Leitsatz (amtlich)
Das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen steht den in WGSVG § 10 Abs 3 genannten Angehörigen des Verfolgten auch dann zu, wenn der Verfolgte während der Zeit vom 1971-02-01 bis zum 1972-01-31 gestorben ist.
Leitsatz (redaktionell)
Hinterbliebene von Versicherten, in deren Person bis zu ihrem Tode die Voraussetzungen zur Nachentrichtung von Beiträgen nach WGSVG §§ 9, 10 erfüllt waren, sind zur Nachentrichtung zuzulassen.
Normenkette
WGSVG § 9 S. 1 Fassung: 1970-12-22, § 10 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1970-12-22, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1970-12-22; BGB § 1922 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18; WGSVG § 10 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-22
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. September 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, nach § 10 Abs. 3 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) i. d. F. des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes (WGSÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) Beiträge nachzuentrichten.
Die Klägerin ist die Witwe des am 18. Juni 1971 verstorbenen Versicherten Lothar G. Der Versicherte gehörte zu dem Personenkreis der Verfolgten des Nationalsozialismus i. S. des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Für ihn sind Pflichtbeiträge zur deutschen Angestelltenversicherung für die Zeit von August 1931 bis Juli 1933 nachgewiesen. Die Anschlußzeit bis Dezember 1949 wurde als Verfolgtenersatzzeit anerkannt.
Am 24. Januar 1973 beantragte die Klägerin, sie auf Grund der Regelungen des WGSVG zur Nachentrichtung von Beiträgen zuzulassen. Die Beklagte lehnte dies ab. Sie begründete ihre Entscheidung u. a. damit, der Versicherte sei nicht vor, sondern nach dem Inkrafttreten des WGSVG verstorben. Daher fehle es an einer Voraussetzung nach § 10 Abs. 3 WGSVG (Bescheid vom 2. April 1973). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. September 1973). Der Klage mit dem Ziel einer Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen hat das Sozialgericht (SG) Berlin stattgegeben. (Urteil vom 29. April 1974). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 30. September 1975).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 10 WGSVG.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Berlin vom 29. April 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Die Beklagte ist verpflichtet, die Klägerin zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zuzulassen. Mit Recht hat das LSG festgestellt, daß die Voraussetzungen für eine Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 9, 10 WGSVG in der Person des Versicherten bis zu dessen Tod erfüllt waren. Die allein zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob die Klägerin nach dem Tode des Versicherten berechtigt war, Beiträge nachzuentrichten, ist indes nicht unmittelbar dem Wortlaut des Gesetzes zu entnehmen. Nach § 10 Abs. 3 WGSVG können der überlebende Ehegatte und die waisenrentenberechtigten Kinder Beiträge nach Maßgabe der Absätze 1 und 2 dieser Vorschrift nachentrichten, wenn der Verfolgte i. S. des § 9 WGSVG vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes verstorben ist. Die Möglichkeit zu einer Nachentrichtung von Beiträgen im Falle des Todes eines Verfolgten in der Zeit vom 1. Februar 1971 bis zum 31. Januar 1972 hat der Gesetzgeber, wie sich insbesondere aus einer Gegenüberstellung der Regelungen der Absätze 1 und 3 des § 10 WGSVG ergibt, nicht ausdrücklich vorgesehen. Eine Auslegung des § 10 Abs. 3 WGSVG dahingehend, daß das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen den in dieser Vorschrift genannten Angehörigen auch dann zustehen soll, wenn der Verfolgte während der Zeit vom 1. Februar 1971 bis zum 31. Januar 1972 gestorben ist, scheitert - insoweit ist der Revision zu folgen - an dem eindeutigen Wortlaut dieser Bestimmung (zu den Grenzen einer Auslegung vgl. BSG Urteil vom 18. September 1973 - 12 RK 5/73 - SozR Nr. 23 zu § 3 AVG mit weiteren Nachweisen).
Dennoch hat das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden. Die Regelung des § 10 Abs. 3 WGSVG ist nämlich unvollständig. Sie betrifft nur die Frage, ob und in welchem Umfang Hinterbliebene zu einer Nachentrichtung von Beiträgen im Falle des Todes eines Versicherten vor dem Inkrafttreten des WGSVG berechtigt sind. Die an sich näher liegende Frage, welche Rechte Hinterbliebene haben sollen, wenn der Versicherte selbst bereits das Recht zu einer Nachentrichtung von Beiträgen erworben hat, jedoch nicht mehr dazu gekommen ist, dieses Recht auszuüben, ist ungeregelt geblieben. Allerdings könnte daran gedacht werden, in der Vorschrift des § 10 Abs. 3 WGSVG auch den Ausdruck einer die Hinterbliebenen eines Versicherten betreffenden Risikoverteilung zu sehen, etwa in dem Sinn, daß die Nachteile der Nichtausübung eines bereits erworbenen Rechts zur Nachentrichtung von Beiträgen die Hinterbliebenen eines Versicherten in jedem Falle treffen sollten. Bei einem solchen Gesetzesverständnis müßte § 10 Abs. 3 WGSVG als abschließende Regelung des Rechts der Hinterbliebenen zur Nachentrichtung von Beiträgen verstanden werden. Die Annahme, diese Vorschrift enthalte auch eine - negative - Regelung für den Fall der Nichtausübung eines bereits erworbenen Rechts, wäre jedoch nur schwer mit dem Umstand zu vereinbaren, daß der Gesetzgeber dem Versicherten in § 10 Abs. 1 Satz 2 WGSVG für seine Entscheidung darüber, ob er Beiträge nachentrichten wollte oder nicht, eine einjährige Überlegungsfrist eingeräumt hat. Er hat nämlich damit zugleich zum Ausdruck gebracht, daß innerhalb dieser Frist das versicherungsrechtliche Risiko zugunsten des Versicherten verschoben werden dürfe, wenn innerhalb der Überlegungsfrist, aber noch vor einer Nachentrichtung von Beiträgen der Versicherungsfall bereits eingetreten war. Diese - nicht am Versicherungsprinzip orientierte - gesetzgeberische Entscheidung muß sich zwangsläufig auch zugunsten der in § 10 Abs. 3 WGSVG bezeichneten Hinterbliebenen jedenfalls insoweit auswirken, als sie nach allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen Vergünstigungen aus der sozialversicherungsrechtlichen Lage des Versicherten herleiten können. Angesichts dieser sehr weitgehenden Regelung liegt daher die Auffassung näher, daß der Gesetzgeber mit der Regelung des § 10 WGSVG allgemein auch eine sozialversicherungsrechtliche Besserstellung der Hinterbliebenen eines Verfolgten angestrebt hat. Diese Besserstellung ist lediglich nach § 10 Abs. 1 WGSVG eingeschränkt: Sie ist zu Lebzeiten des Versicherten von dessen Entscheidung, im übrigen von derjenigen seiner in § 10 Abs. 3 WGSVG genannten Hinterbliebenen abhängig. Es ist kein Grund zu sehen, warum die Hinterbliebenen eines Versicherten, der bereits selbst zu einer Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 Abs. 1 WGSVG berechtigt, jedoch infolge seines Todes innerhalb der Frist für eine Nachentrichtung von Beiträgen an der Ausübung dieses Rechts gehindert war, schlechter gestellt werden sollen als diejenigen eines Versicherten, der noch nicht einmal selbst das Recht zu einer Nachentrichtung von Beiträgen i. S. des § 10 Abs. 1 WGSVG erworben hatte, weil er bereits vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes verstorben war. Die Gleichstellung von Hinterbliebenen eines in der Zeit vom 1. Februar 1971 bis zum 31. Januar 1972 verstorbenen Versicherten mit den in § 10 Abs. 3 WGSVG genannten Angehörigen ist allerdings nicht bereits deshalb geboten, weil die Berechtigung des Versicherten aus § 10 Abs. 1 WGSVG zur Nachentrichtung von Beiträgen nach seinem Tode auf seine Angehörigen übergegangen ist. § 10 Abs. 3 WGSVG betrifft nicht den Fall einer Rechtsnachfolge. Vielmehr stellt diese Vorschrift, wie bereits erwähnt, eine Ausnahme von allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen dar. Noch nach dem Eintritt des Versicherungsfalls kann das Versicherungsrisiko verändert werden; ferner ist, was hier von Bedeutung ist, die Gestaltung des Versicherungsverhältnisses nicht dem Versicherten, sondern nach seinem Tode bestimmten Angehörigen eröffnet. Das Recht der Hinterbliebenen i. S. des § 10 Abs. 3 WGSVG ist also nicht aus der Rechtsstellung des Versicherten im Wege allgemeiner Rechtsnachfolge (§§ 1922 ff des Bürgerlichen Gesetzbuchs) abgeleitet. Vielmehr handelt es sich um ein vom Gesetz unmittelbar (originär) begründetes Recht. Die Notwendigkeit zu einer rechtsähnlichen Anwendung des § 10 Abs. 3 WGSVG auf Fallgestaltungen der vorliegenden Art ergibt sich jedoch aus dem dieser Regelung zugrunde liegenden Zweck. Mit dem WGSVG wollte der Gesetzgeber die schon bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bestehenden Möglichkeiten zu einer Wiedergutmachung des Schadens, den die Opfer des Nationalsozialismus in ihren Ansprüchen aus der Sozialversicherung erlitten haben, erweitern und verbessern. Dabei sollte die mit dem WGSVG verfolgte Reform in erster Linie eine stärkere soziale Sicherung der Verfolgten in der Sozialversicherung durch die Gewährung eines Rechts zur Nachentrichtung von Beiträgen herbeiführen. Die beabsichtigte Wiedereingliederung der Verfolgten in das System der deutschen Rentenversicherung wäre jedoch unvollständig gewesen, wenn sie sich nicht auch auf die in der Rentenversicherung üblicherweise begünstigten Hinterbliebenen eines Versicherten bezogen hätte (vgl. Art. I § 4 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil -). Deshalb hat der Gesetzgeber, wie aus den Materialien zu entnehmen ist, mit dem WGSVG auch einen Ausgleich von Nachteilen angestrebt, die den Hinterbliebenen eines Verfolgten durch die Verfolgung in ihren Ansprüchen aus der Sozialversicherung entstanden sind (vgl. BT-Drucks. VI/715, Begründung I, Allgemeiner Teil, S. 8 unter 1 a und 2). Das vom Gesetzgeber verfolgte umfassende Ziel, mit den WGSVG auch den Hinterbliebenen eines Verfolgten sozialversicherungsrechtliche Wiedergutmachung zu leisten, läßt es nicht zu, diese Wiedergutmachung auf die in § 10 Abs. 3 WGSVG genannten Fallgestaltungen zu begrenzen. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß der Tod des Versicherten kein Hindernis für einen sozialversicherungsrechtlichen Ausgleich von Verfolgungsschäden gegenüber den Hinterbliebenen sein sollte. Außerdem läßt diese Vorschrift erkennen, daß ein sozialversicherungsrechtlicher Ausgleich innerhalb eines Jahres nach dem Inkrafttreten des WGSVG selbst dann noch ermöglicht sein sollte, wenn der Versicherungsfall bereits eingetreten war. Diese sehr weitgehende Regelung ist nicht durch allgemeine Grundsätze des Sozialversicherungsrechts, sondern durch den Gedanken der Wiedergutmachung geprägt. Im Hinblick auf die ohne weitere Vorbehalte ausgesprochene Absicht des Gesetzgebers, auch sozialversicherungsrechtliche Nachteile von Hinterbliebenen eines Verfolgten auszugleichen, ist die Regelung des § 10 Abs. 3 WGSVG auch auf Fallgestaltungen der vorliegenden Art entsprechend anzuwenden. Wenn die Beklagte demgegenüber meint, nach der sprachlichen Fassung der Absätze 1 und 3 des § 10 WGSVG sei zwischen den Versicherungsfällen der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit sowie des Alters einerseits und dem Versicherungsfall des Todes andererseits zu unterscheiden, und zwar in dem Sinne, daß für Versicherungsfälle des Todes ein anderer Stichtag als für die übrigen Versicherungsfälle gelten solle, so hat sie hierfür allenfalls nur die sprachliche Fassung des § 10 WGSVG für sich. Einen einsichtigen Grund dafür, warum zwischen den verschiedenen Versicherungsfällen hinsichtlich der Stichtagsregelung unterschieden werden sollte, vermag auch die Beklagte nicht anzuführen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen