Orientierungssatz
Aufforderung einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit:
Das Aufsuchen des Arbeitsamtes auf Grund einer Bitte oder Empfehlung einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit steht unter Versicherungsschutz (vgl BSG 1981-01-22 8/8a RU 44/80 = SozR 2200 § 539 Nr 76).
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1963-04-30; AFG §§ 132, 134 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin zu 1) war die Witwe des am 29. Juli 1977 tödlich verunglückten Robert H (H.). Die Kläger zu 2) bis 9) sind seine Kinder.
Seit dem 2. August 1976 stand H. dem für seinen damaligen Wohnsitz zuständigen Arbeitsamt P zur Arbeitsvermittlung zur Verfügung; zuletzt stand für H. die Übernahme in ein Arbeitsverhältnis in B in Aussicht.
Am 29. Juli 1977 verunglückte H. mit seinem Kleinkraftrad nach dem Besuch der Nebenstelle E des Arbeitsamtes P tödlich. Mit zwei Bescheiden vom 14. Dezember 1977 (ein Bescheid an die Kläger zu 1) bis 6), der andere Bescheid an die Kläger zu 8) und 9)) lehnte die Beklagte die Gewährung von Hinterbliebenenansprüchen ab. Der Verstorbene habe die Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nicht auf Aufforderung aufgesucht, sondern er habe aus eigener Veranlassung am Unfalltage beim Arbeitsamt vorgesprochen. Das Sozialgericht wies die Klage ab (Urteil vom 3. Dezember 1980), das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat durch Urteil vom 12. November 1981 die Beklagte verurteilt, der Klägerin zu 1) aus Anlaß des tödlichen Unfalls von H. bis zu ihrer Wiederverheiratung Witwenrente sowie Überbrückungsbeihilfe und Sterbegeld und den Klägern zu 2) bis 6) und 8) und 9) Halbwaisenrente zu gewähren, dem Kläger zu 9) bis zum 30. November 1980.
Das LSG hat dazu ausgeführt: Rechtsgrundlage für die geltend gemachten Ansprüche sei § 539 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO). H. habe als Empfänger von Arbeitslosenhilfe der Meldepflicht gemäß § 134 Abs 2 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) unterlegen. Ob er am Unfalltage in Erfüllung dieser Meldepflicht gehandelt habe, könne dahinstehen; jedenfalls sei er auf Aufforderung der Arbeitsbehörde unterwegs gewesen. Die Vorsprachen des H. bei der Nebenstelle des Arbeitsamtes unmittelbar vor dem Unfall hätten der Vorbereitung der Übersiedelung nach B gedient, wo sich H. aus eigener Initiative eine Arbeitsstelle verschafft gehabt habe. Der Besuch des Arbeitsamtes P am 28. Juli 1977 habe zunächst auch diesem Zweck gedient. Bei dieser Gelegenheit sei ein Vermerk in die Akten des Arbeitsamtes aufgenommen worden, daß H. darüber unterrichtet worden sei, daß er vor dem Umzug bei der Nebenstelle E vorsprechen solle, um dort einen Antrag auf Zuständigkeitserklärung zu stellen. Hierin liege die Aufforderung an H., beim Arbeitsamt vorzusprechen. Damit sei die Mitwirkungspflicht des Arbeitslosen, die diesem nach § 60 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches (SGB I) obliege, konkretisiert worden. In Erfüllung dieser Mitwirkungspflicht sei H. am Unfalltage bei der Nebenstelle E des Arbeitsamtes erschienen. Ob er dabei auch noch eigenwirtschaftliche Angelegenheiten erfüllt habe, sei nicht entscheidend: Wer zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht gemäß § 60 SGB I bei der Arbeitsbehörde erscheine, sei "aufgefordert" iS des § 539 Abs 1 Nr 4 RVO.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und rügt die Verletzung des § 539 Abs 1 Nr 4 RVO. Dessen neue Fassung mache deutlich, daß es für den Versicherungsschutz einer ausdrücklichen Willenserklärung der Dienststelle bedürfe; ein vom Arbeitslosen angenommenes stillschweigendes Einverständnis der Dienststelle reiche nicht aus. Die mit dem Umzug nach Berlin zusammenhängenden Probleme hätten bei der Erörterung, die für den 1. August 1977 vorgesehen gewesen sei, erledigt werden sollen. Für den 29. Juli 1977 sei H. jedenfalls nicht einbestellt worden. Der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 4 RVO könne aber nicht beliebig dadurch ausgedehnt werden, daß die Arbeitslosen einer für einen bestimmten Termin vorgesehenen Erörterung lieber an einem anderen Tage nachkommen wollten. Dem stehe der Aktenvermerk über die Unterredung am 28. Juli 1977 nicht entgegen, denn das Arbeitsamt habe ungeachtet dieses Vermerks den Verstorbenen ausdrücklich für den 1. August 1977 zur Mitwirkung iS von § 60 SGB I bestellt. Dieser Termin sei auch durch die Vorsprache am 29. Juli 1977 nicht überflüssig geworden, da dort nicht alle anstehenden Probleme besprochen worden seien. Nach dem Runderlaß der BA werde aber Unfallversicherungsschutz nur gewährt, wenn durch den vorgezogenen Besuch der festgesetzte Termin entbehrlich werde. Das sei nicht der Fall.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet; das LSG hat zu Recht ausgesprochen, daß H. zur Zeit seines Unfalls unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe.
Das LSG ist - für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG) - davon ausgegangen, daß H. sich auf dem Weg von der Nebenstelle E des Arbeitsamtes zu seiner Wohnung (§ 550 Abs 1 RVO) befand, als er den Unfall erlitt, der zu seinem Tode geführt hat.
Der Unfall des H. war auch ein Arbeitsunfall (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO), denn der Kläger war zur Zeit des Unfalls nach § 539 Abs 1 Ziffer 4 Buchst b RVO kraft Gesetzes in der Unfallversicherung versichert. Nach dieser Vorschrift sind gegen Arbeitsunfall Personen versichert, die nach den Vorschriften des AFG der Meldepflicht unterliegen, wenn sie auf Aufforderung einer Dienststelle der BA diese oder andere Stellen aufsuchen. Die Beteiligten streiten darüber, ob H. am 29. Juli 1977 auf Grund einer Aufforderung einer Dienststelle der BA die Nebenstelle des Arbeitsamtes in E aufgesucht hatte. Die Meinung der Beklagten, H. sei nur für den 1. August 1977 einbestellt gewesen, berücksichtigt nicht die genauen Umstände des festgestellten Sachverhaltes. Der Termin für den 1. August 1977 war H. von der Nebenstelle des Arbeitsamtes, die er fast täglich aufsuchte, für die abschließende Bearbeitung seiner bereits im Zusammenhang mit der Arbeitsaufnahme in B gestellten Anträge aufgegeben worden. Daneben hatte H. jedoch am 28. Juli 1977 von sich aus im Arbeitsamt P selbst vorgesprochen. Er war dazu veranlaßt, weil ihm durch die Nebenstelle wegen der Nichtaufnahme einer angebotenen Arbeit die Arbeitslosenhilfe gesperrt worden war. In P hat er die Aufhebung dieser Sperre und die sofortige Wiederanweisung der Arbeitslosenhilfe erreichen können. Wie das LSG dann im einzelnen festgestellt hat, wurde H. darüber belehrt, daß er vor seinem schon in etwa acht bis zehn Tagen geplanten Umzug nach B noch bei der Nebenstelle des Arbeitsamtes in E vorsprechen solle, um dort einen Antrag auf Zuständigkeitserklärung zu stellen. Außerdem wurde er darauf hingewiesen, daß er sich in B unverzüglich bei dem dortigen Arbeitsamt zu melden habe. Für die dem Kläger aufgetragenen Meldungen sowohl bei der Nebenstelle als auch beim Arbeitsamt B war ein bestimmter Tag nicht festgelegt worden. Jene hatte lediglich vor der Abreise nach B zu erfolgen. Auch für die Meldung in B war allein darauf hingewiesen worden, daß sie unverzüglich - nach der Ankunft in B- zu erfolgen habe. Das LSG hat zu Recht aus dem Hinweis des Bediensteten des Arbeitsamtes P, die Nebenstelle in E aufzusuchen, in Verbindung mit dem Umstand, daß H. noch am gleichen Tage Antragsformulare für die Erstattung von Paßgebühren und Kosten für Paßbilder ausgehändigt erhielt und diese dann auch ausfüllte, um sie am nächsten Tag bei der Nebenstelle abzugeben, eine Aufforderung iS des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO gesehen. Dieser Aufforderung, eine Dienststelle der BA aufzusuchen, hätte H. auch am 1. August 1977 nachkommen können. Das war ihm jedoch weder aufgetragen noch empfohlen worden, zumal dem Bediensteten des Arbeitsamtes P der geplante Termin nicht bekannt gewesen ist. H. konnte deshalb der Aufforderung zu jedem Zeitpunkt nach ihrem Ergehen bis zur Abreise nach B nachkommen, insbesondere auch am 29. Juli 1977. Daß H. diesen frühen Termin wählte, war durchaus vernünftig, weil er bestrebt war, auch die neu in P angeschnittenen Fragen mit der Nebenstelle zu erörtern, um so eine reibungslose und endgültige Bearbeitung seiner Sache vor der Abreise nach B sicherzustellen. Da die Vorsprache des H. am 29. Juli 1977 bei der Nebenstelle unabhängig von der für den 1. August 1977 terminierten Meldung war, kommt es nicht darauf an, ob die eine die andere entbehrlich gemacht hat (vgl § 5 der Meldeordnung der BA - ANBA 1973, 245 -; DA ANBA 1973, 367; Rundschreiben 211 der BA im Dienstblatt der BA 1976, 787).
Die Auffassung des LSG, am 28. Juli 1977 sei in P eine Aufforderung iS des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO an H. erteilt worden, entspricht der Rechtsprechung des BSG. In dem Urteil vom 22. Januar 1981 (SozR 2200 § 539 Nr 76) hat es entschieden, daß das Aufsuchen des Arbeitsamts auf Grund einer Bitte oder Empfehlung unter Unfallversicherungsschutz stehe.
Die hier getroffene Entscheidung steht nicht im Widerspruch zu dem Urteil vom 29. Mai 1973 (BSGE 36, 39 = SozR Nr 41 Zu § 539 RVO). Dort hat das BSG den Unfallversicherungsschutz für einen Kläger abgelehnt, der auf Veranlassung des Rentenversicherungsträgers vom Arbeitsamt gebeten worden war, zur Erlangung einer bereits in Aussicht genommenen Arbeitsstelle beim Arbeitsamt zu einer Beratung vorzusprechen. Der damalige Kläger war aber weder als arbeitsuchend noch als arbeitslos gemeldet und stand auch sonst der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung, so daß er nicht der Meldepflicht unterlag. Davon hat das BSG aber stets den Unfallversicherungsschutz abhängig gemacht. Die Meldepflicht des H. nach dem AFG war hier jedoch gegeben, weil er wieder Arbeitslosenhilfe bezog (§§ 132, 134 Abs 4 AFG).
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist H. nicht bloß von einem angenommenen stillschweigenden Einverständnis der Dienststelle für die Meldung ausgegangen. Die Meldung ist ihm vielmehr ausdrücklich aufgegeben worden. Das ist eine Aufforderung iS des § 539 Abs 1 Nr 4 Buchst b AFG. An eine besondere Form ist die Aufforderung nicht gebunden (§ 3 der Meldeanordnung vom 14. Dezember 1972 in ANBA 1973 S 245).
Das LSG hat daher zu Recht Unfallversicherungsschutz des H. angenommen und den Klägern die Hinterbliebenenleistungen zugesprochen, so daß die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden muß (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen