Entscheidungsstichwort (Thema)
Beurteilungsmaßstab für MdE-Feststellung bei mehreren Behinderungen. funktionale Betrachtungsweise. Gesamtwürdigung bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen. MdE-Bewertung durch medizinische Sachverständige. Kompetenz des Gerichts bei Beurteilungen auf medizinischem Gebiet
Orientierungssatz
1. Liegen mehrere Behinderungen vor, ist zur Feststellung der MdE (ab 1.8.86 Grad der Behinderung/GdB) eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Dies erfordert eine funktionale Betrachtungsweise. Sie geht dahin, in einer "Gesamtbeurteilung" zu bemessen, wie im Einzelfall die durch alle Störungen bedingten Funktionsausfälle, teilweise einander verstärkende, gemeinsam die Erwerbsfähigkeit iS des § 30 Abs 1 BVG beeinträchtigen (ständige Rechtsprechung des BSG, in Anlehnung hieran jetzt auch § 3 Abs 1 S 1 und 3 SchwbG idF vom 26.8.86).
2. Zur Frage, wie alle Behinderungen sich im Zusammenwirken zueinander funktional auswirken, bedarf es einer medizinischen Beurteilung. Zwar ist die Bewertung der MdE nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen (vgl BSG 17.12.1975 2 RU 35/75 = BSGE 41, 99, 101 = SozR 2200 § 581 Nr 5). Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen (vgl BSG vom 15.3.1979 9 RVs 16/78 = SozR 3870 § 3 Nr 5) sind ärztliche Meinungsäußerungen unerläßlich. Ihnen kommt zwar bei der MdE-Schätzung keine bindende Wirkung zu; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 1 Fassung: 1979-10-08; SchwbG § 3 Abs 3 Fassung: 1979-10-08; SchwbG § 3 Abs 1 S 1 Fassung: 1986-08-26; SchwbG § 3 Abs 1 S 3 Fassung: 1986-08-26; BVG § 30 Abs 1; SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.08.1984; Aktenzeichen L 8 Vs 163/83) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 04.03.1980; Aktenzeichen S 8 Vs 126/79) |
Tatbestand
Streitig ist in dem nunmehr zum zweiten Mal anhängigen Revisionsverfahren die Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderter nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Die bei ihm bestehenden degenerativen Veränderungen an der Brust- und Lendenwirbelsäule sind von der Versorgungsverwaltung als Behinderung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH anerkannt. Der nach § 2 Abs 1 Buchst b Schwerbeschädigtengesetz vom 14. August 1961 (BGBl I 1233) einem Schwerbeschädigten gleichgestellte Kläger hatte im vorangegangenen Verfahren mit seinem Begehren, ihm die Schwerbehinderteneigenschaft nach § 3 Abs 2 SchwbG oder nach der Übergangsvorschrift des Art III § 5 Abs 1 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbehindertenrechts vom 24. April 1974 (BGBl I 981) zuzuerkennen, keinen Erfolg. Der erkennende Senat hat jedoch mit Urteil vom 20. April 1983 (SozR 3870 § 3 Nr 16) das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) aufgehoben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückverwiesen, weil nicht auszuschließen sei, daß wegen einer höheren als bisher festgestellten MdE die Schwerbehinderteneigenschaft zu bejahen sei.
Das LSG hat nach Beiziehung mehrerer Befundberichte das Urteil des Sozialgerichts (SG) geändert, den Beklagten zur Anerkennung weiterer Behinderungen verurteilt und, soweit die Schwerbehinderteneigenschaft im Streit stand, die Klage abgewiesen.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-; § 3 SchwbG). Das LSG habe - meint der Kläger - seine Erkenntnisse aus den Befundberichten der behandelnden Ärzte gewonnen. Worauf die dazu erforderlichen medizinischen Erkenntnisse beruhten, habe das Berufungsgericht nicht aufgezeigt. Zur Feststellung der Gesamt-MdE sei eine medizinische Beurteilung geboten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen zu einer abschließenden Entscheidung in der Sache nicht aus.
Nach § 3 Abs 1 und Abs 3 SchwbG sind die Auswirkungen der festgestellten Behinderungen auf die Erwerbsfähigkeit "in ihrer Gesamtheit" entsprechend § 3 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu bemessen. Liegen mehrere Behinderungen vor, ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Dies erfordert eine funktionale Betrachtungsweise. Sie geht dahin, in einer "Gesamtbeurteilung" zu bemessen, wie im Einzelfall die durch alle Störungen bedingten Funktionsausfälle, teilweise einander verstärkend, gemeinsam die Erwerbsfähigkeit iS des § 30 Abs 1 BVG beeinträchtigen (BSGE 48, 82, 84 = SozR 3870 § 3 Nr 4). In Anlehnung an diese ständige Rechtsprechung des Senats hat der Gesetzgeber nunmehr in § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF der Bekanntmachung der Neufassung des Schwerbehindertengesetzes vom 26. August 1986 (BGBl I 1421) bestimmt: "Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht." Zusätzlich ist in § 3 Abs 1 Satz 3 BVG ausgesprochen: "Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich." Obwohl diese gesetzliche Neuregelung erst am 1. August 1986 in Kraft getreten ist (Art 10 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes vom 24. Juli 1986 -BGBl I 1110, 1119-); waren diese Rechtsgrundsätze nach der zuvor genannten Rechtsprechung des Senats schon bisher der allein maßgebliche Beurteilungsmaßstab für die Festsetzung der MdE (nach § 1 SchwbG idF der Neufassung "Grad der Behinderung").
Daran hat sich das Berufungsgericht nicht orientiert. Es hat lediglich auf - in einem Fall sogar ein Jahr zurückliegende - Befundberichte abgehoben, die nicht oder zumindest nicht in ausreichendem Maße die einzelnen Funktionsausfälle der angegebenen Gesundheitsstörungen wiedergeben und letztlich nichts darüber aussagen, wie alle Behinderungen sich im Zusammenwirken zueinander funktional auswirken. Hierzu hätte es einer medizinischen Beurteilung bedurft. Zwar ist die Bewertung der MdE nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen (BSG 41, 99, 101 = SozR 2200 § 581 Nr 5). Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen (BSG SozR 3800 § 3 Nr 5) sind ärztliche Meinungsäußerungen unerläßlich. Ihnen kommt zwar bei der MdE-Schätzung keine bindende Wirkung zu; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage, so auch hier.
Im übrigen hätte es im Berufungsurteil einer eindeutigen Aussage darüber bedurft, welche Kompetenz dem LSG für seine auf medizinischem Gebiet liegende Beurteilung zukommt und worauf diese medizinische Sachkunde beruht (BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG; BSGE 21, 230, 234 = SozR Nr 26 zu § 368a RVO und seitdem ständige Rechtsprechung). Ausführungen darüber fehlen im Berufungsurteil.
Das Berufungsgericht wird nunmehr die erforderliche Sachaufklärung durchzuführen haben.
Das LSG hat auch über die Kosten dieses Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen