Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 02.03.1988) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. März 1988 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis hat.
Der am 3. März 1965 geborene Kläger ist türkischer Staatsbürger. Er reiste am 26. September 1979 in die Bundesrepublik Deutschland ein und lebte von da an bei dem Bruder seines Vaters in W. … …, der dort bei der Stadt als Gärtner beschäftigt war. Nachdem der Onkel eine notarielle Verpflichtungserklärung abgegeben hatte, für alle Lebensbedürfnisse seines Neffen aufzukommen, wurde dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 15. Juli 1981 erteilt, die später mehrfach bis zuletzt zum 3. November 1988 verlängert wurde. In der Zeit vom 11. Januar 1982 bis zum 22. Juli 1983 besuchte der Kläger eine Teilzeitberufsschule, die er dann aber auf eigenen Wunsch verließ.
Unter dem Datum vom 12. Juni 1984 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Arbeitserlaubnis für eine Beschäftigung als Bauhelfer bei der Firma M. … in W. …. Er hatte dort bereits im Jahr 1984 unerlaubt gearbeitet, nachdem er mehrfach vergeblich um eine Arbeitserlaubnis nachgesucht hatte.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab (Bescheid vom 13. August 1984; Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 1984), da für die angestrebte Tätigkeit genügend bevorrechtigte Arbeitsuchende zur Verfügung stünden und ein Härtefall nicht gegeben sei.
Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) W. … die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine besondere Arbeitserlaubnis zu erteilen (Urteil vom 15. Oktober 1985). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. März 1988). Die Beklagte habe zu Recht die vom Kläger begehrte allgemeine Arbeitserlaubnis unter Hinweis auf die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes abgelehnt, da der Kläger weder eine Berufsausbildung, noch besondere berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten nachgewiesen habe, die ein besonderes Interesse der Arbeitgeberin belegen könnten, gerade ihn anderen Arbeitnehmern vorzuziehen. Die Erteilung einer besonderen Arbeitserlaubnis käme ebenfalls nicht in Betracht, da die tatsächlichen Voraussetzungen des § 2 der Arbeitserlaubnisverordnung – ArbErlaubV – nicht gegeben seien. Insbesondere bedeute die Versagung der Arbeitserlaubnis keine Härte. Ein langjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland reiche dazu nicht aus. Die Bindung zum Onkel sei nicht so stark, daß eine Trennung als Härte verstanden werden könne. Aus den Vorschriften des Beschlusses Nr 1/80 des Assoziationsrates EG-Türkei könne ebenfalls kein anderes Ergebnis hergeleitet werden.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der zugelassenen Revision angefochten. Er macht ua geltend, daß LSG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt, weil es bezüglich der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes ohne eigene Überprüfungen und Feststellungen einfach die Angaben der Beklagten aus dem Jahr 1984 übernommen habe. Er sei höher qualifiziert als ein normaler Bauhelfer. Durch die Tätigkeit bei der Firma M. … nehme er keinem Arbeitsuchenden einen Arbeitsplatz weg, der beim Arbeitsamt gemeldet sei. Die Stadt W. … habe ihm inzwischen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, so daß er seine ebenfalls in Deutschland aufgewachsene Ehefrau nachkommen lassen konnte. Außerdem sei die Situation seiner Ehefrau nicht hinreichend aufgeklärt und zu Unrecht gegen statt für das Vorliegen einer Härte iS von § 2 Abs 6 ArbErlaubV gewertet worden.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des LSG vom 2. März 1988 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine besondere Arbeitserlaubnis in gesetzlichem Umfang zu erteilen,
hilfsweise,
dem Kläger eine allgemeine Arbeitserlaubnis für eine Beschäftigung als Bauhelfer bei der Firma R. M. … Bau GmbH W. …, zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz.
Nach § 19 Abs 1 Satz 1 AFG benötigen alle Arbeitnehmer, die nicht Deutsche im Sinne des Art 116 Grundgesetz (GG) sind, zur Ausübung einer Beschäftigung einer Erlaubnis, soweit in zwischenstaatlichen Vereinbarungen nichts anderes bestimmt ist. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrfach entschieden hat, gilt dies auch für türkische Arbeitnehmer, denn für diese sind gegenwärtig keine Ausnahmen vorgesehen. Insbesondere läßt sich aus dem Beschluß Nr 1/80 des Rates der Assoziation zwischen der EWG und der Türkei kein Anspruch auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis ableiten, denn ihm kommt keine unmittelbare Geltung im Rechtsraum der Europäischen Gemeinschaft bzw eines Mitgliedstaates zu (BSGE 60, 230, 234; BSG-Urteil vom 22. September 1988 – 7 RAr 108/87 – mwN).
Bei der Prüfung, ob dem Kläger die erforderliche Arbeitserlaubnis zu erteilen ist, ist das LSG zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß die Voraussetzungen des § 19 Abs 4 AFG iVm § 2 Abs 2 ArbErlaubV nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift ist eine besondere Arbeitserlaubnis für Kinder von Ausländern zu erteilen, die sich rechtmäßig im Geltungsbereich dieser Verordnung aufhalten, wenn sie vor Vollendung des 18. Lebensjahres ihren Eltern oder einem Elternteil in die Bundesrepublik Deutschland gefolgt sind und hier bestimmte allgemeinbildende oder berufsbildende Abschlüsse erworben haben oder einen Ausbildungsvertrag für eine Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf abschließen. Bereits die Grundvoraussetzung, daß der Kläger seinen Eltern in den Geltungsbereich der Verordnung gefolgt sein muß, fehlt. Der Zuzug zu einem Onkel steht dem Zuzug zu den Eltern nicht gleich (BSG SozR 4100 § 40 Nr 29). Nach den insoweit mit der Revision nicht angefochtenen Feststellungen des LSG ergeben sich auch keine Hinweise, daß eine der in § 2 Abs 2 Nrn 1 bis 3 ArbErlaubV genannten Voraussetzungen erfüllt sein könnte.
Das LSG wird jedoch weitere Feststellungen dazu treffen müssen, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs 6 ArbErlaubV gegeben sind. Nach dieser Vorschrift kann eine besondere Arbeitserlaubnis unabhängig von der weiteren Entwicklung des Arbeitsmarktes und vom Vorliegen der Voraussetzung des § 2 Abs 1 bis 3 ArbErlaubV erteilt werden, wenn die Versagung nach den besonderen Verhältnissen des Arbeitnehmers eine Härte bedeuten würde. Wie sich aus dem Wortlaut ergibt, steht die Härteregelung des Abs 6 im inneren Zusammenhang mit den in den Abs 1 bis 3 erfaßten Fallgruppen und der dort zum Ausdruck gekommenen sozialen Wertung. Es handelt sich um eine Auffangklausel, die Fälle erfassen will, die mit denen in den Abs 1 bis 3 umschriebenen Fallgruppen nach der sozialen Wertigkeit vergleichbar sind (BSG SozR 4100 § 19 Nr 16 S 61; Nr 17 S 69). Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Härte ist daher der Zweck der besonderen Arbeitserlaubnis zu beachten, der im wesentlichen darin besteht, aus sozialen Gründen die Arbeitsaufnahme des Ausländers zu ermöglichen, obwohl dies dem Vorrang der deutschen und der ihnen gleichgestellten ausländischen Arbeitnehmer widerspricht. Es sind hierbei vor allem die Grundrechte und die in ihnen zum Ausdruck gekommene Wertordnung zu beachten (BSG SozR 4100 § 19 Nr 16 S 61).
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ergeben sich aus einem langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland allein keine besonderen Verhältnisse, die einen Härtefall begründen könnten (BSG SozR 4100 § 19 Nr 16 S 61). Etwas anderes kann im Einzelfall gelten, wenn der ausländische Arbeitnehmer aufgrund seines langjährigen legalen Aufenthalts im Bundesgebiet in seiner Heimat keine hinreichende Existenz mehr zu finden vermag. Ebenso kann eine Härte gegeben sein, wenn der betreffende ausländische Arbeitnehmer aufgrund des langjährigen Aufenthalts mit den hiesigen Lebensverhältnissen so fest verwurzelt ist, daß ihm eine Rückkehr in die Heimat nicht zugemutet werden kann (BSG SozR 4100 § 19 Nr 16 S 62, 64; Nr 17 S 69; BSG Urteil vom 22. September 1988 – 7 RAr 108/87 –).
Anhaltspunkte dafür können sich aus den Familienverhältnissen des Antragstellers ergeben. Dabei kann auch die Bindung an die Familie des Onkels bedeutsam sein, selbst wenn sie für eine Erteilung der Arbeitserlaubnis nach § 2 Abs 2 ArbErlaubV nicht ausreicht. Ferner sind die Situation und die Bindungen der Ehefrau des Klägers für die Beurteilung heranzuziehen. Eine besondere Härte kann vorliegen, wenn insgesamt infolge des bisherigen Aufenthalts beider Ehepartner in der Bundesrepublik Deutschland eine Lebenssituation erreicht ist, in der die Familieneinheit angemessen nur in Deutschland verwirklicht werden kann, so daß dem Antragsteller der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht werden muß (BSG SozR 4100 § 19 Nr 16 S 64).
Insoweit hat der Kläger zutreffend gerügt, daß das LSG die Situation seiner Ehefrau nicht ausreichend ermittelt hat und dadurch im Rahmen der Prüfung, ob eine Härte vorliegt, möglicherweise von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. Diese Prüfung muß sich nämlich auf den Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung erstrecken (BSG SozR 4210 § 2 Nr 10).
Der Kläger begehrt hilfsweise eine allgemeine Arbeitserlaubnis nach § 19 AFG iVm § 1 ArbErlaubV. Gemäß § 19 Abs 1 Satz 2 AFG wird die Erlaubnis nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung der Verhältnisse des einzelnen Falles erteilt. Sie kann nach § 1 Abs 1 ArbErlaubV für eine bestimmte berufliche Tätigkeit in einem bestimmten Betrieb oder ohne Beschränkung auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit und ohne Beschränkung auf einen bestimmten Betrieb erteilt werden. Die vom Berufungsgericht dazu getroffenen Feststellungen lassen aber ebenfalls noch keine abschließende Entscheidung zu.
Bei der Entscheidung, ob Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes einer Arbeitserlaubnis entgegenstehen, ist zu prüfen, ob der begehrte Arbeitsplatz nicht durch überörtliche Vermittlung deutscher oder ihnen gleichgestellter ausländischer Arbeitnehmer angemessen und unverzüglich besetzt werden kann. Dies folgt aus dem Zweck der Bestimmungen über die Arbeitserlaubnispflicht, der darin besteht, deutschen und ihnen gleichgestellten ausländischen Arbeitnehmern bei der Vermittlung einen Vorrang einzuräumen (BSGE 43, 153, 160; BSG SozR 4100 § 19 Nr 5 S 25). Damit soll das Tätigwerden von Ausländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt kontrolliert und verhindert werden, daß deutsche und andere bevorrechtigte Arbeitnehmer von ihren Arbeitsplätzen verdrängt werden. Die Arbeitserlaubnis kann danach regelmäßig versagt werden, wenn in der Berufsgruppe, der der Antragsteller angehört, ein das mehrfache betragender Überhang von deutschen oder bevorrechtigten Arbeitsuchenden gegenüber offenen Stellen besteht (BSG SozR 4100 § 19 Nr 3 S 20; SozR 4100 § 103 Nr 10 S 24). Das LSG ist von einem Überhang bevorrechtigter Arbeitsuchender gegenüber offenen Stellen ausgegangen. Diese Schlußfolgerung hat es aus dem Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1984 gezogen, wonach insgesamt 78 Personen arbeitslos gemeldet waren, die für die Tätigkeit bei der Firma M. … in Frage kamen. Dies ist aber keine ausreichende Grundlage für die hier zu treffende Entscheidung. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Überhang besteht und daher die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes einer Arbeitserlaubnis entgegensteht, kommt es nämlich auf die Umstände im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung an (BSG SozR 4100 § 19 Nr 17 S 66; SozR 4210 § 2 Nr 10 S 14). Entscheidend waren daher nicht die Verhältnisse, die im Jahr 1984 vorlagen, sondern die Verhältnisse im März 1988. Das LSG hat nicht ausgeführt, daß die Verhältnisse zu dieser Zeit gegenüber 1984 unverändert geblieben sind. Darüber hinaus sind nunmehr auch die Verhältnisse in der Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung nach der Zurückweisung zu prüfen.
Ferner müssen neben der gegenwärtigen Lage auch die voraussehbaren oder zu erwartenden Entwicklungen des Arbeitsmarktes berücksichtigt werden (BSG SozR 4100 § 19 Nr 2 S 10; Gagel § 19 RdNr 16). Dies wird in § 19 Abs 1 Satz 2 AFG und in § 1 Abs 1 ArbErlaubV ausdrücklich bestimmt. Hierzu fehlen ebenfalls ausreichende Feststellungen des LSG. Die Zahlen aus dem Jahr 1984 lassen keinen Schluß auf die im Jahr 1988 oder später zu erwartende Entwicklung des Arbeitsmarktes zu.
Neben der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes sind ferner die Verhältnisse des Einzelfalles zu berücksichtigen. Der Vorrang deutscher und ihnen gleichgestellter Arbeitnehmer wird nicht berührt, wenn der Arbeitgeber aus besonderen objektiv und sachlich gerechtfertigten Gründen, deren Berücksichtigung mit dem Zweck des § 19 AFG übereinstimmt, gerade diesen Arbeitsuchenden beschäftigen will (BSG SozR 4100 § 19 Nr 5 S 25; Gemeinschaftskommentar zu § 19 RdNr 47). Auch diese Voraussetzungen müssen bei erneuter Entscheidung bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung überprüft werden.
Eine Arbeitserlaubnis muß im Einzelfall auch dann erteilt werden, wenn sich nachweislich ergibt, daß der Arbeitgeber trotz entgegenstehender allgemeiner Arbeitsmarktsituation auch bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten keinen geeigneten deutschen oder bevorrechtigten Arbeitnehmer für einen bestimmten Arbeitsplatz findet (BSG SozR 4100 § 19 Nr 17). Das LSG hat das Vorliegen dieser Voraussetzung ebenfalls verneint. Grundlage dieser Schlußfolgerung war die Aussage des Zeugen M. … vom 15. Oktober 1985 vor dem SG. Dieser hatte damals ausgesagt, daß er zwar keinen Vermittlungsauftrag bei der Beklagten gestellt, aber durch Zeitungsinserate großen Erfolg gehabt habe. Dieser Aussage kann nicht entnommen werden, ob der Arbeitgeber im März 1988 ebenfalls genügend geeignete Arbeitskräfte finden konnte.
Im Ergebnis kann somit nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden, ob dem Kläger nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung eine Arbeitserlaubnis nach § 19 AFG iVm § 1 ArbErlaubV zustand.
Die Sache war deshalb an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen