Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 19.11.1992) |
SG München (Urteil vom 14.11.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. November 1992 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 14. November 1991 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Antrag der Klägerin vom 22. Mai 1991 auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren zu erstatten
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt die Bescheidung ihres Antrages auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Durch Bescheid vom 6. Oktober 1986 hatte die Beklagte einen Antrag der Klägerin auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation mangels Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abgelehnt. Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 26. Januar 1987, Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ München vom 30 Juni 1987 und des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 16. März 1988).
Mit Schreiben vom 22. Mai 1991 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Renten- und Rehabilitationsleistungen. Da nach Ansicht der Beklagten die zur Entscheidung über den Rentenantrag erforderlichen Angaben und Unterlagen fehlten, ersuchte sie das Versicherungsamt der Verwaltungsgemeinschaft G…, den Rentenantrag nach Formblatt aufzunehmen. Unter dem 21. Juni 1991 bat das Versicherungsamt die Klägerin um gelegentliche Vorsprache in dieser Angelegenheit. Nachdem sich die Klägerin bis dahin nicht gemeldet hatte, sandte das Versicherungsamt die Unterlagen am 16. Juli 1991 unerledigt an die Beklagte zurück.
Bereits am 19. Juni 1991 hatte die Klägerin beim SG Untätigkeitsklage erhoben und ua dringend um eine Kur gebeten. Zur Begründung trug sie vor: Die beantragten Leistungen würden ihr seit 1986 zu Unrecht vorenthalten. Soweit Formblätter auszufüllen seien, sollten sie ihr zugestellt werden. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 14. November 1991 wurde der Antrag der Klägerin zu Protokoll genommen, die Beklagte zu verurteilen, ihr eine medizinische Maßnahme zur Rehabilitation und die gesetzlichen Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zu gewähren. Durch Urteil vom selben Tage wies das SG die Klage ab. Soweit sie die Gewährung einer medizinischen Maßnahme zur Rehabilitation betreffe, sei die Klage unzulässig. Einer erneut gegen den Bescheid vom 6. Oktober 1986 gerichteten Klage steht die Rechtskraft der in dieser Sache ergangenen Urteile entgegen. Sofern die Klage unabhängig davon erhoben worden sei, fehle es an einer Beschwer der Klägerin, da eine ablehnende Entscheidung der Beklagten mangels eines vorangegangenen Antrages nicht vorliege. Die auf Gewährung einer Rente wegen EU gerichtete Klage könne nur als Untätigkeitsklage iS des § 88 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufgefaßt werden. Diese sei vor Ablauf von sechs Monaten seit der Antragstellung nicht zulässig.
Die gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung der Klägerin verwarf das LSG durch Urteil vom 11. November 1992 als unzulässig, soweit die Gewährung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation begehrt wurde. Da die von der Beklagten gewährten Heilmaßnahmen eine Dauer von maximal sechs Wochen hätten, sei davon auszugehen, daß die begehrte Maßnahme einen Zeitraum von 13 Wochen iS von § 144 Abs 1 Nr 2 SGG (damaliger Fassung ≪aF≫) nicht habe überschreiten sollen. Ein Verfahrensfehler sei nicht gerügt worden. Im übrigen wurde die Berufung vom LSG als unbegründet zurückgewiesen. Die zwischenzeitlich zulässige Untätigkeitsklage könne keinen Erfolg haben, weil ein ausreichender Grund dafür vorliege, daß der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erteilt worden sei. Angesichts der allgemein gehaltenen Formulierungen des formlosen Rentenantrages vom 22. Mai 1991 hätten der Beklagten für eine Entscheidung wesentliche Angaben gefehlt. Sie habe rechtsfehlerfrei gehandelt, wenn sie die Klägerin im Rahmen der Verpflichtung zur Mitwirkung (§ 60 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – ≪SGB I≫) auf das zuständige Gemeindeamt habe vorladen lassen (§ 61 SGB I). Angaben, warum die Klägerin der Aufforderung zur Vorsprache auf das Versicherungsamt der Verwaltungsgemeinschaft G… nicht Folge geleistet habe, enthielten die Akten nicht. Das Gericht habe auch keine Veranlassung gesehen, der Beklagten Frist iS des § 88 Abs 1 Satz 2 SGG zur Nachholung des Verwaltungsaktes zu setzen, da sie wegen des geschilderten Verhaltens der Klägerin nach wie vor nicht in der Lage sei, über den geltend gemachten Rentenantrag zu entscheiden.
Unter dem 20. Februar 1993 beantragte die Klägerin auf einem entsprechenden Rentenversicherungsvordruck – bei der Beklagten eingegangen am 4. März 1993 – erneut medizinische Leistungen zur Rehabilitation. Mit Bescheid vom 23. März 1993 lehnte die Beklagte den “Antrag vom 26. 02. 93” auf Gewährung einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ab, weil bei der Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 11 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) nicht erfüllt seien.
Gegen das Urteil des LSG hat die Klägerin die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Mit Schriftsatz vom 27. Juli 1994 hat sie nach einem entsprechenden Hinweis des Berichterstatters den Rechtsstreit bezüglich der Untätigkeitsklage für Leistungen zur Rehabilitation im Hinblick darauf für erledigt erklärt, daß die Beklagte mit Bescheid vom 23. März 1993 über ihren Antrag auf Gewährung einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation entschieden habe, der in der Sache auch eine Verbescheidung ihres Antrages vom 22. Mai 1991 umfasse, und hiergegen ein Widerspruchsverfahren anhängig sei. Zur Begründung ihrer Revision trägt sie vor:
Das LSG habe § 88 SGG und das aus dieser Vorschrift und den §§ 18, 20 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) abzuleitende Recht auf Verbescheidung eines bei einem Sozialversicherungsträger gestellten Antrages verletzt. Eine nicht hinreichende Mitwirkung des Antragstellers im Verwaltungsverfahren könne iS des § 88 SGG nicht als zureichender Grund dafür angesehen werden, daß über den Antrag überhaupt nicht entschieden werde. Dies ergebe sich aus § 66 Abs 1 SGB I, der als lex specialis abschließend die allein möglichen Rechtsfolgen der Verletzung von Mitwirkungspflichten regele. Zudem bestimme § 66 Abs 3 SGB I, daß Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt werden dürften, nachdem der Antragsteller auf diese Weise auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden sei und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen sei. Diese Regelung könne nicht dadurch umgangen werden, daß eine Behörde überhaupt nicht entscheide. Das LSG stelle zwar im angefochtenen Urteil die Verfahrensweise nach den §§ 60 ff SGB I dar, ziehe daraus aber nicht den Schluß, daß dieses Verfahren von der Beklagten auch durch einen Bescheid nach § 66 SGB I abzuschließen gewesen wäre.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. November 1992 und des Sozialgerichts München vom 14. November 1991 zu verurteilen, über ihren Antrag vom 22. Mai 1991 auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. November 1992 zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Dagegen, daß die Klägerin den Rechtsstreit teilweise für erledigt erklärt habe, erhebe sie keine Einwände.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
Nachdem der Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, soweit er die Bescheidung des auf die Gewährung von Rehabilitationsleistungen gerichteten Antrages vom 22. Mai 1991 betraf, ist nur noch über die auf Bescheidung des Rentenantrages gerichtete Revision zu befinden. Auch wenn im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG ein Klageantrag iS einer allgemeinen Leistungsklage (Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der gesetzlichen Leistungen wegen EU) protokolliert worden ist, haben beide Vorinstanzen – entsprechend dem schriftlichen Vorbringen der Klägerin – deren Begehren zutreffend dahin ausgelegt, daß es nach Art einer Untätigkeitsklage auf Bescheidung des mit Schreiben vom 22. Mai 1991 formlos gestellten Rentenantrages gerichtet ist. Denn das Gericht entscheidet nach § 123 SGG über die von der Klägerin erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.
Die Revision ist auch begründet. Die Urteile der Vorinstanzen können keinen Bestand haben.
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung bestehen nicht. Nach Art 14 Abs 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I S 50) sind hier noch die bis zum 28 Februar 1993 geltenden Bestimmungen der §§ 143 ff SGG aF anwendbar, weil die mündliche Verhandlung, auf die das mit der Berufung angefochtene Urteil des SG ergangen ist, lange vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts (vgl Art 15 Abs 1 des Gesetzes vom 11. Januar 1993), nämlich am 14. November 1991, stattgefunden hat. Nach § 144 Abs 1 Nr 2 SGG aF war die Berufung nicht zulässig bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (drei Monaten). Abgesehen davon, daß Gegenstand einer Untätigkeitsklage grundsätzlich nur die Bescheidung eines Antrages und nicht die Prüfung der materiellen Anspruchsvoraussetzungen einer Leistung ist (vgl Meyer-Ladewig, SGG m Erl, 5. Aufl, § 88 RdNrn 2, 9; dazu auch BSGE 19, 164; BSG SozR Nr 2 zu § 112 SGG), beschränkt sich die von der Klägerin letztlich begehrte Rentenleistung nicht auf drei Monate.
Die Prozeßvoraussetzungen für die Untätigkeitsklage sind ebenfalls gegeben. Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nach § 88 Abs 1 SGG nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes zulässig. Der mit Schreiben der Klägerin vom 22. Mai 1991 gestellte Rentenantrag ist von der Beklagten bislang nicht beschieden worden. Die sechsmonatige Wartefrist war zwar bei Klageerhebung am 19. Juni 1991 noch nicht abgelaufen, es reicht jedoch aus, daß sie zwischenzeitlich verstrichen ist (ebenso SGB-SozVers-GesKomm/Bley, § 88 SGG Anm 3c; Hennig/Danckwerts/König, SGG, § 88 Anm 5.1; Meyer-Ladewig, SGG m Erl, 5. Aufl, § 88 RdNr 5; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, § 88 SGG Anm 2; aA Zeihe, SGG, § 88 RdNr 5a). Soweit sich Zeihe (aaO) für seine gegenteilige Ansicht auf die kritische Anmerkung von Menger/Erichsen (Verwaltungsarchiv Bd 58 ≪1967≫, 79 ff) zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 20. Januar 1966 (BVerwGE 23, 135) beruft, läßt er unberücksichtigt, daß § 75 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einen anderen Wortlaut hat als § 88 SGG. Nach § 75 Satz 2 VwGO kann die Klage “nicht vor Ablauf von drei Monaten … seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist”. Mag aus dieser Anknüpfung der Wartefrist an die Klageerhebung zu folgern sein, daß eine vorzeitig erhobene Untätigkeitsklage im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unzulässig ist und bleibt (so wohl Menger/Erichsen, aaO S 82), so legt die Fassung des § 88 Abs 1 SGG einen entsprechenden Schluß für das sozialgerichtliche Verfahren nicht nahe. Vielmehr läßt sie sich zwanglos so verstehen, daß die Klage vor Ablauf von sechs Monaten zwar noch nicht zulässig ist, dies aber im Zuge des Gerichtsverfahrens werden kann. Davon ist hier auch das LSG zu Recht ausgegangen.
§ 88 Abs 1 SGG setzt weiter voraus, daß es an einem zureichenden Grund dafür fehlt, daß der streitige Antrag in angemessener Frist noch nicht beschieden ist. Der erkennende Senat braucht nicht darüber zu entscheiden, ob es sich bei diesem Merkmal um eine weitere Prozeßvoraussetzung handelt (so Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 240 f I; SGB-SozVers-GesKomm/Bley, § 88 SGG Anm 4a) oder nicht (so Meyer-Ladewig, SGG m Erl, 5 Aufl, § 88 RdNr 6; vgl auch BVerwGE 42, 110; differenzierend Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, § 88 SGG Anm 1 – S II/11-2 –, die es wohl ausreichen lassen, daß der Kläger nach Ablauf der Wartefrist das Fehlen eines zureichenden Grundes nachvollziehbar behauptet). Denn im vorliegenden Fall liegt jedenfalls kein zureichender Grund dafür vor, daß die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin vom Mai 1991 bis jetzt noch nicht beschieden hat. Entgegen der Auffassung des LSG (ebenso wohl Bayerisches LSG, Urteil vom 6. Oktober 1978 – L 3/B 53/78 –; Hennig/Danckwerts/ König, SGG, § 88 Anm 4; vgl auch OVG Berlin, FEVS 25, 283, 289) läßt sich die Untätigkeit der Beklagten nicht mit Rücksicht darauf rechtfertigen, daß die Klägerin im Zusammenhang mit der Antragstellung möglicherweise ihren Mitwirkungspflichten iS von §§ 60 ff SGB I nicht ausreichend nachgekommen ist. Sofern die Beklagte infolge unzureichender Angaben der Klägerin an einer Sachentscheidung über den Rentenanspruch gehindert war, hätte sie nach § 66 SGB I vorgehen können und müssen, um einer Untätigkeitsklage der Klägerin die Grundlage zu entziehen.
Kommt diejenige, die eine Sozialleistung beantragt oder erhält, ihren Mitwirkungspflichten nach §§ 60-62, 65 SGB I nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger gemäß § 66 Abs 1 SGB I die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind. Nach § 66 Abs 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem die Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und ihrer Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihr gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Gerade mit Rücksicht auf diese verfahrensmäßigen Absicherungen stellt sich § 66 SGB I nach der Systematik des Gesetzes als diejenige Regelung dar, nach der die Verwaltung bei Streit über den Umfang von Mitwirkungspflichten einer Antragstellerin zu verfahren hat.
Mit der Antragstellung beginnt das Verwaltungsverfahren (vgl § 18 SGB I). Damit obliegt es dem Versicherungsträger, den Sachverhalt von Amt wegen zu ermitteln; an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten ist er nicht gebunden (vgl § 20 Abs 1 SGB X). Zwar kann er dabei eine Antragstellerin nach Maßgabe der §§ 60 ff SGB I auch zur Mitwirkung (zB durch Angabe von Tatsachen oder durch persönliches Erscheinen zur mündlichen Erörterung des Antrages) heranziehen, er darf jedoch seine Tätigkeit nicht einfach einstellen, wenn die Antragstellerin eine von ihm für geboten erachtete Mitwirkungshandlung unterläßt. Eine derartige Handlungsweise widerspricht nicht nur den Grundsätzen eines ordnungsgemäßen und zweckmäßigen Verwaltungsverfahrens (vgl §§ 8, 9 SGB X), sondern zwingt die Antragstellerin auch in unvertretbarer Weise, entweder die von ihr geforderte Mitwirkungshandlung ohne die Möglichkeit einer Überprüfung der Voraussetzungen des § 66 SGB I nachzuholen oder ihren Leistungsantrag aufzugeben oder aber bei Gericht eine Untätigkeitsklage zu erheben. Zwar ließe sich – wie das Berufungsurteil zeigt – das Vorliegen einer Mitwirkungspflichtverletzung der Antragstellerin auch im Rahmen einer Untätigkeitsklage bei der Frage prüfen, ob für die Nichtbescheidung des Antrages ein zureichender Grund vorliegt; der erkennende Senat hält es jedoch im Ansatz für verfehlt, die Antragstellerin zur Klärung des Umfanges ihrer Mitwirkungspflichten auf die Untätigkeitsklage zu verweisen. Wegen der Möglichkeit einer Bescheiderteilung nach § 66 SGB I kann eine Mitwirkungspflichtverletzung für sich genommen grundsätzlich noch kein zureichender Grund dafür sein, daß die Behörde einen Antrag unbeschieden gelassen hat. Sie ist lediglich insoweit beachtlich, als der Leistungsträger infolge der dadurch eingetretenen Verzögerungen auch bei ordnungsgemäßer Verfahrensweise noch keinen Bescheid nach § 66 SGB I hätte erteilen können. Dafür fehlen im vorliegenden Fall jegliche Anhaltspunkte, da die Beklagte für ein derartiges Vorgehen inzwischen mehr als drei Jahre Zeit hatte.
Ein zureichender Grund iS von § 88 Abs 1 Satz 1 SGG ist auch nicht etwa mit Rücksicht darauf anzunehmen, daß die Beklagte nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht unmittelbar einen Bescheid über den Rentenantrag der Klägerin erlassen kann. Wenn ihr jetzt die für eine Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs erforderlichen Tatsachen fehlen und sie auch noch nicht – insbesondere durch Hinweis und Fristsetzung nach § 66 Abs 3 SGB I – die Voraussetzungen für eine Versagung der Leistung gemäß § 66 SGB I geschaffen hat, so beruht dies gerade auf ihrer vom Gesetz mißbilligten Untätigkeit. Ob ein zureichender Grund für eine bislang unterbliebene Bescheiderteilung vorliegt, ist allein nach objektiven Kriterien unter Berücksichtigung der seit der Antragstellung verstrichenen Zeit zu beurteilen (vgl dazu allgemein Kopp, VwGO, 9. Aufl, § 75 RdNr 13). Eine fehlerhafte Rechtsauffassung der Behörde ist insofern ebenso unbeachtlich wie der Umstand, daß infolgedessen unterlassene Verfahrenshandlungen oder Ermittlungen vor einer Bescheiderteilung zunächst noch nachgeholt werden müssen (vgl dazu BSG SozR 1500 § 77 Nr 51).
Da somit die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 SGG gegeben sind, ist die Klage auch begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, ihr weiteres Vorgehen nach den vom Senat dargelegten Grundsätzen einzurichten, um nunmehr unverzüglich zu einer Bescheidung des Rentenantrages der Klägerin zu gelangen. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 66 SGB I wird sie allerdings zu beachten haben, daß ein persönliches Erscheinen der Klägerin (vgl § 61 SGB I) im Hinblick auf § 65 Abs 1 SGB I – jedenfalls gegen ihren Willen – nur angeordnet werden darf, wenn eine Aufklärung des Sachverhaltes auf schriftlichem Wege nicht erfolgversprechend ist (vgl GK-SGB I/Burdenski, 2. Aufl, § 61 RdNr 2; dazu allgemein auch BSG SozR 4100 § 132 Nr 1). Insoweit ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin die Beklagte bereits im erstinstanzlichen Verfahren aufgefordert hat, ihr die auszufüllenden Vordrucke zuzusenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Auch wenn der Rechtsstreit teilweise für erledigt erklärt worden ist, hat eine Entscheidung über die gesamten Kosten im Urteil zu ergehen (vgl Meyer-Ladewig, SGG m Erl, 5. Aufl, § 193 RdNr 2). Die ungeteilte Kostenerstattungspflicht der Beklagten ergibt sich zum einen daraus, daß die Revision der Klägerin erfolgreich ist. Zum anderen hält der erkennende Senat dieses Ergebnis auch für angemessen, soweit sich der Rechtsstreit erledigt hat. Dieser Teil betraf – unabhängig von der Auslegung des Klagebegehrens durch die Vorinstanzen – ebenfalls eine Untätigkeitsklage, und zwar wegen Nichtbescheidung des Antrages der Klägerin vom 22. Mai 1991 auf Gewährung von medizinischen Leistungen zur Rehabilitation. Abgesehen davon, daß bereits das SG den Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist hätte abwarten sollen, wäre der Klage im zweiten Rechtszug stattzugeben gewesen, da kein zureichender Grund für die Untätigkeit der Beklagten ersichtlich war. Jedenfalls durfte das LSG die Berufung nicht als unzulässig verwerfen. Sofern die Anwendung des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG aF bei einer Untätigkeitsklage nicht ohnehin ausscheidet, lagen jedenfalls die Voraussetzungen für einen Berufungsausschluß nach dieser Bestimmung nicht vor, da die Klägerin ihr Rehabilitationsbegehren zeitlich nicht beschränkt hatte (vgl BSG SozR 1500 § 144 Nr 23; BSG, Urteil vom 14. Januar 1982 – 4 RJ 11/81 –). Zwar hat die Beklagte im Verlauf des Verfahrens über die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde durch Bescheid vom 23. März 1993 einen erneuten Antrag der Klägerin vom Februar 1993 auf Gewährung von medizinischen Leistungen zur Rehabilitation abgelehnt und damit in der Sache auch den gleichgerichteten Rehabilitationsantrag vom Mai 1991 mitentschieden. Die Klägerin hatte jedoch gleichwohl hinreichende Veranlassung, den Rechtsstreit insoweit zunächst fortzuführen und die vom Senat zugelassene Revision einzulegen, als die Beklagte weder in dem Bescheid vom 23. März 1993 auf den Antrag vom Mai 1991 Bezug genommen noch in dem Verfahren vor dem BSG sich dahingehend geäußert hat, daß sie damit auch den Antrag vom Mai 1991 habe bescheiden wollen. Dazu hätte nicht nur wegen der anhängigen Untätigkeitsklage, sondern auch insofern besondere Veranlassung bestanden, als der im Mai 1991 gestellte Rehabilitationsantrag noch nach dem bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Recht (vgl §§ 1236 ff der Reichsversicherungsordnung) zu beurteilen ist (vgl § 301 Abs 1 SGB VI). Unter diesen Umständen kann es der Klägerin kostenrechtlich nicht angelastet werden, daß sie einen gerichtlichen Hinweis zur Rechtslage abgewartet hat, bevor sie den Rechtsstreit für erledigt erklärt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 797053 |
BSGE, 56 |
NJW 1995, 2511 |
NVwZ 1995, 623 |