Leitsatz (amtlich)
Eine Elternrente darf in der Regel nicht bis zu einem längere Zeit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt begrenzt werden.
Normenkette
RVO § 596 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
SG Duisburg (Entscheidung vom 26.10.1977; Aktenzeichen S 17 U 124/76) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 26. Oktober 1977 aufgehoben soweit die Beklagte verurteilt worden ist, den Klägern spätestens im Oktober 1981 einen Bescheid darüber zu erteilen, ob Elternrente über den 31. Oktober 1981 hinaus zusteht. Insoweit wird die weitergehende Klage abgewiesen. Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die den Klägern bewilligte Elternrente zeitlich zu begrenzen.
Die Kläger sind italienische Staatsangehörige; sie leben in der Bundesrepublik. Ihr am 8. Oktober 1955 geborener Sohn A (A.) ... verunglückte am 15. Mai 1975 als Staplerfahrer bei einer Tankexplosion am Arbeitsplatz tödlich. Er hatte als Lediger bei seinen Eltern gelebt. Diese haben noch weitere Kinder. Der Kläger ist Frührentner und bezieht eine EU-Rente mit Kinderzuschlägen, ferner eine geringe Invalidenpension nach französischem Recht.
Die Beklagte gewährte den Klägern mit Bescheid vom 26. September 1975 Elternrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, jedoch nur "längstens bis zum 31. Oktober 1981", weil A. mit vollendetem 26. Lebensjahr zur Unterhaltsleistung nicht mehr im Stande gewesen wäre.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 1976 zurück.
Mit ihrer Klage haben die Kläger begehrt, ihnen die Elternrente unbefristet zu gewähren. A. habe geäußert, er wolle bei den Eltern bleiben und für ihren Unterhalt sorgen.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat unter Abänderung der Bescheide vom 26. September 1975 und 23. März 1976 die Beklagte verurteilt, den Klägern spätestens im Oktober 1981 einen Bescheid darüber zu erteilen, ob Elternrente über den 31. Oktober 1981 hinaus zusteht. Es hat die (Sprung) Revision zugelassen (Urteil vom 26. Oktober 1977).
Mit Zustimmung der Kläger hat die Beklagte die Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 596 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Duisburg vom 26. Oktober 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die (Sprung-) Revision der Beklagten ist nur insoweit begründet als sie verurteilt worden ist, den Klägern im Oktober 1981 einen Bescheid darüber zu erteilen, ob Elternrente über den 31. Oktober 1981 hinaus zustehe; in diesem Punkt ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Insoweit wird die weitergehende Klage abgewiesen. Im übrigen ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte war nicht berechtigt, die Elternrente der Kläger nur längstens bis zum 31. Oktober 1981, dem Zeitpunkt, in dem A. sein 26. Lebensjahr vollendet gehabt hätte, zu bewilligen.
Nach § 596 Abs 1 RVO besteht ein Anspruch auf Elternrente, wenn und solange die Anspruchsberechtigten ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätten geltend machen können. Danach ist das mutmaßliche Bestehen eines familienrechtlichen Unterhaltsanspruchs Voraussetzung für die Gewährung von Elternrente (Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 596 Anmerkungen 6 b und 10; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, Band II, S. 590 - 41. Nachtrag - April 1974). Das Gesetz stellt damit auf einen Geschehensablauf ab, der in Wirklichkeit nicht eintreten kann.
Der erkennende und der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) haben wiederholt entschieden, daß eine Elternrente wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 622 Abs 1 RVO entzogen werden kann, wobei auch die mutmaßliche Änderung eines nur gedachten Geschehensablaufs eine wesentliche Änderung in diesem Sinne sein kann (SozR 2200 § 622 Nr 6 und § 596 Nr 3; Urteile vom 27. Juli 1978 2 RU 129/75, 83/77, 93/77, 17/78). Es ist in solchen Fällen nicht gerechtfertigt, zwischen tatsächlich eingetretenen und mutmaßlichen Ereignissen, die zu der mutmaßlichen Änderung des gedachten Geschehensablaufs führen, zu unterscheiden. Denn der Eintritt der Umstände, die zu der mutmaßlichen Änderung führen, ist nicht immer mit einer solchen Sicherheit voraussehbar, daß die zeitliche Begrenzung der Rente bereits im Bescheid vorgenommen werden müßte (SozR 2200 § 622 Nr 6 S. 13). Neben den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen, die sich auf die voraussichtliche Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen (§ 1603 BGB) auswirken können, ist es vor allem die mutmaßliche familiäre Entwicklung, die einen Unterhaltsanspruch der Eltern wesentlich beeinflußt. Diese Umstände können sich im Laufes eines längeren Zeitraumes ändern und zu unterschiedlichen Beurteilungen der mutmaßlichen Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen führen. Selbst statistische Aussagen über das Heiratsalter können sich im Verlauf eines zu beurteilenden längeren Zeitraums wesentlich ändern, weil das Heiratsverhalten der Bevölkerung nicht gleich bleibt (vgl die genannten Urteile des 2. Senats vom 27. Juli 1978).
Rechtfertigt sich somit die Möglichkeit einer Neufeststellung (Entziehung) der Elternrente nach § 622 Abs 1 RVO wegen eines mutmaßlichen Wegfalles der Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen aus der Ungewißheit der maßgeblichen allgemeinen Umstände z.Zt. der Rentenbewilligung, so ist es grundsätzlich nicht zulässig, eine solche mutmaßliche Entwicklung bereits im Zeitpunkt der Rentenbewilligung für einen länger in die Zukunft reichenden Zeitraum zur Grundlage der Entscheidung über den Wegfall der Voraussetzungen des Elternrentenanspruchs zu machen. Es entspricht zwar allgemeiner Erfahrung, daß ein Unterhaltsanspruch der Eltern mutmaßlich entfallen wäre, wenn der Verstorbene geheiratet und auch Kinder bekommen hätte, weil er dann nicht mehr in der Lage gewesen wäre, seine Eltern wesentlich zu unterhalten. Auch folgt aus dem entsprechend anwendbaren § 287 der Zivilprozeßordnung, daß an den Beweis dieser Tatsachen keine hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Schließlich ist es auch zulässig unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles statistische Feststellungen, etwa über das Heiratsalter der in Betracht kommenden Personenkreise, als Beweismittel zu verwerten (vgl die obengenannte Rechtsprechung des 2. und 8. Senats des BSG). Das bedeutet aber nicht, daß die Feststellungen über die mutmaßliche Entwicklung und den Wegfall der Unterhaltsfähigkeit in jedem Fall aufgrund der im Zeitpunkt der Rentenbewilligung bekannten allgemeinen, in diesem Zusammenhang rechtlich bedeutsamen Umstände getroffen werden dürften. Auch wenn naturgemäß ein an Sicherheit grenzender Beweis insoweit in der Regel nicht möglich sein wird, so ist es doch erforderlich, alle möglichen Beweismittel zu verwerten. Das ist aber erst möglich, wenn der Zeitpunkt des mutmaßlichen Wegfalls der Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen mindestens nahe bevorsteht. Sind daher keine konkreten Anhaltspunkte feststellbar, aus denen im Einzelfall darauf geschlossen werden kann, daß der Verunglückte in Kürze geheiratet haben würde, etwa weil er schon verlobt und die Heirat für einen bestimmten Zeitpunkt vorgesehen war, so ist der Versicherungsträger nicht berechtigt, die Elternrente allein aus allgemeinen Erfahrungssätzen und aufgrund statistischer Unterlagen von vornherein auf einen mehrere Jahre in der Zukunft liegenden Zeitpunkt zu begrenzen.
Das SG hat danach zutreffend den Bescheid der Beklagten vom 26. September 1975 und den Widerspruchsbescheid vom 23. März 1976 abgeändert, wobei aus den Entscheidungsgründen klar erkennbar ist, daß mit der Abänderung die Aufhebung der zeitlichen Begrenzung des Elternrentenanspruchs auf die Zeit "längstens bis zum 31. Oktober 1981" gewollt war. Diesen Zeitpunkt hatte die Beklagte gewählt, weil A. dann sein 26. Lebensjahr vollendet gehabt haben würde. Sie hat dabei keine besonderen auf den Einzelfall bezogenen Umstände berücksichtigt und auch das SG hat keine Besonderheiten festgestellt, die den Schluß rechtfertigen würden, A. hätte entgegen allgemeinen Erfahrungen und statistischen Feststellungen zu einem anderen Zeitpunkt oder gar nicht geheiratet. Zwischen dem Erlaß des Bewilligungsbescheides sowie des Widerspruchsbescheides einerseits und dem Endzeitpunkt liegt eine nicht unerhebliche Zeitspanne von gut 6 und 5 1/2 Jahren, die die Feststellung des mutmaßlichen Wegfalles des Elternrentenanspruches nicht mit dem größtmöglichen Maß an Wahrscheinlichkeit erlaubt. Die Beklagte kann dagegen nicht erfolgreich einwenden, sie habe sich gegenüber den Klägern insoweit selbst gebunden, als sie auf eine Entziehung der Elternrente schon zu einem früheren Zeitpunkt verzichtet habe. Das trifft jedoch schon nach der Fassung des Bescheides "längstens bis" nicht zu und schließt insbesondere nicht die Möglichkeit, zwischenzeitlich eingetretene Änderungen allgemeiner Verhältnisse zu berücksichtigen, aus denen sich ein zeitlich mutmaßlich anders zu bestimmender Wegfall der Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen ergeben könnte.
Nach Prüfung aller rechtserheblichen Umstände wird die Beklagte zu gegebener Zeit zu entscheiden haben, ob und zu welchem Zeitpunkt sie die Voraussetzungen für die Entziehung der Elternrente als erfüllt ansieht. Ob und gegebenenfalls mit welchem Inhalt sie einen Neufeststellungsbescheid erteilt, bleibt jedoch ihrem eigenen pflichtgemäßen Ermessen vorbehalten. Eine Verurteilung zum Erlaß eines Bescheides zu einem bestimmten Zeitpunkt mit alternativen Inhalt, wie sie das SG ausgesprochen hat, ist deshalb nicht möglich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Revision der Beklagten im wesentlichen keinen Erfolg hatte, erscheint es gerechtfertigt, ihr alle außergerichtlichen Kosten der Kläger im Revisionsverfahren aufzuerlegen.
Fundstellen