S, dessen Aussage vor dem Sozialgericht Köln das LSG auf S 7 des Urteils verwertet hat (vgl SG - Akten Bl 44, auf deren Inhalt das LSG ebenfalls auf S 4 des Urteils verwiesen hat), war im Unfallzeitpunkt ein Teil der Arbeiter damit beschäftigt, die Arbeitsgeräte an einer bestimmten Stelle abzulegen (Akten der Staatsanwaltschaft), während andere gerade dabei waren, sich hinter dem Bus die Hände zu waschen, und zwar mit Wasser und in Gefäßen, die der Bus zu diesem Zweck jeweils mitbrachte (Zeuge S). Erst mit der Beendigung dieser Tätigkeiten war die Arbeitstätigkeit im unfallversicherungsrechtlichen Sinne beendet. Daran schloß sich - bei normalem Ablauf und bei den gegebenen Verhältnissen - unmittelbar und ohne zeitliche Unterbrechung die Rückfahrt mit dem Werkbus zu den Unterkünften an. Von einem versicherungsfreien Intervall kann daher keine Rede sein, so daß auch die Frage unerörtert bleiben kann, ob die Busrückfahrt als Betriebsweg - also als Teil der versicherten Tätigkeit (vgl dazu Brackmann, aaO, S. 482 f II und g) - oder als versicherter Heimweg anzusehen ist.
Nach den Feststellungen des LSG, die von der Revision nicht angegriffen und daher für den Senat gemäß § 163 SGG bindend sind, hatte sich F. zur Verrichtung seiner Notdurft von der unmittelbaren Arbeitsstelle entfernt und allein aus diesem Grunde die Gleise überschritten. Die von der Revision angedeutet Frage, ob die Verrichtung der Notdurft wirklich dringend war und ob F. damit nicht bis zur Rückkehr in die Werksunterkunft hätte warten können, ist eine hypothetische Spekulation, die sich jeder Nachprüfung entzieht und nicht als rechtserheblich angesehen werden kann, zumal es jedem Menschen (Versicherten) selbst überlassen bleiben muß, den dafür notwendigen Zeitpunkt zu wählen. Damit werden somit die Feststellungen des LSG, daß F. "nichts anderes im Sinne hatte, als seine Notdurft zu verrichten (Urteil S 8 unten), nicht irgendwie in Frage gestellt. - Die Sachlage ist somit eine grundlegend andere als in den Fällen, die das BSG am 22. Januar 1976 (SozR 2200 RVO § 548 Nr 15: Entfernen vom Arbeitsplatz zu einer privaten Zwecken dienenden Verrichtung) und am 15. Juni 1976 (2 RU 135/75: Entfernen vom Arbeitsplatz aus ungeklärten Gründen) zu entscheiden hatte. - Das LSG hat weiter festgestellt, daß auf der Baustelle keine (behelfsmäßige) Toilette errichtet war und daß F. seine Notdurft ungesehen nur auf der gegenüberliegenden Seite der Bahngleise, nicht aber auf der Seite der Baustelle verrichten konnte, weil das diesseitige Gelände sowohl von den Arbeitskollegen als auch von den zur Zeit des Unfalls auf den benachbarten Feldern arbeitenden Personen eingesehen werden konnte (Urt. S 7 u. 8). Das Verhalten des F. war deshalb nicht betriebsfremd, da es durch die Verhältnisse am Ort der versicherten Tätigkeit bedingt war und es dem natürlichen menschlichen Schamgefühl entspricht, sich zur Verrichtung der Notdurft einen "verschwiegenen", möglichst gegen Sicht gedeckten Platz auszusuchen.
Für das Aufsuchen der Toilette auf der Betriebsstätte hat die Rechtsprechung von je her Versicherungsschutz angenommen (vgl RVA in EuM Bd 23, 417; BSGE 16, 73, 76; Brackmann, aaO, S 482 c mit weiteren Nachweisen). Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob an der Betriebsstätte oder in den Räumen des Arbeitgebers eine ordnungsgemäße Toilette vorhanden ist oder ob eine nahegelegene Bedürfnisanstalt aufgesucht wird (vgl BSG SozR RVO § 543 aF Nr 45) oder ob schließlich die Verrichtung der Notdurft mangels solcher Gelegenheiten "im Freien", jedoch noch in der Nähe der Betriebsstätte, geschehen muß. Dabei schließt auch ein verbotswidriges Handeln - hier das Überqueren der Gleise zum alleinigen Zwecke der Notdurftverrichtung - den Versicherungsschutz noch nicht aus (§ 548 Abs 3 RVO). - Ein verbotswidriges Handeln liegt nicht nur vor bei Verstößen gegen Gebote und Verbote des Unternehmers, sondern auch gegen strafrechtliche Vorschriften, gegen Gebote und Verbote der Polizei- und Ordnungsbehörden sowie gegen Unfallverhütungsvorschriften (vgl. BSGE 25, 102, 104 Brackmann aaO. S 484). - Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob sich F. ohne vorherige "Abmeldung" bei dem Schachtmeister von der Arbeitsstätte nicht entfernen durfte und ob er durch das Überschreiten der Gleise gegen (verkehrs-) strafrechtliche oder gegen bahnpolizeiliche Vorschriften verstoßen hat. Ebenso schließt grundsätzlich auch ein unachtsames, leichtsinniges oder gar grob fahrlässiges Verhalten des Verunglückten den Versicherungsschutz nicht aus (vgl BSGE 37, 38, 40; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 52). Das gilt jedenfalls dann, wenn dieses Verhalten nach den äußeren Umständen der betrieblichen Sphäre zuzurechnen ist (vgl Brackmann, aaO S 480 p; Lauterbach, aaO, § 548 Anm 96).
Schließlich entfällt der Versicherungsschutz des Ehemannes und Vaters der Kläger auch nicht aus dem Gesichtspunkt der sog. "selbstgeschaffenen Gefahr". Dieses von der Rechtsprechung entwickelte Institut ist mit dem eben erörterten verbotswidrigen Handeln nicht wesensgleich oder identisch (vgl. Brackmann, aaO, S 484 y; Lauterbach, aaO, § 548 Anm 96). Es ist jedoch vom BSG - mit der Folge, daß deshalb (ausnahmsweise) kein Versicherungsschutz besteht - stets nur mit größter Vorsicht und in Ausnahmefällen bei Erfüllung strenger Voraussetzungen angewandt worden (vgl BSGE 6, 164, 169; 37, 38, 41; SozR RVO § 542 aF Nrn 53, 55, 77). Danach entfällt der Versicherungsschutz nicht schon, wenn der Versicherte sich erhöhter Gefahr aussetzt und dadurch verunglückt. Vielmehr kommt es in Fällen der bewußten (selbstgeschaffenen) Gefahrerhöhung darauf an, ob diese noch entsprechend der für die Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm wesentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (vgl BSGE 37, 41).
Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. Oktober 1976 (SozR 2200 RVO § 550 Nr 21) ausgesprochen hat, schließt eine selbstgeschaffene Gefahr den Unfallversicherungsschutz nur aus, wenn das Verhalten des Verunglückten in so hohem Maße vernunftwidrig und gefährlich war, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen mußte, er werde verunglücken (vgl Urteile vom 27. Januar 1976 - 8 RU 64/75 - (teilweise abgedruckt in SozR 2200 § 1509 a Nr 1) und vom 20. Mai 1976 in SozR 2200 § 539 Nr 21), so daß die dadurch geschaffene Gefahr als die rechtlich allein wesentliche Unfallursache zu werten ist (vgl BSG SozR RVO § 542 aF Nrn 53, 55, 77; § 550 Nr 5; BSGE 6, 164, 169; 14, 64, 67). Nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung führen das Abspringen von einer fahrenden Straßenbahn (vgl RVA in AN 1920, 151) oder von einem fahrenden Zug (vgl RVA in AN 1930, 118 Nr 50; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1976 in SozR 2200 RVO § 550 Nr 21) sowie das Überschreiten von (stark befahrenen) Bahngleisen zu dem alleinigen Zweck, sich für den Heimweg eine Abkürzung und Zeitersparnis zu verschaffen (vgl Urteil BSG vom 14. Dezember 1965 - 2 RU 8/64 - in Breithaupt 55. Jahrgang (1966) S 834; siehe auch Urteil BSG vom 25. Mai 1965 - 2 RU 122/64 - in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1967, 117) nicht zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG-ergänzt durch den Inhalt der auf S 4 des Urteils genannten Akten - rechtfertigen hier selbst bei einem grob fahrlässigen Verhalten des Verunglückten (F.) nicht die Annahme einer (allein ursächlichen nicht mehr der versicherten Tätigkeit zurechenbaren sog. selbstgeschaffenen Gefahr. Vielmehr waren es gerade die betriebsbedingten Umstände und Gefahren, die wesentlich zu dem schweren Unfall mit sofortiger Todesfolge beigetragen haben. F. und seine Arbeitskollegen waren zuvor nicht mit Gleisbauarbeiten, sondern mit dem Ausschachten eines Grabens zur Verlegung von Signalkabeln beschäftigt. Diese Arbeiten wurden zwar nur auf der einen Seite - außerhalb - der Bahngleise durchgeführt. Gleichwohl waren aber zwei Signalposten aufgestellt, die die Arbeiter vor dem Herannahen jedes Zuges warnen sollten. Bereits daraus erhellt die besondere Gefährdung bei der Arbeit; ein (unachtsames) Betreten der Bahnanlagen wurde offenbar nicht für ausgeschlossen gehalten. Wenn bei F. keine Warnung erfolgte, so ist das darauf zurückzuführen, daß die Warnposten unmittelbar vor dem Unfall - bei Beendigung der Erdarbeiten an diesem Tage - abgezogen worden waren. Weiter ist zu berücksichtigen, daß F. am Unfalltag im Freien gearbeitet hatte. Wenn er sein Bedürfnis vor der Abfahrt des Busses verrichten wollte, um diesen nicht zu einem späteren Stop zu veranlassen, so hat er sich im Unfallzeitpunkt insoweit sinnvoll und zweckmäßig verhalten. Das Gelände in der Nähe der Arbeitsstelle war jedoch - wie oben dargelegt - so gestaltet, daß F. nur auf der anderen Seite der Bahngleise vor Blicken geschützt war. Wenn auch das Überschreiten der Gleise zu dem angegebenen Zweck leichtsinnig war, so ist jedoch zu bedenken, daß sich F. einerseits infolge der ständigen Arbeit in der unmittelbaren Nähe der Bahnanlagen an die Gefährlichkeit seines Arbeitsplatzes weitgehend gewöhnt haben mußte oder konnte, und daß andererseits die Bahnschranken, die F. übersteigen mußte, fast ständig geschlossen waren und nur bei Bedarf geöffnet wurden. Für F. signalisierte also die geschlossene Bahnschranke nicht etwa das Herannahen eines Zuges und damit höchste Gefahr; vielmehr stellte sie gleichsam den "Normalzustand" dar. Auf der anderen Seite mußte F. damit rechnen, daß der Bus in Kürze abfahren würde. Für F. bestand also Anlaß zu höchster Eile, um seine Arbeitskollegen nicht unnütz warten oder den Bus ohne ihn - den F. - abfahren zu lassen. Das Verhalten des F. bei seiner Rückkehr war also nicht nur - wie oben dargelegt - wesentlich durch die betrieblichen Verhältnisse am Arbeitsplatz, sondern auch durch diese im Unfallzeitpunkt gerade bestehenden besonderen Umstände bestimmt. Deshalb konnte es geschehen, daß er den herannahenden Zug nicht rechtzeitig gesehen und die damit verbundene Gefahr nicht wahrgenommen hat. Das leichtsinnige Verhalten des F. bzw die dadurch (mit-) geschaffene Gefahr kann nach alledem keinesfalls als die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewertet werden.
Die Vorinstanzen haben demnach zutreffend die Entschädigungsansprüche der Kläger aus der gesetzlichen Unfallversicherung bejaht. Die Revision der Beklagten erweist sich somit als unbegründet und ist zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen