Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör. Gerichtskundigkeit. Erwerbsunfähigkeit

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Statthaftigkeit einer nicht zugelassenen Revision, wenn das Urteil des LSG auf einem wesentlichen Mangel des Verfahrens beruht.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 09.05.1973; Aktenzeichen L 2 J 141/72)

SG Hannover (Entscheidung vom 07.08.1972; Aktenzeichen S 4 J 169/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Mai 1973 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO zusteht.

Die im Jahre 1920 geborene Klägerin, die als Zähler-Montiererin tätig gewesen war, beantragte am 15. November 1971 die Versichertenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 14. Februar 1972 ab, weil die Klägerin unter Berücksichtigung der vorliegenden medizinischen Gutachten nicht berufsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung mit Urteil vom 7. August 1972 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit vom Beginn der 27. Woche an nach einem am 13. Februar 1971 eingetretenen Versicherungsfall bis zum 28. Februar 1973 zu zahlen. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Die Beklagte hat dieses Urteil mit der Berufung angefochten. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach weiterer Beweiserhebung mit Urteil vom 9. Mai 1973 das Urteil des SG abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Es ist davon ausgegangen, daß die Klägerin zwar ihre frühere ganztätige Tätigkeit als Zähler-Montiererin nicht mehr ausüben könne, wohl aber Teilzeitbeschäftigungen für täglich 5-6 Stunden ähnlicher Art, zB als Sortiererin, Packerin, Kontrolleurin oder ähnliche Tätigkeiten, durch die sie noch mindestens den halben Lohn einer vergleichbaren voll leistungsfähigen Versicherten verdienen könne. Solche vorwiegend im Sitzen zu verrichtenden Tätigkeiten böten auch Gelegenheit, die Beine während der Arbeit durch eine Fußbank oder ähnliches erhöht zu lagern. Da die Klägerin in einer mittelgroßen Stadt mit entsprechenden öffentlichen Verkehrsmitteln wohne, könne sie mit einem medizinisch noch zumutbaren Fußweg von etwa 10 Minuten zum Arbeitsplatz oder zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels auch den notwendigen Anmarschweg zurücklegen. Ob geeignete Arbeitsplätze frei seien und Arbeitgeber die Klägerin einstellen würden, sei nicht von der Rentenversicherung zu vertreten.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision angefochten. Sie rügt verschiedene Mängel des Berufungsverfahrens:

1) Das LSG habe § 360 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der nach § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entsprechend anwendbar sei, verletzt. Die Ladung zum Termin vom 9. Mai 1973 enthalte den Hinweis, daß sie es dem Gericht sofort mitzuteilen habe, wenn die Benutzung eines Mietautos erforderlich sei. Daraufhin habe sie ein ärztliches Attest vorgelegt, wonach es ihr Gesundheitszustand nicht zulasse, zur Anreise nach Celle öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Gleichwohl habe das LSG keinerlei Anweisung erteilt, was nun geschehen solle. Es habe vielmehr - ohne Anhörung der Klägerin - im Termin vom 9. Mai 1973 verhandelt und entschieden, obwohl es seine Beweisanordnung nicht aufgehoben habe und auch im Urteil mit keinem Wort darauf eingegangen sei, warum von der Anhörung der Klägerin Abstand genommen wurde.

2) Möglicherweise liege in der Nichtbefolgung des sich selbst gestellten Beweiszieles auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Klägerin habe sich darauf verlassen, daß sie dem Gericht durch ihr Erscheinen und ihren persönlichen Eindruck eine bestimmte Überzeugungsbildung ermöglichen solle. Dadurch, daß sie vom Gericht die in Aussicht gestellte Nachricht nicht bekam, habe in ihr der Eindruck entstehen müssen, daß der Termin überhaupt nicht stattfinden werde.

3) Das Berufungsgericht wäre zu einem anderen Ergebnis gekommen, wenn es einen persönlichen Eindruck von ihrem Zustand gewonnen hätte.

4) Das LSG habe die ihm obliegende Amtsermittlungspflicht verletzt.

a) Die Ansicht des LSG, ob geeignete Arbeitsplätze frei seien und ob Arbeitgeber die Klägerin einstellen würden, sei nicht von der Rentenversicherung zu vertreten, verstoße gegen die Grundsätze, die der Große Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellt habe. Es wäre Aufgabe des LSG gewesen, die Frage vorhandener Arbeitsplätze eingehend zu prüfen.

b) Obwohl die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nur noch einen zumutbaren Fußweg von etwa 10 Minuten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurücklegen könne, habe das LSG sich mit der Feststellung begnügt, sie könne mit einem zumutbaren Fußweg von 10 Minuten zum Arbeitsplatz oder zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels auch den notwendigen Anmarschweg zurücklegen, da sie in einer mittelgroßen Stadt mit entsprechenden öffentlichen Verkehrsmitteln wohne. Es sei nicht ersichtlich, woher das LSG diese Kenntnis habe. Das Berufungsgericht hätte die Quellen seiner Kenntnis angeben müssen.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. August 1972 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen;

hilfsweise,

die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückzuverweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, daß keiner der gerügten Verfahrensmängel vorliege, so daß die nicht zugelassene Revision unstatthaft sei. Im übrigen sei das angefochtene Urteil auch im Ergebnis und in der Begründung richtig. Teilzeitarbeiten für Frauen seien in einer Reihe von Arbeitsbereichen vorhanden, die der Klägerin zugänglich seien. Dazu gehörten neben den vom LSG genannten Tätigkeiten auch leichte Verwaltungsarbeiten (zB Karteiführung) und Tätigkeiten in Fabrikationsbetrieben (zB in der Lebensmittel- und Süßwarenindustrie sowie im Textilgewerbe). Sollte die Klägerin verkehrsungünstig wohnen, so sei ihr ein Umzug jedenfalls innerhalb der Stadt zuzumuten.

 

Entscheidungsgründe

Die vom LSG nicht zugelassene Revision der Klägerin ist nach dem noch anwendbaren § 162 Abs 1 Nr 2 SGG aF statthaft und auch begründet, denn das angefochtene Urteil beruht auf einem von der Klägerin gerügten wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens.

Die Feststellung des LSG, die Klägerin könne den notwendigen Anmarschweg zu einer in Frage kommenden Arbeitsstelle mit einem medizinisch noch zumutbaren Fußweg von etwa 10 Minuten zum Arbeitsplatz oder zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zurücklegen, ist verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Da das LSG keinen Beweis darüber erhoben hat, ob im Umkreis von 10 Gehminuten in Betracht kommende Arbeitsplätze oder Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel vorhanden sind, hätte es angeben müssen, worauf diese Kenntnis beruht. Zwar kann das Tatsachengericht auch ohne Beweiserhebung aus eigener Kenntnis Tatsachen feststellen; jedoch müssen auch gerichtskundige Tatsachen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden (vgl BSG 22, 19; SozR Nr 91 zu § 128 SGG; Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1974 - 5 RJ 14/73 -; Urteil des 12. Senats vom 30. April 1972 - 12 RJ 314/74 -; Beschluß des 12. Senats vom 26. Juni 1975 - 12 BJ 8/75 -). Tritt die Gerichtskundigkeit an die Stelle einer an sich erforderlichen Beweisaufnahme, so müssen die Beteiligten nach § 128 Abs 2 SGG Gelegenheit haben, sich dazu zu äußern. Die den Beteiligten nicht mitgeteilte Gerichtskundigkeit einer Tatsache kann im Urteil nicht verwertet werden. Da das LSG die ohne Beweiserhebung festgestellte Tatsache in das Verfahren eingeführt hat, ohne die Beteiligten auf die Quellen seiner Kenntnis hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern, hat es gegen Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes, § 62 SGG und § 128 Abs 2 SGG verankerten Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen.

Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem von der Klägerin gerügten wesentlichen Verfahrensmangel. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der Entscheidung im Sinne des § 162 Abs 2 SGG ist schon dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei richtiger Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften anders entschieden hätte (vgl SozR Nr 29 zu § 162 SGG). Die danach ausreichende Möglichkeit einer anderen Entscheidung kann im vorliegenden Fall nicht verneint werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin das LSG durch ihren Vortrag dazu veranlaßt hätte, anders zu entscheiden oder jedenfalls weitere Beweise zu erheben, wenn ihr Gelegenheit gegeben worden wäre, zu der vom LSG aufgrund der Gerichtskunde festgestellten Tatsache Stellung zu nehmen. Zwar hat das LSG angenommen, es sei nicht von der Rentenversicherung zu vertreten, ob geeignete Arbeitsplätze frei seien und ob Arbeitgeber die Klägerin einstellen würden. Damit hat das LSG aber nur die Frage der freien Arbeitsplätze, nicht aber die Frage für materiell-rechtlich bedeutungslos angesehen, ob es in erreichbarer Nähe der Klägerin überhaupt Arbeitsplätze - besetzt oder unbesetzt - gibt. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins geeigneter Arbeitsplätze hat das LSG vielmehr für materiell-rechtlich bedeutungsvoll gehalten, denn sonst hätte es die Erreichbarkeit solcher Arbeitsplätze mit einem Gehweg von 10 Minuten nicht zu prüfen brauchen.

Da die Revision schon wegen des mangelnden rechtlichen Gehörs zulässig und begründet ist, kann es dahin gestellt bleiben, ob andere - von der Klägerin gerügte - Verfahrensmängel vorliegen. Der Senat hat das angefochtene Urteil aufgehoben und - da die übrigen Tatsachenfeststellungen zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen - den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651674

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