Leitsatz (amtlich)
1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß eine durch arbeitsgerichtliches Urteil festgesetzte oder durch Vergleiche vereinbarte Abfindung nach KschG 1951 §§ 7, 8 eine "Abfindung oder Entschädigung" anläßlich des Ausscheidens aus der früheren Beschäftigung im Sinne des AVAVG 1927 § 113 Abs 1 Nr 2 ist (Vergleiche BSG 1955-07-12 7 RAr 36/54 = BSGE 1 , 134 §; BSG 1955-07-12 7 RAr 12/55= BSGE 1, 144).
Teilnahme am Streik die versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des AVAVG 1927 § 99 Abs 1 S 3 idF des Änderungsgesetzes 1953-08-24 § 1 (BGBL 1 1022) jedenfalls dann unterbricht, wenn die Dauer des Streiks nicht absehbar ist (Vergleiche BSG 1955-08-30 7 RAr 40/55 = BSGE 1, 115).
2. Die Fortbildung des Rechts ist Pflicht eines jeden Senats, nicht nur Aufgabe des Großen Senats.
Leitsatz (redaktionell)
Der Streit um die Anrechenbarkeit von Abfindungen nach dem KSchG auf die Arbeitslosenunterstützung fällt nicht unter die SGG §§ 144 Abs 1 Nr 2 und 147. Wenn der erkennende Senat von seiner bisherigen Rechtsansicht nicht abweichen will, kann er den Großen Senat nach SGG § 43 nicht anrufen.
Normenkette
AVAVG § 99 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1953-08-24; AVAVG 1927 § 99 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1953-08-24; AVAVG § 113 Abs. 1 Nr. 2; AVAVG 1927 § 113 Abs. 1 Nr. 2; SGG §§ 43, 144 Abs. 1 Nr. 2, § 147
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Mai 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I. Der Kläger, von Beruf Lederzuschneider, war zuletzt vom 3. März 1952 bis zum 6. Februar 1953 bei der Schuhfabrik ... Sch in Pirmasens als Kontrolleur in der Zuschneiderei beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber wegen Meinungsverschiedenheiten des Klägers mit der Steppmeisterin gekündigt. Am 7. Februar 1953 meldete er sich beim Arbeitsamt Pirmasens arbeitslos und beantragte Arbeitslosenunterstützung (Alu). Eine zunächst wegen selbstverschuldeten Verlustes der Arbeitsstelle verhängte Sperrfrist von zwei Wochen wurde vom Spruchausschuß aufgehoben. Die Alu wurde ihm daraufhin rückwirkend ab 14. Februar gezahlt.
II. Im Arbeitsgerichtsverfahren wurde durch Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. August 1953 das Arbeitsvertragsverhältnis gemäß § 7 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) mit Wirkung vom 7. Februar 1953 aufgelöst und der Arbeitgeber nach § 8 KSchG verurteilt, an den Kläger eine Abfindung in Höhe von 700,- DM zu zahlen. Diese entsprach dem Arbeitsentgelt für 50,2 Kalendertage. Deshalb setzte das Arbeitsamt Pirmasens den Beginn der Alu-Zahlung nunmehr auf den 6. April 1953 fest, entzog durch Verfügung vom 2. September 1953 dem Kläger die Alu vom 14. Februar bis zum 4. April 1953 und forderte mit Schreiben vom 3. September 1953 den früheren Arbeitgeber des Klägers auf, die für diese Zeit gezahlte Alu in Höhe von 210,70 DM gemäß § 113 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) dem Arbeitsamt zurückzuerstatten. Der Arbeitgeber zahlte den Betrag an das Arbeitsamt und rechnete ihn dem Kläger gegenüber auf.
Der Kläger hatte gegen die Verfügung des Arbeitsamts Einspruch eingelegt und Auszahlung der 210,70 DM an sich selber beantragt. Der Einspruch wurde vom Spruchausschuß des Arbeitsamts Pirmasens durch Bescheid vom 14. Oktober 1953 zurückgewiesen. Hiergegen legte der Kläger bei der Spruchkammer des Oberversicherungsamts Speyer Berufung ein, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht überging.
III. Mit Urteil vom 20. September 1954 hob das Sozialgericht Speyer die Entscheidung des Spruchausschusses und die Verfügung des Arbeitsamtes Pirmasens auf. Es begründete dies damit, § 113 AVAVG verfolge den Zweck, die Zahlung von Arbeitsentgelt und Alu für denselben Zeitraum zu verhindern. Da die Abfindung im vorliegenden Fall aber nicht oder zumindest nicht in ihrer gesamten Höhe Entschädigung für entgangenes oder künftig entgehendes Arbeitsentgelt darstelle, sei die Anwendung des § 113 AVAVG nicht gerechtfertigt. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ließ das Sozialgericht gemäß § 150 Nr. 1 SGG die Berufung zu.
Auf die Berufung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung hob das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 6. Mai 1955 das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Klage gegen die Bescheide vom 2. September und 14. Oktober 1953 ab. Es erklärte den § 113 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG auf Abfindungen nach § 7 KSchG für anwendbar. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage ließ es die Revision zu.
IV. Das Urteil wurde den Beteiligten am 8. Juni 1955 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 5. Juli 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 6. Juli - legte der Kläger Revision ein und beantragte:
1. das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Mai 1955, die Entscheidung des Spruchausschusses des Arbeitsamtes Pirmasens vom 14. Oktober 1953 und den Bescheid des Arbeitsamtes Pirmasens vom 2. September 1953 aufzuheben,
2. die Revisionsbeklagte zu verurteilen, dem Revisionskläger Alu in Höhe von 210,70 DM nachzuzahlen;
hilfsweise:
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Mai 1955 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Mit Schriftsatz vom 4. August 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 5. August - beantragte er ferner:
die streitige Rechtsfrage dem Großen Senat gemäß § 43 SGG zur Herbeiführung einer grundsätzlichen Entscheidung vorzulegen.
Zur Begründung führte er aus:
Aus dem Grundgedanken des AVAVG, nämlich der Versicherung gegen den Schadensfall der Arbeitslosigkeit, ergebe sich, daß Abfindungen, die für die Vergangenheit gewährt würden, weder Übergangsgeld noch Arbeitsentgelt darstellten, das geeignet sei, den Bezug der Alu hinauszuschieben. Eine Abfindung nach den §§ 7, 8 KSchG sei aber, wie sich aus der Gegenüberstellung mit anderen Kündigungsschutzgesetzen und aus der Entwicklung der Tarifverträge und betrieblichen Sozialleistungen ergebe, kein Übergangsgeld, sondern ein Ausgleich für die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbundenen Nachteile und eine Entschädigung für den Verlust der durch die Dauer der Betriebszugehörigkeit erworbenen Rechte. Nur Abfindungen, die für die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist gewährt würden, seien geeignet, den Unterstützungsbeginn hinauszuschieben. Eine andere Auffassung widerspreche dem Wesen der Versicherung, dem Grundsatz der Gleichbehandlung sowie dem der Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Der frühere Abs. 4 des § 113 AVAVG vom 16. Juli 1927, durch den Entschädigungen aus § 87 Abs. 1 des Betriebsrätegesetzes (BRG) ausdrücklich von der Anwendung des § 113 Abs. 1 Nr. 3 (jetzt Nr. 2) AVAVG ausgeschlossen gewesen seien, sei zwar durch die zweite Notverordnung des Reichspräsidenten vom 5. Juni 1931 (RGBl. I S. 279) aufgehoben worden. Daraus lasse sich jedoch keine gegenteilige Rechtsauffassung herleiten; denn Abs. 4 sei wegen des damaligen Notstandes gestrichen worden. Dieser bestehe jedoch seit langem nicht mehr. Insbesondere habe sich, wie aus dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (SVAG) vom 17. Juni 1949 und aus weiteren nachfolgenden Gesetzen zu erkennen sei, die finanzielle Lage der Bundesanstalt ständig gebessert. Einer Wiederaufnahme des früheren Abs. 4 nach dem Jahre 1945 habe es aber auch nicht bedurft, da sich die arbeitsrechtliche Gesetzgebung grundlegend geändert habe.
Der Antrag auf Abgabe der Rechtsfrage an den Großen Senat wurde damit begründet, daß der erkennende Senat sich in zwei Urteilen vom 12. Juli 1955 nicht für befugt gehalten habe, rechtsschöpferisch tätig zu werden oder das Recht fortzubilden. Dies sei aber hier erforderlich, da diese Rechtsfrage das Interesse aller Arbeiter und Angestellten berühre, die unter das KSchG fielen und gegen Arbeitslosigkeit versichert seien. Die Fortbildung des Rechts sei eine besondere Aufgabe des Großen Senats.
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 26. August 1955, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Mit Schriftsatz vom 10. November 1955 ergänzte der Kläger seinen Antrag auf Abgabe an den Großen Senat durch Hinweis auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Januar 1955 - 2 AZR 479/54 -, wonach die Rechtsfortbildung selbst im Wege gesetzesändernder Auslegung dann möglich und erforderlich sei, wenn Gesetzesbestimmungen auf überholten Rechtsanschauungen beruhten und mit neuen Rechtsgrundsätzen nicht mehr vereinbar seien.
Im einzelnen wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
V. Die Revision ist statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie konnte aber keinen Erfolg haben.
Vorweg hatte der Senat zu prüfen, ob etwa schon die Berufung unzulässig gewesen war. Das Sozialgericht hatte sie wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache "entgegen § 147 SGG" gemäß § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Das Landessozialgericht ging von der Erwägung aus, daß es sich um einen Rechtsstreit über einen Anspruch auf weniger als dreizehn Wochen handele (§ 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und deshalb die Zulässigkeit nach § 150 Nr. 1 SGG begründet gewesen sei. Beide Auffassungen sind unzutreffend. Im vorliegenden Fall ist weder Beginn oder Höhe der Unterstützung streitig, noch handelt es sich um wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen (drei Monaten). Vielmehr ist hier der Unterstützungsanspruch als solcher unter den Voraussetzungen der §§ 7, 8 KSchG, 113 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG zu prüfen. In solchen Fällen ist die Berufung ohne besondere Zulassung nach § 143 SGG gegeben. Die irrtümliche "Zulassung" des Rechtsmittels "nach § 150 Nr. 1 SGG" ist unbeachtlich (vgl. hierzu auch das Urteil des erkennenden Senats vom 12. Juli 1955 - 7 RAr 18/54 - BSG 1 S. 111).
VI. Mit der Rechtsfrage, ob § 113 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG auf Abfindungen aus den §§ 7, 8 KSchG anzuwenden ist, hat sich der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 12. Juli 1955 - 7 RAr 36/54 - und 12/55 - (BSG 1 S. 134, 144) eingehend auseinandergesetzt und sie bejaht. Die vom Kläger vorgebrachten Gründe sind bereits in den erwähnten Urteilen ausführlich gewürdigt worden. Neue hat der Kläger nur vorgetragen, daß der Aufhebung des Abs. 4 des § 113 AVAVG durch die Notverordnung vom 5. Juni 1941 inzwischen infolge der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre und angesichts der günstigen finanziellen Lage der Bundesanstalt die Rechtsgrundlage entzogen sei. Aber auch dieser Einwand konnte keinen Erfolg haben. Es ist anerkanntes Recht, daß eine auf gesetzmäßigem Wege aufgehobene Rechtsvorschrift nicht dadurch wieder wirksam wird, daß später die Grundlagen wegfallen, die zu der Aufhebung geführt haben, es sei denn, dies wäre bei der Aufhebung vorgesehen worden, was hier nicht der Fall war. Daran ändert auch nichts, daß die Weimarer Verfassung, auf deren Art. 48 die Notverordnung von 1931 beruht, inzwischen durch das Grundgesetz (GG) abgelöst worden ist, soweit nicht einzelne, hier nicht in Betracht kommende Vorschriften der Weimarer Verfassung durch Art. 140 GG zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt worden sind. Im übrigen ist auch zu berücksichtigen, daß Grundlage für den jetzt geltenden § 113 AVAVG nicht mehr das AVAVG vom 16. Juli 1927 (RGBl. I S. 187) ist, sondern daß er durch Besatzungs- und Länderrecht neu geschaffen worden ist. Die finanzielle Lage der Bundesanstalt oder der Erlaß späterer Gesetze wie des SVAG usw. sind für die Beurteilung dieser Frage ohne rechtliche Bedeutung.
VII. Der erkennende Senat hält darum nach erneuter Prüfung der Rechtslage an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Er sah auch keine Veranlassung, die Rechtsfrage dem Großen Senat vorzulegen und damit der Anregung des Klägers - als eine solche ist der "Antrag" anzusehen (vgl. dazu auch die gleiche Auffassung des früheren Reichsversicherungsamts in seiner Entscheidung vom 3.3.1914, EuM Bd. 5 S. 252) - zu entsprechen. Die Anrufung des Großen Senats steht im Ermessen des erkennenden Senats. Er kann nach § 43 SGG in einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung die Entscheidung des Großen Senats herbeiführen, wenn nach seiner Auffassung die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordert.
Diese Vorschrift setzt also voraus, daß ein Senat in einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung nicht selbst entscheiden will. Der 7. Senat hat aber bereits in zwei gleich oder ähnlich gelagerten Fällen - 7 RAr 36/54 und 12/55 - über die hier vorliegende Rechtsfrage entschieden. Eine Vorlegung an den großen Senat käme deshalb nur in Betracht, wenn der erkennende Senat nachträglich Zweifel in die Richtigkeit seiner Rechtsprechung setzen würde. Da dies jedoch nicht der Fall ist, besteht rechtlich keine Möglichkeit mehr, den Großen Senat anzurufen, selbst nicht unter dem Gesichtspunkt, sich von ihm ggf. die Richtigkeit seiner früheren Entscheidungen bestätigen zu lassen.
Der Kläger geht von der irrigen Auffassung aus, der erkennende Senat habe sich "nicht für befugt gehalten", rechtsschöpferisch tätig zu werden oder das Recht fortzubilden. Die Fortbildung des Rechts ist Pflicht eines jeden Senats, nicht nur des Großen. Sie wird ständig geübt.
Ausgangspunkt für Erörterungen über Rechtsfortbildung muß der das deutsche Rechtsleben beherrschende Grundsatz der Gewaltenteilung in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sein (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG). Der Gesetzgeber setzt das Recht, die Verwaltung wendet es an, das Gericht überprüft in strittigen Fällen die Anwendung. Unvereinbar mit diesem Grundsatz würde es sein, wenn sich der Richter an die Stelle des Gesetzgebers setzen und Aufgaben übernehmen wollte, die den gesetzgebenden Körperschaften vorbehalten sind. Dadurch wird der Richter allerdings nicht gehindert oder auch nur seiner Verpflichtung ledig, in dem zulässigen Rahmen das Recht fortzubilden, zumal nach Art. 20 Abs. 3 GG die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist und deshalb Wandlungen Rechnung tragen muß, die durch wesentliche Veränderungen der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse eintreten. Rechtsschöpferisch kann der Richter dagegen nur tätig sein, sofern Lücken im Gesetz vorhanden sind oder soweit der Gesetzgeber seiner Verpflichtung, Recht zu setzen, nicht nachgekommen ist wie auf dem Gebiet der Gleichberechtigung der Geschlechter nach Art. 3 Abs. 2 GG (vgl. dazu auch Weinkauf in seinem Vortrag "Richtertum und Rechtsfindung in Deutschland", Sonderdruck aus Berliner Kundgebung 1952 des Deutschen Juristentages S. 15).
Es ist aber irrig, anzunehmen, daß diese Fragen erst jetzt Bedeutung gewonnen haben. Sie beherrschen vielmehr seit langer Zeit die deutsche Rechtsprechung. So hat das Reichsgericht entgegen seiner früheren aus dem Willen des Gesetzgebers hergeleiteten "subjektiven Auslegungsmethode" schon in seiner Entscheidung vom 6. Februar 1923 im Falle des Streiks der Angestellten und Arbeiter der Allgemeinen Lokal- und Straßenbahngesellschaft in B. dahin entschieden, man dürfe, um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des BGB ausgehen (der Streit betraf die Frage des Annahmeverzugs), sondern müsse vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie sich seitdem entwickelt und in der Gesetzgebung der neuesten Zeit auch ausdrücklich Anerkennung gefunden hätten. Das BGB stehe, den Verhältnissen seiner Entstehungsgeschichte entsprechend, auf einem individualistischen Standpunkt. Inzwischen habe aber der Gedanke der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft Ausbreitung und Anerkennung gefunden, der das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer - wenigstens bei größeren Betrieben - beherrsche (RGZ 106 S. 272 (275)).
Auch in späteren Entscheidungen (RGZ 154 S. 164; 167 S. 22) hat es erneut betont, daß Gesetzesbestimmungen keine starren Normen, sondern je nach den wechselnden Verhältnissen und den herrschenden Anschauungen wandelbar seien und sich deshalb auch diesen anzupassen hätten (vgl. dazu auch Denecke, "Abändernde Gesetzesauslegung im Arbeitsrecht?" in "Recht der Arbeit" 1953 S. 412).
Ebenso hat der Bundesgerichtshof von Anfang an dem Richter zur Pflicht gemacht zu prüfen, ob die frühere Handhabung einer Gesetzesbestimmung bei Änderung der Rechtsauffassung zu einem Ergebnis führe, das noch vertretbar und sittlich gerechtfertigt sei; anderenfalls müsse sie den gewandelten Anschauungen angepaßt werden (vgl. BGHZ 1 S. 90, 315; 2 S. 132). Im Band 3 S. 89, 315 hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich auf den bereits oben erwähnten Art. 20 Abs. 3 GG hingewiesen und den Standpunkt vertreten, daß der Richter nicht an das Gesetz "als eine nicht mehr fortbildungsfähige Norm" gebunden sei. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 1. April 1953 - II ZR 235/52 - ("Betriebsberater" 1953 S. 333) hat "das Recht dem Leben zu dienen und muß die entsprechenden Formen zur Verfügung stellen. Ein pflichtbewußter Richter kann sich der Aufgabe, das Recht notfalls fortzuentwickeln, nicht entziehen".
Das frühere Reichsarbeitsgericht hatte schon in seinen ersten Entscheidungen die Auffassung ausgesprochen, daß bei Auslegung sozialrechtlicher Gesetze mehr ihr Sinn maßgebend sein müsse als ihr rechtsbegrifflicher Gehalt und daß Wandlungen in den sozialen Anschauungen zu berücksichtigen seien (vgl. ARS 1 S. 17; 2 S. 75, 429; 37 S. 240; 40 S. 351; 43 S. 168). Auch das Bundesarbeitsgericht hat sich mit der Frage der Auslegung und Fortbildung des Rechts eingehend beschäftigt und in seinem auch vom Kläger angezogenen Urteil vom 27. Januar 1955 - 2 AZR 479/54 - (Nachschlagewerk des BAG: AP Nr. 4 zu § 11 KSchG) ausgeführt, eine Fortbildung des Rechtes im Wege rechtsändernder Auslegung könne nur in Frage kommen bei Gesetzesbestimmungen, deren bisherige Anwendung und Auslegung auf später überholten Rechtsanschauungen beruhe, mit den neuen Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar sei und zu nicht mehr zu rechtfertigenden Ergebnissen führe und die deshalb im Interesse der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit mit dem neueren Recht in Übereinstimmung zu bringen sei. Alsdann könne und müsse allerdings der Gesetzesbestimmung ein den Grundzügen des neueren Gesamtrechts entsprechender neuer Inhalt gegeben werden, und es könne dabei auch unter Umständen von dem Wortlaut abgewichen werden, die Bestimmung insoweit also nicht mehr angewendet werden (BGHZ 1 S. 90; 3 S. 89, 315). Vorbedingung für solche abändernde Auslegung sei jedoch, daß objektive Grundlagen für die Wandlung der Rechtsanschauung und des Rechtes vorhanden seien. Von bestimmten Kreisen geäußerte Wünsche oder soziale Forderungen allein genügten nicht.
Das Bundesarbeitsgericht will also aus diesen Gründen die Fortbildung des Rechts im Wege der gesetzesändernden Auslegung nur bei älteren, auf überholten Rechtsanschauungen beruhenden Gesetzesbestimmungen zulassen, nicht dagegen bei neueren Gesetzen. Ihre eindeutig getroffenen Regelungen könne der Richter nicht ausdehnen.
Sogar gegen die einschränkende Auffassung des Bundesarbeitsgerichts erhob Hueck in der Anmerkung zu dieser Entscheidung noch erhebliche Bedenken und wies darauf hin, die an sich sehr berechtigte Unterscheidung zwischen älteren und neueren Gesetzen dürfe nicht zu der Annahme verleiten, daß die Rechtsprechung sich über ältere Gesetze bedenkenlos hinwegsetzen könne. Auch für ältere Gesetze sei die Rechtsfortbildung nur in den sehr engen vom Bundesarbeitsgericht aufgezeigten Grenzen und unter sorgfältiger Prüfung der von ihm genannten Voraussetzungen zulässig.
VIII. Bereits in den oben erwähnten Entscheidungen 7 RAr 36/54 und 12/55 hatte sich der erkennende Senat mit diesen Grundsätzen beschäftigt. Er hat dabei darauf hingewiesen, daß sich für eine Rechtsschöpfung keine Möglichkeit geboten hat, da eine Lücke im Gesetz nicht zu erkennen sei. Aber auch eine Fortbildung des Rechts konnte nicht in Erwägung gezogen werden. Es kam dabei nicht entscheidend darauf an, ob etwa auf einem anderen Rechtsgebiet, hier dem des Kündigungsschutzrechts, ein Wandel der Auffassung eingetreten sein könnte; auf diesen Gesichtspunkt hat der Senat bereits in dem Urteil 7 RAr 36/54 hingewiesen. Maßgebend für die etwaige Rechtsfortbildung kann immer nur die Frage sein, ob sich bei dem hier auszulegenden § 113 Abs. 1 Nr. 2 ein Wandel der Auffassung erkennen läßt. Das hat der Senat im oben angeführten Urteil verneint, und er muß bei dieser Auffassung bleiben. Dafür spricht nicht nur der eindeutige Wortlaut dieser Vorschrift, der seit der Notverordnung vom 5. Juni 1931 bis zur Aufhebung des § 113 und anderer Bestimmungen durch die Verordnung über Arbeitslosenhilfe vom 5. September 1939 (RGBl. I S. 1674) immer derselbe geblieben ist. Besonders zu beachten ist auch, daß § 113 Abs. 1 Nr. 2, nachdem er jahrelang außer Kraft gesetzt war, nach 1945 durch Besatzungs- und Länderrecht im Rahmen der verschiedenen Gesetze über die Arbeitslosenversicherung neu geschaffen wurde, und zwar in der britischen Zone durch die MilRegVO Nr. 111 - in Kraft seit dem 6. Oktober 1947 - (ArbBl. für die britische Zone 1947 S. 382), in der ehemals amerikanischen Zone durch Landesgesetze aus dem Jahre 1947 und in der ehemals französischen Zone durch solche aus den Jahren 1948 und 1949, dabei aber - mit Ausnahme von Berlin - grundsätzlich wieder denselben Wortlaut erhielt wie bei seiner Aufhebung im Jahre 1939. Das kann nicht als bloßer Zufall oder mechanische Übernahme der früheren Vorschrift gewertet werden, da andere Bestimmungen des AVAVG in den einzelnen Gebieten der Bundesrepublik geändert wurden. Zu berücksichtigen ist schließlich, daß die gesetzgebenden Körperschaften der einzelnen Länder politisch keineswegs gleichartig zusammengesetzt waren und diese Vorschrift zu einer Zeit geschaffen wurde, als schon zu erkennen war, nach welchen Grundsätzen ein Neuaufbau der einzelnen Länder erfolgen sollte.
Selbst wenn man aber von der Auffassung ausgehen würde, daß vielleicht zu dieser Zeit, die - soweit es sich um die Gesetze der ehemaligen britischen und amerikanischen Zone handelte - noch vor der Währungsreform lag, bei der großen Arbeitslosigkeit und dem zunächst nur langsam sich entwickelnden Aufbau der deutschen Wirtschaft dieser Frage nicht die ihr zukommende Bedeutung zugemessen worden wäre, so bot sich doch in den folgenden Jahren jederzeit die Möglichkeit einer Änderung. Insbesondere mußte sich, wie in den oben erwähnten Entscheidungen des erkennenden Senats ausführlich dargelegt worden ist, zumindest dem Bundesgesetzgeber bei der Schaffung des Kündigungsschutzgesetzes vom 10. August 1951 (BGBl. I S. 499) die Frage geradezu aufdrängen, ob die Abfindung nach den §§ 7, 8 KSchG in gleicher Weise bevorzugt werden sollte wie seinerzeit die Entschädigung nach § 87 Abs. 1 BRG. Von dieser Möglichkeit hat er aber, obwohl er in § 9 Buchst. c KSchG sogar Arbeitslosenversicherung und -fürsorge mitbehandelt, keinen Gebrauch gemacht. Rechtsprechung und Schrifttum mußten daher den Schluß ziehen, daß § 113 Abs. 1 Nr. 2 weiterhin in der gleichen Weise anzuwenden sei.
Festzustellen ist jedenfalls, daß es sich bei § 113 Abs. 1 Nr. 2 in der jetzigen Fassung um neues Recht handelt und ein Wandel in der Auffassung seiner Bedeutung nicht zu erkennen ist, ein etwaiger Wandel auf dem Gebiet des Kündigungsschutzrechts aber unter den eben geschilderten Umständen den § 113 Abs. 1 Nr. 2 nicht berühren konnte. Eine Änderung in der Auslegung im Wege der Rechtsfortbildung war unter diesen Umständen ausgeschlossen.
Bei dieser eindeutigen Rechtslage wäre auch eine Rechtsfortbildung durch den Großen Senat nicht zu erwarten gewesen. Deshalb sah der erkennende Senat von dessen Anrufung ab.
IX. Auf Grund der vorstehenden Darlegungen mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen