Orientierungssatz
Benachrichtigt das LSG einen Beteiligten nicht von der beabsichtigten Beiziehung eines in den Berufsförderungsakten der LVA enthaltenen psychologischen Gutachtens, darf es in dem Termin, in dem der Beteiligte nicht vertreten war, ein dem Beteiligten ungünstiges Urteil nicht erlassen.
Normenkette
SGG §§ 127, 162 Abs. 1 Nr. 2
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. September 1972 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit.
Die Klägerin, die bis 1970 als Beiköchin und Kaltmamsell tätig gewesen war, beantragte am 29. Mai 1970 die Versichertenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 7. Mai 1971 ab, weil die Klägerin nach dem vorliegenden medizinischen Gutachten weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung die Klage mit Urteil vom 28. März 1972 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat am 19. September 1972 - nach Ladung zum Termin - die Berufsförderungsakten der Beklagten, in denen sich ein psychologisches Gutachten vom 22.Dezember 1970 befindet, angefordert, ohne die Klägerin davon zu benachrichtigen. Diese Akten wurden im Termin vom 28. September 1972, in dem die Klägerin weder anwesend noch vertreten war, überreicht. Das LSG hat mit Urteil vom 28. September 1972 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Nach den vorliegenden medizinischen Gutachten sei sie noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten in geschlossenen und temperierten Räumen bei Schutz von Nässe und Kälte ohne häufiges Bücken sowie ohne Tragen von Lasten vollschichtig zu verrichten. Zwar könne sie - entgegen der Ansicht des SG und der Beklagten - nicht auf die Tätigkeiten als Bonkontrolleurin zur Unterstützung eines Leiters von Werkskantinen oder Speiserestaurants und in der Magazinverwaltung in großen Hotel- und Restaurationsbetrieben verwiesen werden, denn - wie aus dem psychologischen Gutachten vom 22. Dezember 1970 zu entnehmen sei - wäre die Klägerin den mit diesen Tätigkeiten verbundenen organisatorischen, planerischen, verwaltungsmäßigen und rechnerischen Aufgaben sowohl nach Kenntnisstand als auch nach Begabung und Konzentrationsvermögen nicht gewachsen. Die Klägerin könne aber auf die ihr vom Arbeitsamt vermittelte Tätigkeit einer Laborhelferin verwiesen werden, mit der sie körperlich nicht überfordert werde und die ihr auch unter Berücksichtigung des beruflichen Werdegangs zumutbar sei.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision angefochten. Sie rügt, das LSG habe ihr keine Gelegenheit gegeben, zu dem psychologischen Gutachten vom 22. Dezember 1970 Stellung zu nehmen. Das sei um so notwendiger gewesen, als das erstinstanzliche Urteil auf dieses Gutachten nicht eingegangen sei. Das LSG habe seine Amtsermittlungspflicht verletzt, denn es hätte sich mit Rücksicht auf das vorliegende psychologische Gutachten, auf die von der Klägerin eingereichten Schriftsätze sowie auf ihr Verhalten im Prozeß gedrängt fühlen müssen, ein ausführliches psychologisches Gutachten von Amts wegen einzuholen. Schließlich habe das LSG seine Amtsermittlungspflicht auch dadurch verletzt, daß es die Einholung einer Arbeitgeberauskunft darüber unterlassen habe, ob die Klägerin die ihr vermittelte Tätigkeit als Laborhelferin nicht nur kurzfristig ausgeübt habe. Die nur kurzfristige Ausübung wäre ein Indiz dafür, daß die Klägerin zur Verrichtung dieser Tätigkeit nicht in der Lage sei.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Bescheides vom 7. Mai 1971 zu verurteilen, ab Mai 1970 Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit anzunehmen und entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen Leistungen zu gewähren;
hilfsweise,
den Rechtsstreit zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie ist der Ansicht, die nicht zugelassene Revision sei auch nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, denn das Berufungsverfahren leide nicht an den von der Klägerin gerügten Mängeln. Das angefochtene Urteil habe aus dem psychologischen Gutachten vom 22. Dezember 1970 einen für die Klägerin günstigen Schluß gezogen, den auch die Klägerin für richtig halte. Zur Einholung eines weiteren psychologischen Gutachtens habe kein Anlaß bestanden, denn die Psychologie ergebe nichts für die Beurteilung der nach den §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) maßgebenden Ursachen für die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. Es sei unerheblich, ob die Klägerin nur kurzfristig als Laborhelferin tätig gewesen sei, denn selbst wenn das zutreffe, könne die Klägerin noch auf eine derartige Tätigkeit verwiesen werden.
II
Die vom LSG nicht zugelassene Revision der Klägerin ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, denn das Berufungsverfahren leidet an einem von der Klägerin gerügten wesentlichen Mangel.
Die Klägerin rügt mit Recht, daß sie keine Gelegenheit hatte, zu dem psychologischen Gutachten vom 22. Dezember 1970 Stellung zu nehmen. Das LSG hat die Berufsförderungsakten der Beklagten, in denen sich dieses Gutachten befindet, erst in der mündlichen Verhandlung vom 28. September 1972, in der die Klägerin weder anwesend noch vertreten war, beigezogen, ohne die Klägerin zu benachrichtigen, daß dies beabsichtigt sei. Es mag dahingestellt bleiben, ob das LSG damit den § 128 Abs. 2 SGG verletzt hat, denn jedenfalls hat es gegen § 127 SGG verstoßen. Zwar hat die Klägerin in ihrer Revisionsbegründung nicht diese Vorschrift, sondern den § 128 Abs. 2 SGG als die verletzte Rechtsnorm bezeichnet. Ihr Vortrag läßt aber deutlich erkennen, daß sie auch die Verletzung des § 127 SGG rügen will. Dem in § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG enthaltenen Erfordernis, die verletzte Rechtsnorm zu bezeichnen, ist genügt, wenn sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen klar ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (vgl. BSG 1, 227). Bei der engen Verbindung zwischen § 128 Abs. 2 und § 127 SGG, die beide Anwendungsfälle des in § 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierten rechtlichen Gehörs enthalten, ist es nicht notwendig, daß neben dem § 128 Abs. 2 SGG auch der § 127 SGG nach Gesetz und Paragraphennummer bezeichnet wird, wenn nur - wie dies im vorliegenden Fall zutrifft - der Vortrag hinreichend den Willen der Revisionsklägerin erkennen läßt, auch die Verletzung dieser Rechtsnorm zu rügen. Die Beiziehung von Akten und die Kenntnisnahme von den darin enthaltenen Urkunden und Gutachten ist eine Beweiserhebung im Sinne des § 127 SGG. Es mag dahingestellt bleiben, ob § 127 SGG auch dann verletzt ist, wenn das Tatsachengericht das Beweismittel, von dessen Erhebung ein Beteiligter keine Kenntnis hatte, im Urteil nicht verwertet (so Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anmerkung zu § 127 SGG). Im vorliegenden Fall hat das LSG die Berufsförderungsakten der Beklagten und insbesondere das darin enthaltene psychologische Gutachten vom 22. Dezember 1970 jedoch im Urteil verwertet. Es ist unerheblich, daß das LSG dieses Gutachten nicht zu Ungunsten der Klägerin berücksichtigt, sondern aus ihm eine für sie günstige Tatsache abgeleitet hat. Sinn des § 127 SGG ist es, den Beteiligten von jeder bevorstehenden Beweisaufnahme Kenntnis zu geben, so daß sie in der Lage sind, ihr beizuwohnen und durch eine kritische Stellungnahme ein günstiges Ergebnis herbeizuführen oder aber ungünstige Schlüsse zu verhindern. Deshalb ist die Vorschrift - unabhängig von dem aus der nicht angekündigten Beweiserhebung gezogenen Schluß - immer schon dann verletzt, wenn in dem Termin ein für den nicht benachrichtigten Beteiligten ungünstiges Urteil ergeht. Die Klägerin hätte, wenn sie im Termin erschienen wäre, auf den Inhalt dieses Gutachtens auch für die Frage, ob sie noch als Laborhelferin tätig sein kann, verweisen und damit das Gericht veranlassen können, insoweit noch andere Ermittlungen anzustellen. Der in der Verletzung des § 127 SGG liegende Verfahrensmangel ist auch stets wesentlich, denn darunter ist jede Verletzung einer zwingenden Verfahrensvorschrift zu verstehen, die aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse erlassen ist (vgl. SozR Nr. 28 zu § 162 SGG). Das trifft aber auf § 127 SGG zu, dessen Verletzung stets gleichzeitig einen Verstoß gegen den in Art. 103 Abs. 1 GG und § 62 SGG geschützten Grundsatz des rechtlichen Gehörs enthält.
Die danach statthafte und zulässige Revision der Klägerin ist auch begründet, denn das angefochtene Urteil beruht auf dem von der Klägerin gerügten wesentlichen Verfahrensmangel. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der Entscheidung im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG ist schon dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften richtig angewandt hätte (vgl. SozR Nr. 29 zu § 162 SGG). Die danach ausreichende Möglichkeit einer anderen Entscheidung kann im vorliegenden Fall nicht verneint werden. Es kann, wie bereits ausgeführt, nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin das LSG durch ihren Vortrag oder entsprechende Anträge dazu veranlaßt hätte, anders zu entscheiden oder jedenfalls weitere Beweise zu erheben, wenn das Gericht ihr Gelegenheit gegeben hätte, zu den Berufsförderungsakten und insbesondere zu dem psychologischen Gutachten Stellung zu nehmen. Möglicherweise hätte die Klägerin das LSG veranlaßt, ihre psychische Eignung zur Verrichtung der Verweisungstätigkeit als Laborhelferin unter Berücksichtigung des psychologischen Gutachtens vom 22. Dezember 1970 zu prüfen.
Durch die Verletzung des § 127 SGG ist den Tatsachenfeststellungen des LSG die Grundlage entzogen. Da der Senat die fehlenden Tatsachenfeststellungen nicht nachholen kann, hat er das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung war dabei dem abschließenden Urteil vorzubehalten.
Fundstellen