Leitsatz (redaktionell)
Bei der Begrenzung der Rückwirkung von Zugunstenbescheiden nach KOV-VfG § 40 Abs 1 kann die Verwaltung sich auf die Verjährung des Anspruchs berufen.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; BGB § 197 Fassung: 1896-08-18, § 201 S. 1 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 18. Mai 1967 dahin abgeändert, daß der Beklagte unter Abweisung der Klage im übrigen verurteilt wird, dem Kläger Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 90 vom Hundert vom 1. Januar 1961 an zu gewähren.
Insoweit wird die Revision zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht Versorgung. Seine Rente war zunächst die eines Erwerbsunfähigen; durch bindend gewordenen Bescheid vom 3. August 1957 wurde sie nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. neu festgesetzt. Die beiden Anträge vom April und Dezember 1960 auf Erhöhung der Rente wegen einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen bzw. wegen eines beruflichen Schadens wurden abgelehnt (bindend gewordene Bescheide vom 16. August/30. November 1960 bzw. 21. Februar 1961).
Im März 1965 beantragte der Kläger die Gewährung von Berufsschadensausgleich. Nach Ermittlungen erteilte das Versorgungsamt den Bescheid vom 31. Januar 1966, hob den Bescheid vom 21. Februar 1961 auf und gewährte in Abänderung des Bescheides vom 3. August 1957 Rente nach einer MdE um 90 v. H. vom 1. März 1961 an. Infolge der Art und Schwere der anerkannten Schädigungsfolgen könne der Kläger den vorher ausgeübten oder einen anderen sozial gleichwertigen Beruf nicht mehr ausüben; auch sei durch die vorzeitige Invalidisierung im Alter von 39 Jahren ein wirtschaftlicher Schaden eingetreten, so daß die Versorgungsrente um 10 v. H. erhöht werde; die höhere Rente beginne nach Nr. 8 der Verwaltungsvorschrift zu § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) vier Jahre vor der entscheidenden Antragstellung vom März 1965. Der Widerspruch mit dem die höheren Leistungen für weiter zurückliegende Zeiten begehrt wurde, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. März 1966), weil die Verwaltung von ihrem Ermessen einen dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Gebrauch gemacht habe.
Im Klageverfahren hat der Beklagte vorsorglich die Einrede der Verjährung erhoben. Durch Urteil vom 18. Mai 1967 hat das Sozialgericht (SG) den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 31. Januar/24. März 1966, 3. August 1957 und 21. Februar 1961 verurteilt, vom 1. Oktober 1957 an Versorgung nach einer MdE um 90 v. H. zu gewähren. Die Verwaltung habe gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG einen neuen Bescheid erteilen und den Kläger so stellen müssen, als ob er im Jahre 1957 richtig beschieden worden wäre. Aber auch bei einem Bescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG habe das Versorgungsamt keinen Ermessensspielraum gehabt, vielmehr sei seine Entscheidung voll überprüfbar. Unstreitig seien die Entscheidungen von 1957 an insoweit falsch gewesen, als das besondere berufliche Betroffensein unberücksichtigt geblieben sei. Deshalb sei der Kläger vom Oktober 1957 an so zu stellen, als ob dieses Tatbestandsmerkmal vorgelegen habe. Die analoge Anwendung des § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auf das Versorgungsrecht sei mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht vereinbar. Da sich der Verwaltung die Feststellung des besonderen beruflichen Betroffenseins geradezu aufgedrängt habe, habe sie handeln müssen und könne sich dieser Verpflichtung nicht durch die Berufung auf die Verjährungsvorschriften entziehen. Das SG hat die Berufung zugelassen, weil es über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung entschieden habe und teilweise von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen sei.
Der Beklagte hat Revision (Sprungrevision) eingelegt und beantragt zu erkennen:
auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 18. Mai 1967 geändert. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Nordrhein vom 24. März 1966 wird abgewiesen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 54 Abs. 2 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 40 Abs. 1 und 2 VerwVG und § 197 BGB. Er ist der Ansicht, sachfremde Erwägungen hätten bei der Entscheidung über den Leistungsbeginn nicht vorgelegen.
Der Kläger beantragt,
die Sprungrevision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für richtig und ist der Ansicht, die Verjährungseinrede des Beklagten verstoße hier gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
Der Beklagte hat die durch Zulassung der Berufung gemäß § 161 SGG statthafte Sprungrevision form- und fristgerecht unter Vorlage der Einwilligungserklärung des Klägers eingelegt und begründet. Sein Rechtsmittel ist zulässig und auch im wesentlichen sachlich gerechtfertigt.
Durch den angefochtenen Bescheid vom 31. Januar 1966 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1966 hat der Beklagte gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG die Versorgungsbezüge des Klägers zu seinen Gunsten neu festgesetzt. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde zu Gunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Zu Unrecht ist das SG der Ansicht gewesen, der Beklagte habe den neuen Bescheid gem. § 40 Abs. 2 VerwVG erteilen müssen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Denn nach ihr ist auf Antrag des Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen, wenn das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Durch den früheren Bescheid vom 21. Februar 1961 ist zwar die Erhöhung der Rente deshalb abgelehnt worden, weil die Tätigkeit eines Holzarbeiters keine qualifizierte Arbeit i. S. des § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei, welche den Rahmen des allgemeinen Erwerbslebens überschreite. Zu jener Zeit aber war durch die Rechtsprechung des BSG bereits klargestellt (BSG 10, 69 ff, 70), daß unter einem "Beruf" i. S. von § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG in der damals gültigen Fassung - jetzt: § 30 Abs. 2 BVG idF des 2. und 3. Neuordnungsgesetzes (NOG) - jede Beschäftigung zu verstehen ist, welche der Beschädigte erlernt hat oder für die er in irgendeiner Weise angelernt ist. Deshalb kann keine Rede davon sein, daß das BSG seine Rechtsauffassung erst nach dem Erlaß des Bescheides vom Februar 1961 vertreten habe. Vielmehr hat die Verwaltung zu Recht den Berichtigungsbescheid auf § 40 Abs. 1 VerwVG gestützt.
Das SG ist weiter zu Unrecht der Ansicht gewesen, eine erneute Bescheiderteilung nach § 40 Abs. 1 VerwVG stelle keine Ermessensentscheidung dar. Dies ist mit der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar (s. statt anderen BSG 26, 146 ff - mit weiteren Hinweisen). Nach ihr ist durch § 40 Abs. 1 VerwVG die Verwaltung ein Ermessen in zweierlei Hinsicht eingeräumt worden, nämlich darüber, "ob" und auch "von wann an" sie die Berichtigung vornehmen will. Zwar hätte der Beklagte vorliegend sein Ermessen, ob er überhaupt berichtigen wolle, dann fehlerhaft gehandhabt, wenn er an der bindenden Wirkung der früheren Bescheide festgehalten hätte, obwohl für ihn feststand, daß diese erkennbar und zweifelsfrei zum Nachteil des Klägers gegen § 30 BVG verstoßen hatten (BSG SozR VerwVG § 40 Nr. 3). Zu Unrecht aber hat das SG hieraus gefolgert, es könne die zweite Entscheidung der Verwaltung darüber, von wann an sie die Berichtigung vornehmen wolle, uneingeschränkt nachprüfen. Dies ist mit der Rechtsprechung des BSG - wie das SG nicht verkannt hat - nicht vereinbar. An dieser ständigen Rechtsprechung ist festzuhalten. Wortlaut und Sinn des § 40 Abs. 1 VerwVG sprechen gegen die Auffassung des SG, wie in der Entscheidung des 10. Senats vom 14. März 1967 (abgedruckt BSG Band 26 S. 146 ff) ausgeführt ist. Das angefochtene Urteil gibt dem Senat keinen Anlaß, auf die abweichende Auffassung des SG näher einzugehen; vielmehr verweist er auf die Entscheidung des 10. Senats und macht sie sich zu eigen.
Hinsichtlich der rückwirkenden Neuregelung des Versorgungsrechtsverhältnisses gilt zunächst der Grundsatz: In der Vergangenheit lebt man nicht. Infolgedessen hat die Verwaltung zutreffend geprüft, ob besondere Umstände vorliegen, welche es geboten erscheinen lassen, auch für eine gewisse Zeit in der Vergangenheit den Kläger besser zu stellen. Sie hat sich hierbei auf Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften gestützt. In ihr ist u. a. bestimmt:
"Erscheint es nach Lage des Falles geboten, dem neuen Bescheid Rückwirkung beizulegen, so sind bei der Feststellung des Zeitpunkts alle Umstände sorgfältig abzuwägen und in der Begründung wiederzugeben. Eine Rückwirkung soll jedoch in der Regel nicht über einen Zeitraum von vier Jahren hinausgehen."
In dieser Verwaltungsvorschrift ist nicht festgelegt, wie der Zeitraum von vier Jahren zu berechnen ist. Der Beklagte hat sich im Klageverfahren auf Verjährung berufen und hat in der Revisionsbegründung ausgeführt, im angefochtenen Bescheid habe er dem Gesichtspunkt der Verjährung Rechnung getragen. Für den Zeitpunkt des Beginns der Verjährung ist hier der Antrag des Klägers vom 3. März 1965 maßgebend, denn seinen früheren Antrag vom Dezember 1960 hatte die Verwaltung durch den bindend gewordenen Bescheid vom 21. Februar 1961 erledigt.
Dieser Antrag konnte also nach seiner Bescheidung keine weiteren Wirkungen haben. Durch den Antrag vom März 1965 ist die Verjährung des Anspruchs auf wiederkehrende Leistungen, die höher wären, als im Bescheid vom 3. August 1957 festgestellt, unterbrochen worden. Für die vierjährige Verjährungsfrist ist gemäß § 201 BGB der Schluß des Jahres maßgebend. Infolgedessen sind zur Zeit dieses Antrages vom März 1965 alle mehr als vier Jahre vor dem 1. Januar 1961 zurückliegenden Rentenbeträge verjährt. Zu Unrecht hat hier das SG die Verjährungseinrede nicht beachtet und für die Zeit vor dem 1. Januar 1961 zur Leistung verurteilt. Dies ist nicht rechtens und insbesondere nicht durch den Grundsatz von Treu und Glauben geboten. Der Kläger beruft sich in der Revisionserwiderung zu Unrecht auf diesen Gesichtspunkt, denn die Versorgungsverwaltung hat zwar fehlerhaft, aber nicht arglistig gehandelt.
Infolgedessen hätte das SG hier zur Gewährung der höheren Rente nicht vom 1. Oktober 1957, sondern erst vom 1. Januar 1961 an verurteilen dürfen. Mit dieser Maßgabe mußte auf die Revision des Beklagten die angefochtene Entscheidung abgeändert werden.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen