Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückforderungsanspruch "dem Grunde nach". Fälligkeit der Rückforderung überzahlter Leistungen. Verjährung
Leitsatz (redaktionell)
Der Versicherungsträger kann zwar ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit seinen Rückforderungsanspruch "dem Grunde nach" durch Bescheid geltend machen, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 1301 RVO aF vorliegen. Ein solcher Bescheid begründet aber noch nicht die für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebende Fälligkeit. Es handelt sich vielmehr um einen feststellenden Verwaltungsakt, der verbindlich das Bestehen eines Rückforderungsanspruchs regelt, jedoch noch keine Zahlungspflicht begründet.
Orientierungssatz
1. Dem bis zum Inkrafttreten des am 1. Januar 1976 geltenden § 29 Abs 3 RVO aF war der Grundgedanke zu entnehmen, daß der Rückforderungsanspruch ebenso wie der Anspruch auf die Leistung selbst, in der relativ kurzen Frist von vier Jahren verjähren soll.
2. Bei Ansprüchen des Versicherungsträgers gegen einen Versicherten spielt die Einklagbarkeit deshalb keine Rolle, weil der Versicherungsträger seine Forderung nicht durch eine Klage, sondern durch einen Verwaltungsakt geltend zu machen hat. Liegen die Voraussetzungen für den Erlaß eines solchen Verwaltungsaktes vor, so setzt mit diesem Zeitpunkt der Lauf der Verjährungsfrist ein.
3. Fälligkeit bedeutet das Recht, die geschuldete Leistung in dieser Höhe und zu diesem Zeitpunkt verlangen zu können. Solange der Versicherungsträger aber nicht die Erfüllung der "dem Grunde nach" bestehenden Forderung wegen Fehlens der wirtschaftlichen Vertretbarkeit verlangen kann, weil die Voraussetzungen für die Ausübung des Ermessens nicht vorliegen, kann der Rückforderungsanspruch nicht fällig sein.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3, § 1301 S. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, von der Klägerin überzahlte Rentenbeträge in Höhe von insgesamt 4.650,-- DM in Raten zurückzufordern.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 23. März 1967 die ungekürzte wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen ersten Ehemannes für die Zeit vom 1. Mai 1966 an, nachdem ihre zweite Ehe aus überwiegendem Verschulden des Ehemannes geschieden worden war. Der geschiedene zweite Ehemann der Klägerin zahlte aufgrund eines Unterhaltsvergleichs seit dem 1. Mai 1968 monatlich 150,-- DM an die Klägerin. Nachdem die Beklagte dies erfahren hatte, rechnete sie mit Bescheid vom 11. Januar 1971 den Unterhaltsanspruch von monatlich 150,-- DM auf die wiederaufgelebte Witwenrente an und stellte für die Zeit vom 1. Mai 1968 bis zum 30. November 1970 eine Überzahlung in Höhe von 4.650,-- DM fest. Klage, Berufung und Revision der Klägerin hatten keinen Erfolg. Wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin sah die Beklagte zunächst von einer Rückforderung ab. Mit Bescheid vom 13. Juli 1977 forderte die Beklagte den überzahlten Rentenbetrag zurück und kündigte an, daß sie nach Eintritt der Bindungswirkung dieses Bescheides monatlich 100,-- DM an der laufenden wiederaufgelebten Witwenrente einbehalten werde.
Die Klägerin hat diesen Bescheid zunächst mit dem Widerspruch und sodann mit der Klage angefochten. Die Beklagte änderte ihren Bescheid vom 13. Juli 1977 mit Bescheid vom 5. Mai 1978 dahin, daß sie statt des angekündigten Betrages von monatlich 100,-- DM nur monatlich 39,-- DM an der wiederaufgelebten Witwenrente einbehalten werde. Die Widerspruchsstelle der Beklagten entschied am 15. Juni 1978, daß sie dem Widerspruch nicht stattgeben wolle; sie leitete den Widerspruch nach § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) als Klage zu. Während des erstinstanzlichen Verfahrens machte die Klägerin ua geltend, der Rückforderungsanspruch der Beklagten sei verjährt.
Das SG hat mit Urteil vom 12. November 1979 den Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 1977 idF des Bescheides vom 5. Mai 1978 aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 12. Juni 1980 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Rückforderungsanspruch der Beklagten sei verjährt. Die Die Verjährungsfrist, die vier Jahre betrage, habe am 18. Februar 1971 begonnen. Zu dieser Zeit sei der Bescheid vom 11. Januar 1971, mit dem die Überzahlung festgestellt worden sei, bindend geworden. Mit der Bindungswirkung des Bescheides sei für die Beklagte die Möglichkeit eingetreten, den Rückforderungsanspruch durch einen Bescheid gegenüber der Klägerin geltend zu machen. Dem stehe nicht entgegen, daß die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin zu dieser Zeit noch nicht vertretbar gewesen sei. Die Vertretbarkeit der Rückforderung gehöre nicht zur Entstehung des Rückforderungsanspruchs, sondern zu seiner Durchsetzbarkeit. Bei Erteilung des Rückforderungsbescheides vom 13. Juli 1977 sei der Rückforderungsanspruch bereits verjährt gewesen.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, der Rückforderungsanspruch werde nicht schon mit der Bindungswirkung des die Überzahlung feststellenden Bescheides, sondern erst dann fällig, wenn der Versicherungsträger den zu Unrecht gezahlten Rentenbetrag vom Empfänger unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Vertretbarkeit verlangen könne. Erst dann könne die Verjährungsfrist beginnen. Im übrigen betrage die Verjährungsfrist nicht vier Jahre, sondern entsprechend § 218 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) 30 Jahre, da der Anspruch bereits durch den unanfechtbar gewordenen Bescheid vom 11. Januar 1971 festgestellt und "dem Grunde nach" geltend gemacht worden sei. Darüber hinaus sei durch die Erhebung der Klage gegen den Bescheid vom 11. Januar 1971 eine etwa laufende Verjährungsfrist unterbrochen gewesen.
Die Beklagte beantragt,
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
vom 12. Juni 1980 und das Urteil des Sozialgerichts Gießen
vom 12. November 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach dem bindend gewordenen Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1971 ist davon auszugehen, daß die Klägerin einen Rentenbetrag von 4.650,-- DM zuviel erhalten hat. Damit steht jedoch noch nicht bindend fest, daß die Beklagte in dieser Höhe auch einen Rückforderungsanspruch hat, denn der bindend gewordene Bescheid enthält keinen Verfügungssatz über die Folgen der Überzahlung. Die Beklagte hat erstmalig mit dem in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid einen Rückforderungsanspruch geltend gemacht. Die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides richtet sich nach § 1301 der Reichsversicherungsordnung (RVO), obwohl diese Vorschrift gemäß Art II §§ 4 Nr 1, 40 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) mit Wirkung vom 1. Januar 1981 außer Kraft getreten ist (ebenso Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 19. März 1981 - 4 RJ 1/80 -). Bei einer reinen Anfechtungsklage, um die es sich im vorliegenden Fall handelt, ist die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage zu beurteilen, wie sie im Zeitpunkt des Erlasses dieses Verwaltungsaktes bestand (vgl BSGE 7, 8, 13 und BSG SozR Nr 11 zu § 47 Verwaltungsverfahrensgesetz).
Aus § 1301 Satz 1 RVO ergibt sich, daß der Versicherungsträger den zuviel gezahlten Rentenbetrag grundsätzlich zurückfordern kann. Nach Satz 2 dieser Vorschrift darf er eine Leistung jedoch nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur, soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, steht nicht fest, insbesondere hat das LSG keine Feststellungen zur wirtschaftlichen Situation der Klägerin getroffen, so daß die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Rückforderung nicht beurteilt werden kann. Darauf kommt es nur dann nicht an, wenn - wie das LSG dies angenommen hat - die von der Klägerin erhobene Einrede der Verjährung begründet ist. Aber auch zur Beurteilung dieser Frage reichen die festgestellten Tatsachen nicht aus.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Verjährungsfrist vier Jahre beträgt. Das folgt zwar nicht aus § 50 Abs 4 SGB 10, denn diese Vorschrift ist auf die vor ihrem Inkrafttreten (1. Januar 1981, Art II § 40 Abs 1 SGB 10) erlassenen Verwaltungsakte nicht anzuwenden. Die RVO enthielt für Rückforderungsansprüche der Versicherungsträger keine ausdrückliche Vorschrift über die Dauer der Verjährungsfrist. Insoweit bestand eine Gesetzeslücke. Dem bis zum Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches, Allgemeiner Fall (SGB 1) am 1. Januar 1976 geltenden § 29 Abs 3 RVO aF war jedoch der Grundgedanke zu entnehmen, daß der Rückforderungsanspruch ebenso wie der Anspruch auf die Leistung selbst, in der relativ kurzen Frist von vier Jahren verjähren soll. Wenn nach dieser Vorschrift schon der auf Leistungen der Versicherungsträger gerichtete Anspruch des Versicherten in vier Jahren verjährte, so mußte das erst recht für den -"umgekehrten"- Rückforderungsanspruch gegenüber dem schutzwürdigeren Versicherten gelten (vgl BSG SozR Nr 21 zu § 29 RVO).
Das LSG hat zu Unrecht angenommen, die Verjährungsfrist habe am 18. Februar 1971 begonnen, als der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1971 bindend geworden sei. Selbst wenn man davon ausgeht, daß der Rückforderungsanspruch der Beklagten in dem Augenblick entstanden ist, als die Beklagten die Überzahlung bindend festgestellt hatte und den Rückforderungsanspruch "dem Grunde nach" durch Bescheid hätte feststellen können (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 628 Nr 1), konnte die Verjährungsfrist zu diesem Zeitpunkt noch nicht beginnen. Während § 29 Abs 3 RVO aF für den Beginn der Verjährungsfrist nicht auf die Entstehung, sondern auf die Fälligkeit des Anspruchs abstellte, knüpft in § 45 SGB 1 - ebenso wie § 198 BGB - den Beginn der Verjährung scheinbar an die Entstehung des Anspruchs. Gleichwohl kann auch nach diesen Vorschriften der Lauf der Verjährungsfrist nicht vor der Fälligkeit des Anspruchs beginnen (vgl BSGE 34, 1, 15 mwN = BSG SozR Nr 24 zu § 29 RVO). Nach dem allen Verjährungsfristen zugrunde liegenden Rechtsgedanken soll die Verjährungsfrist erst dann beginnen, wenn der Gläubiger von dem Schuldner die Erfüllung des Anspruchs verlangen kann. Vor diesem Zeitpunkt, den man als Fälligkeit bezeichnet, fehlt ihm die Möglichkeit, seinen Anspruch durchzusetzen und notfalls einzuklagen. Bei Ansprüchen des Versicherungsträgers gegen einen Versicherten spielt zwar die Einklagbarkeit deshalb keine Rolle, weil der Versicherungsträger seine Forderung nicht durch eine Klage, sondern durch einen Verwaltungsakt geltend zu machen hat. Liegen die Voraussetzungen für den Erlaß eines solchen Verwaltungsaktes vor, so setzt mit diesem Zeitpunkt der Lauf der Verjährungsfrist ein.
Nach der Rechtsprechung des BSG kann der Versicherungsträger zwar ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit seinen Rückforderungsanspruch "dem Grunde nach" durch Bescheid geltend machen, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 1301 RVO aF vorliegen (vgl BSG SozR 2200 § 628 Nr 1). Ein solcher Bescheid begründet aber noch nicht die für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebende Fälligkeit. Es handelt sich vielmehr um einen feststellenden Verwaltungsakt, der verbindlich das Bestehen eines Rückforderungsanspruchs regelt, jedoch noch keine Zahlungspflicht begründet (vgl BSG SozR 2200 § 1301 Nr 13). Der Rückforderungsanspruch wird frühestens dann und in dem Umfang fällig, in dem die wirtschaftliche Vertretbarkeit den Versicherungsträger die Ausübung seines Ermessens und die Erteilung eines Bescheides über die konkrete Zahlungspflicht erlaubt. Es ist fraglich, ob die "dem Grunde nach" bestehende Forderung des Versicherungsträgers betragsmäßig überhaupt schon besteht, bevor die wirtschaftliche Vertretbarkeit eingetreten ist. Man könnte ähnlich wie beim Rentenanspruch daran denken, daß zwar der Stammanspruch besteht, die Entstehung des konkreten Zahlungsanspruch zeitlich und umfangmäßig nur jeweils mit dem Eintritt der wirtschaftlichen Vertretbarkeit entsteht und fällig wird. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daß die Entstehung des Anspruchs von der wirtschaftlichen Vertretbarkeit unabhängig ist, so kann doch die Fälligkeit nicht vorher eintreten. Fälligkeit bedeutet das Recht, die geschuldete Leistung in dieser Höhe und zu diesem Zeitpunkt verlangen zu können. Solange der Versicherungsträger aber nicht die Erfüllung der "dem Grunde nach" bestehenden Forderung wegen Fehlens der wirtschaftlichen Vertretbarkeit verlangen kann, weil die Voraussetzungen für die Ausübung des Ermessens nicht vorliegen, kann der Rückforderungsanspruch nicht fällig sein.
Das LSG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - keine Tatsachenfeststellungen zur wirtschaftlichen Situation der Klägerin getroffen. Ohne diese nachzuholenden Tatsachenfeststellungen läßt sich aber weder beurteilen, ob die Voraussetzungen des § 1301 Satz 2 RVO vorliegen, noch, wann die Fälligkeit eingetreten ist und damit die Verjährungsfrist begonnen hat. Der erkennende Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen