Entscheidungsstichwort (Thema)

Tuberkuloseheilbehandlung bei Unterbringung in Anstaltspflege als Selbstzahler

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, welche Kosten den Rentenversicherungsträger nach RVO § 1244a Abs 1 und 3 treffen, wenn der Berechtigte - als Selbstzahler - gleichzeitig wegen Geisteskrankheit in Anstaltspflege untergebracht ist (Änderung von BSG 1968-08-01 4 RJ 619/64 = SozR Nr 9 zu § 1244a RVO).

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Anspruch auf Heilbehandlung gegen den Rentenversicherungsträger entfällt dann nicht nach RVO § 1244a Abs 7 S 3, wenn der Tuberkulosekranke auf eigene Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist. Eine Anstaltsunterbringung auf eigene Kosten als sogenannter Selbstzahler liegt auch dann vor, wenn der Tuberkulosekranke nur einen Teil der Unterbringungskosten selbst trägt.

In diesem Fall hat der Rentenversicherungsträger nach RVO § 1244a Abs 1 und 3 nur die Kosten zu übernehmen, die zusätzlich durch das Hinzutreten der stationär zu behandelnden Tuberkulose entstehen. An dem Modus der Kostenaufteilung, wie er im Urteil des BSG vom 1968-08-01 4 RJ 619/64 = SozR Nr 9 zu § 1244a RVO aufgestellt ist, wird nicht mehr festgehalten.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 1 Fassung: 1959-07-23, Abs. 3 Fassung: 1959-07-23, Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 21. Januar 1971 wird aufgehoben, soweit dadurch die Beklagte verurteilt worden ist, über die Gewährung stationärer Heilbehandlung für die Zeit vom 1. Mai 1962 bis 31. Oktober 1963 einen neuen Bescheid zu erteilen.

Insoweit wird der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.

 

Gründe

Der Kläger bezieht seit 1953 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Seit 1957 ist er wegen Geisteskrankheit (Schizophrenie) in einem Landeskrankenhaus untergebracht. Im August 1961 mußte er, wie schon vorher einmal, von der Allgemeinen Psychiatrischen Abteilung dieses Krankenhauses in dessen Tbc-Abteilung verlegt werden. Er litt an Lungentuberkulose. Mit der Klage verlangt er von der Beklagten die Übernahme der Kosten, die für seine stationäre Behandlung in der Zeit vom 9. August 1961 bis 31. Oktober 1963 entstanden sind. Die Beklagte hielt sich zur Leistung nicht für verpflichtet, weil der Kläger wegen Geisteskrankheit untergebracht und damit der Tatbestand erfüllt sei, bei dem der Anspruch auf Tuberkuloseversorgung durch den Träger der Rentenversicherung entfalle (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Das Sozialgericht (SG) hatte die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hatte ihr dagegen stattgegeben. Sein Urteil (Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 8. Mai 1964) hatte das Bundessozialgericht (BSG) aufgehoben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Urteil vom 1. August 1968 - 4 RJ 619/64 -). Das BSG stimmte mit dem LSG in der Auffassung überein, daß der Anspruch des Klägers auf Heilbehandlung (§ 1244 a Abs. 1 und 3 RVO) nicht ohne weiteres infolge seines Anstaltsaufenthalts entfallen sei (Abs. 7 Satz 3 aaO). Dies treffe dann nicht zu, wenn der Versicherte oder Rentner die Kosten seiner Unterbringung aus eigenen Mitteln bestreite. Insoweit war jedoch nach Auffassung des BSG der Sach- und Streitstoff noch nicht ausreichend geklärt. Vielmehr waren einmal die Art und das Ausmaß der Behandlung zu ermitteln, die durch die Tbc-Erkrankung verursacht worden waren, und zum anderen war zu untersuchen, in welchem Verhältnis die dadurch bedingten Aufwendungen zu den gesamten Unterbringungskosten standen. In bezug auf den jetzt noch interessierenden Zeitabschnitt (nach dem 30. April 1962) erschienen dem BSG vor allem die Fragen offen, ob der Kläger seinerzeit überhaupt noch wegen Tuberkulose behandlungsbedürftig und ob er für seine Unterbringung aus eigenen finanziellen Kräften aufgekommen war.

Das LSG hat nach erneuter Verhandlung die Beklagte verurteilt, dem Kläger über die Gewährung stationärer Tbc-Heilbehandlung für die Zeit vom 9. August 1961 bis 31. Oktober 1963 einen Bescheid zu erteilen (Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 21. Januar 1971). Die Revision hat es nicht zugelassen. Die Beklagte hat gleichwohl das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen. Sie vermißt die Prüfung, ob der Kläger sich in der Zeit vom 1. Mai 1962 bis 31. Oktober 1963 auf öffentliche oder auf eigene Kosten in Anstaltspflege befand. In dieser Beziehung sieht sie die Amtsermittlungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und die Pflicht zur Begründung des richterlichen Urteils (§ 136 Abs. 1 Nr. 6, § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG) als verletzt an.

Soweit die Beklagte verurteilt worden ist, in bezug auf die Heilbehandlung des Klägers in der Zeit bis zum 30. April 1962 einen Leistungsbescheid zu erteilen, ist die Revision nicht statthaft. Sie ist von dem LSG nicht zugelassen worden. Diesen Teil des Urteils hat die Beklagte auch nicht wegen einer Verfahrensrechtswidrigkeit angefochten. Dies wäre aber Voraussetzung für eine Nachprüfung des Berufungsurteils durch das BSG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Im übrigen ist die Revision jedoch zulässig, weil mit ihr ein wesentlicher Verfahrensmangel formgerecht geltend gemacht worden ist (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das Berufungsgericht hat sich damit begnügt festzustellen, daß der Kläger "am 9. August 1961 nicht auf öffentliche, sondern auf eigene Kosten ... als Selbstzahler" untergebracht worden war. Es hat dagegen nicht geklärt, aus welchen Mitteln die Unterbringung in dem Zeitabschnitt vom 1. Mai 1962 an finanziert worden ist. Darauf, daß der Sachverhalt in dieser Beziehung eine Lücke aufweise, hatte das BSG in seinem Urteil vom 1. August 1968 aufmerksam gemacht und ausgeführt, die rechtliche Beurteilung des Streitfalles mache eine Ausdehnung der Tatsachenerhebungen auf diese Zeitspanne erforderlich. - Die Nichtaufklärung des Sachverhalts in dem näher bezeichneten Punkt bedeutet einen Verstoß gegen das Verfahrensrecht (§ 103 SGG). Mit dem hierauf gegründeten Revisionsangriff hat sich die Beklagte das Rechtsmittel eröffnet. Da nicht auszuschließen ist, daß das Berufungsurteil ohne den angeführten Mangel in dem hier interessierenden Teil anders ausgefallen wäre, ist die Revision auch begründet. Damit die noch nötigen Beweiserhebungen nachgeholt werden können, ist das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Für die abschließende Entscheidung des Berufungsgerichts erscheint der Hinweis angebracht, daß der Kläger auch dann als "Selbstzahler" anzusehen ist, wenn er zu den Aufwendungen für seine Unterbringung nur einen Teil beigesteuert haben sollte. Denn auch dann war die Tuberkulose-Behandlung nicht anderweit sichergestellt. Infolgedessen hätte keine der Pflicht des Rentenversicherungsträgers vorhergehende Verantwortlichkeit zur Tuberkulosehilfe im Sinne des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO bestanden.

Im Berufungsverfahren sind nach dem zurückverweisenden Urteil des Senats Überlegungen darüber angestellt worden, ob zwischen der Rechtsprechung des 12. Senats des BSG (Urteil vom 31. Januar 1968 - 12 RJ 620/64 - SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO) und dem Urteil des erkennenden Senats vom 1. August 1968 (- 4 RJ 619/64 - SozR Nr. 9 zu RVO § 1244 a) ein Widerspruch bestehe. Der erkennende Senat hatte ausgeführt, die Kosten der Heilbehandlung seien zwischen dem Träger der Anstaltspflege und dem Träger der Rentenversicherung aufzuteilen. Die Aufteilung sei so vorzunehmen, daß der Träger der Rentenversicherung die "gesamten Unterbringungs- und Behandlungskosten im Landeskrankenhaus" übernehmen müsse, "es sei denn, daß die Kosten einer stationären bloßen Tbc-Heilbehandlung hinter den tatsächlich entstandenen Gesamtkosten - einschließlich der Unterbringung wegen Geisteskrankheit - zurückblieben; die mögliche Differenz gehe nicht zu Lasten des Trägers der Rentenversicherung". Der 12. Senat hatte entschieden, daß der Rentenversicherungsträger "nur" diejenigen Heilbehandlungsmaßnahmen zu finanzieren habe, die "wegen" Tbc gewährt würden. Der 12. Senat bezog sich dabei auf die Fassung des § 1244 a Abs. 1 RVO, wonach Versicherte, Rentner usw. bei Erkrankung an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose "wegen dieser Erkrankung" einen Anspruch auf Wiederherstellungsmaßnahmen haben. Aus dieser Fassung und der daran geknüpften Ausführungen hat die Beklagte gefolgert, daß der 12. Senat die Auffassung vertrete, von dem Rentenversicherungsträger seien bloß die durch die Tbc-Bekämpfung im einzelnen nachweisbar entstandenen Aufwendungen zu ersetzen.

Den Ausführungen des 12. Senats dürfte die Beklagte mehr entnommen haben, als dieser hat aussprechen wollen. Dies kann jedoch auf sich beruhen. Nach nochmaliger Prüfung hält der erkennende Senat an dem Modus der Kostenaufteilung, wie er ihn früher aufgestellt hat, nicht mehr fest. Die Gegenüberstellung von Gesamtkosten und Kosten einer "stationären bloßen Tbc-Heilbehandlung" rechnet mit - was die letzteren Kosten anbetrifft - einer hypothetischen Größe. Näherliegend erscheint der Vergleich zwischen effektiv verursachten Kosten. Im Anschluß an die wirklichen Gegebenheiten läßt sich unschwer und unmittelbarer ermitteln, welche Kosten zusätzlich durch das Hinzutreten der stationär zu behandelnden Tuberkulose hervorgerufen worden sind. Diese Berechnungsweise wird dem Kausalitätsgedanken gerecht, der in § 1244 a Abs. 1 RVO seinen Ausdruck gefunden hat. Vor allem hält sich diese Lösung an eine der Grunderwägungen des § 1244 a RVO, nämlich der, daß jeder Tbc-Versorgungsträger regelmäßig für die Kosten der von ihm eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen selbst einzustehen hat, und zwar unter Ausschaltung des Rückgriffs auf einen anderen, sonst in Betracht kommenden Verpflichteten (Begründung zu § 24 des Regierungsentwurfs eines Gesetzes über die Tbc-Hilfe, BT-Drucks. III/349). Zu Kosten, auf deren Entstehung und Ausmaß der Träger der Rentenversicherung keinen direkten Einfluß hat, weil ihm die Verantwortung für die Tbc-Bekämpfung genommen ist (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO), soll er im allgemeinen nicht beizutragen haben, allenfalls in Gestalt von Zuschüssen. Hinzu kommt das Argument der Sachangemessenheit. Die Dauer der stationären Heilbehandlung wegen Tbc kann durch die Geisteskrankheit beeinflußt werden. Infolge der Geisteskrankheit kann die Therapieresistenz erhöht oder der Heilbehandlungserfolg verzögert sein. Unter diesen Umständen erscheint es gerechtfertigt, daß nur diejenigen Aufwendungen zu Lasten des Rentenversicherungsträgers gehen, die speziell für die Tbc-Heilbehandlung nötig sind.

Über die Pflicht zur Kostenerstattung für das Revisionsverfahren bleibt die Entscheidung dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669659

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