Leitsatz (amtlich)

Wenn Leiden zu beurteilen sind, die nicht einem bestimmten ärztlichen Fachgebiet zuzuordnen sind, sondern mehrere Fachrichtungen betreffen, das Gericht aber trotzdem sich mit der Anhörung nur eines Gutachters der einen Fachrichtung begnügen will, dann hat es auch darzulegen, weshalb es glaubt, mit diesem Gutachter auskommen zu können.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 2, § 162 Abs. 1 Nr. 2

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. März 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Die am 2. Juli 1928 geborene Klägerin, bei der als Folge einer im Jugendalter durchgemachten Hüftgelenkstuberkulose eine Versteifung des rechten Hüftgelenks mit Beinverkürzung um 4 cm besteht, war von 1942 bis 1944 jeweils kurze Zeit als Schneiderlehrling sowie als Büroangestellte tätig; seither arbeitet sie - von zeitweiligen Unterbrechungen abgesehen - als Telefonistin. Ihren Rentenantrag vom 27. November 1967 lehnte die Beklagte nach Einholung eines orthopädischen Gutachtens (Dres. H und B) mit Bescheid vom 8. Juli 1968 ab. Vor dem Sozialgericht (SG) machte die Klägerin geltend, außer ihren in das orthopädische Fachgebiet gehörenden Gesundheitsschäden leide sie an Herz- und Kreislaufstörungen sowie an häufigen Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen, Schlaflosigkeit, Nervosität, schneller Ermüdbarkeit, Konzentrationsschwäche und depressiven Stimmungslagen. Alle diese Gesundheitsstörungen seien bisher unberücksichtigt geblieben, weshalb sowohl eine innerfachärztliche als auch eine nervenfachärztliche Begutachtung erforderlich seien. Die Beklagte gewährte der Klägerin Heilbehandlung in Bad B und legte den Entlassungsbericht der Heilstätte vor. Das SG zog zwei ärztliche Befundberichte bei (Dres. Sch und Sch); mit Urteil vom 29. April 1970 wies es die Klage ab.

Während des Berufungsverfahrens gewährte die Beklagte der Klägerin in Bad N erneut Heilbehandlung. Das Landessozialgericht (LSG) zog weitere Befundberichte bei (Dres. Sch, Sch, M) und ließ die Klägerin von dem Orthopäden Dr. H und dem Internisten Dr. R aufgrund ambulanter Untersuchungen begutachten. Mit Urteil vom 9. März 1972 wies es die Berufung zurück und führte zur Begründung aus: Nach den übereinstimmenden Ansichten der Sachverständigen Dres. H und R sei die auf das allgemeine Arbeitsfeld zu verweisende Klägerin noch fähig, körperlich leichte Tätigkeiten im Sitzen mit gelegentlichen Unterbrechungen durch Gehen oder Stehen und der Möglichkeit, die Oberkörperhaltung zu wechseln, für die Dauer von mindestens 6 Stunden täglich, bei Benutzung des von Dr. H beschriebenen Sonderstuhles für die Dauer der vollen üblichen Arbeitszeit zu verrichten. Diese Beurteilung ihres Leistungsvermögens durch die Sachverständigen sei nach der Auffassung des Senats zutreffend und überzeugend. Sie entspreche im wesentlichen auch der Meinung des Gutachters Dr. H und stimme mit den Entlassungsberichten der Heilstätten überein. Anhaltspunkte dafür, daß die Sachverständigen die Leiden der Klägerin nicht voll berücksichtigt oder nicht ausreichend gewürdigt hätten, lägen nicht vor. "Bei dieser eindeutigen Sachlage" habe der Senat keine Veranlassung gesehen, weitere medizinische Gutachten einzuholen. Dem Leistungsvermögen der Klägerin entsprechende Arbeitsplätze seien vorhanden; sie habe einen solchen Arbeitsplatz inne und sei in der Lage, mindestens die Hälfte des Durchschnittslohnes einer ihr vergleichbaren gesunden Versicherten zu verdienen.

Mit der nicht zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,

die vorinstanzlichen Urteile sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, ihr ab 1. November 1967 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Als Verfahrensrügen macht die Klägerin Verletzung der §§ 103, 106 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geltend. Sie meint, wegen der bei ihr gegebenen nervlichen und psychiatrischen Gesundheitsstörungen habe das LSG das nervenfachärztliche Gutachten einholen müssen, das sie von Anfang an für erforderlich gehalten habe; neurologische Gesundheitsstörungen seien weitaus schwieriger zu beurteilen als andere Gesundheitsschäden; die Begutachtung der einzelnen Gesundheitsstörungen habe durch die entsprechende ärztliche Fachrichtung zu erfolgen, andernfalls brauchte es keine Fachärzte zu geben. Das LSG habe ihre auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet liegenden Gesundheitsstörungen aber in den Entscheidungsgründen seines Urteils nicht einmal erwähnt. Bei Berücksichtigung dieser Störungen hätte es zu dem Ergebnis kommen müssen, daß selbst eine Halbtagsbeschäftigung leichtester Art von ihr nicht mehr verrichtet werden könne.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die nicht zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil die Klägerin ordnungsgemäß und mit Recht eine Verletzung des § 128 Abs. 1 SGG rügt; unter diesen Umständen braucht der Senat auf die übrigen Verfahrensrügen nicht einzugehen. Die Revision ist auch begründet insoweit, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Zutreffend hat das LSG in seinem Urteil hervorgehoben, die Klägerin habe mit der Klage geltend gemacht, ihre "auf internistischem und neurologischem Gebiet liegenden Gesundheitsstörungen" seien in dem Bescheid der Beklagten unberücksichtigt geblieben. Es ist in dem Urteil auch erwähnt, daß der praktische Arzt Dr. Sch, der die Klägerin seit Jahren behandelt, in seinen Befundberichten das Bestehen von Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Unruhezuständen und Depressionen bestätigt hat; in dem Bericht vom 9. November 1970 ist u. a. von einer Verschlimmerung der Kopfschmerzen und der Schlafstörungen, in dem Bericht vom 18. Oktober 1971 auch von dem Wiedereinsetzen von Depressionen die Rede. Bei der auf Veranlassung des LSG von dem Orthopäden Dr. H am 2. September 1971, also nur 1 1/2 Monate vorher durchgeführten Untersuchung hatte die damals eben erst aus Bad Nenndorf zurückgekehrte Klägerin angegeben, die Depressionen und Angstzustände sowie die Schlaflosigkeit seien besser geworden, sie habe aber ständig Kopfschmerzen. In dem Gutachten des Internisten Dr. R vom 19. Januar 1972 schließlich heißt es, die Klägerin Klage über Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzustände und viel Kopfschmerzen; manchmal habe sie nur einen einseitigen Kopfschmerz, manchmal tue ihr auch der ganze Kopf weh, dann werde ihr übel. Dr. R hebt in diesem Gutachten ausdrücklich hervor, die Angaben der Klägerin seien sachlich und klar, es bestehe kein Anhalt zur Annahme einer Aggravation oder Simulation. Nach seiner ambulant durchgeführten Untersuchung kommt er aber zu dem Ergebnis, es finde sich derzeit kein Hinweis auf eine ausgeprägte Symptomatik, die als Ausdruck einer depressiven Verstimmung aufzufassen sei. Lediglich eine leichte depressive Stimmungslage mit gelegentlichem Weinen im Rahmen einer "offensichtlich" psychogen-vegetativen Fehlsteuerung sei "offensichtlich". Auch die von der Klägerin angegebene Symptomatik im Kopfbereich in Form von teils einseitigen, teils diffus auftretenden Kopfschmerzzuständen, gelegentlich auch mit Übelkeit einhergehend, sei "im Rahmen der psychogen-vegetativen Fehlsteuerung zu deuten", und zwar als Ausdruck sogenannter vasomotorischer Kopfschmerzzustände. Es bestehe "zweifelsohne" eine derzeit "sicher nicht als erheblich" zu bezeichnende vegetative Fehlhaltung mit Neigung zu leicht depressiver Stimmungslage, derzeit jedoch ohne Hinweis für eine ausgeprägte depressive Symptomatik. Die Einholung weiterer medizinischer Fachgutachten scheine nicht erforderlich. Dem ist das LSG gefolgt.

Mit Recht rügt aber die Klägerin, insoweit leide das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel. Die Klägerin hat von Anfang an - nicht nur allgemein, sondern im einzelnen - Beschwerden angegeben, deren Beurteilung in erster Linie dem nervenärztlichen Fachgebiet zuzuordnen ist; sie hat vor allem immer wieder erklärt, sie leide an Kopfschmerzen mit Übelkeit, an Schlafstörungen, an Depressionen und an Angstzuständen. Solche Beschwerden können vielfältige Ursachen haben; sie weisen mitunter auf einen gewichtigen organischen Prozeß hin. Das LSG hat deshalb nicht darauf verzichten dürfen, auch anzugeben, weshalb es davon abgesehen hat, die Beurteilung dieser besonderen Beschwerden der Klägerin durch einen Gutachter vornehmen zu lassen, dem die speziellen Untersuchungsmethoden des nervenärztlichen Fachgebietes vertraut sind und von dem auch in der Beurteilung des Untersuchungsergebnisses wegen seiner speziellen Kenntnisse und Erfahrungen eine besondere Sachkunde zu erwarten ist (vgl. dazu auch Ecker, in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1958, 205). Wenn Leiden zu beurteilen sind, die nicht einem bestimmten ärztlichen Fachgebiet zuzuordnen sind, sondern mehrere Fachrichtungen betreffen, das Gericht aber trotzdem sich mit der Anhörung nur eines Gutachters der einen Fachrichtung begnügen will, dann hat es auch darzulegen, weshalb es glaubt, mit diesem Gutachter auskommen zu können; das gilt um so mehr in Fällen, in denen ein Kläger selbst - wie hier wiederholt geschehen - auf die Notwendigkeit der Begutachtung durch einen Vertreter auch der anderen ärztlichen Fachrichtung - hier durch einen Nervenarzt - hingewiesen hat.

Insoweit ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, warum das LSG nur einen Internisten und nicht auch noch einen Nervenarzt gehört hat; es hat zu den in erster Linie in das nervenärztliche Fachgebiet gehörenden Gesundheitsstörungen der Klägerin nicht Stellung genommen; in den Entscheidungsgründen des Urteils sind sie nicht erwähnt. Dadurch hat das LSG § 128 SGG verletzt; diese Vorschrift schreibt im Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich vor, daß in dem Urteil die für die richterliche Überzeugung leitend gewesenen Gründe anzugeben sind. Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensmangel; es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei richtiger Verfahrensweise anders entschieden hätte. Unter diesen Umständen ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten; sie hängt vom Ausgang des Rechtsstreits ab (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646673

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