Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob Messejungen und Messestewards auf Kauffahrteischiffen sich in Berufsausbildung befinden.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1262 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 23. Mai 1960 und des Sozialgerichts Bremen vom 29. April 1959 abgeändert. Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheides vom 11. November 1957 verurteilt, dem Kläger Waisenrente über den 30. September 1957 hinaus bis zum 31. Dezember 1957 zu gewähren. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am 9. September 1939 geborene Kläger erhielt von der Beklagten bis zum Ablauf des Monats, in dem er sein 18. Lebensjahr vollendete, also bis zum 30. September 1957, eine Waisenrente aus der Rentenversicherung seines seit 1942 für tot erklärten Vaters.
Vom 27. Dezember 1955 an fuhr der Kläger zwei Jahre lang als Messejunge und anschließend ein weiteres Jahr als Messesteward auf dem Motorschiff "N." der Reederei C. M jr. in H
Am 7. September 1957 beantragte der Kläger, ihm die Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus weiterzugewähren, weil er sich noch in Berufsausbildung befinde; die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. November 1957 ab; die Tätigkeit des Messejungen und Messestewards sei keine Ausbildung, sondern ein Arbeitsverhältnis, bei dem die Höhe des tariflichen Lohnes sich nach der Dauer der Berufsausübung richte.
Auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Auskünfte und Erklärungen der Reederei, der Arbeiterkammer Bremen, der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr und des Verbandes Deutscher Reeder beigezogen und den Ersten Offizier des Motorschiffs "N." als Zeugen über den Dienst des Klägers auf diesem Schiff vernommen. Durch Urteil vom 29. April 1959 hat es den ablehnenden Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1957 bis einschließlich Dezember 1958 eine Waisenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die vom SG in den Gründen des Urteils zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. Mai 1960 als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger habe bis zur Beendigung seiner Tätigkeit als Messesteward in einem Ausbildungsverhältnis gestanden, so daß ihm die Waisenrente bis Ende Dezember 1958 zugestanden habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 6. Juli 1960 ihr zugestellte Urteil hat die Beklagte am 23. Juli 1960 beim Bundessozialgericht (BSG) Revision eingelegt. Sie hat das Rechtsmittel gleichzeitig begründet und die Begründung durch einen Schriftsatz vom 4. Februar 1963 ergänzt. Sie rügt Verletzung des § 1267 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und meint, dem Kläger stehe die Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr zu, weil er sich als Messejunge und Messesteward nicht in einer echten Berufsausbildung im Sinne der genannten Vorschrift befunden habe. Von einer Berufsausbildung könne nur gesprochen werden, wenn feststehe, daß eine Arbeitstätigkeit in der Hauptsache die Ausbildung für einen künftigen entgeltlichen Beruf bezwecke, nicht dagegen, wenn der Ausbildungszweck in den Hintergrund und die Verwertung der Arbeitskraft, insbesondere durch den erzielten Lohn, in den Vordergrund trete. Wenn der Erste Offizier des Motorschiffs "N." im ersten Rechtszuge als Zeuge bekundet habe, daß ein Messejunge im ersten Jahr seiner Tätigkeit in der Hauptsache mit Geschirrspülen und der Reinigung der Kajüten, Fußböden, Flure, Waschhäuser und ähnlichem beschäftigt werde und im zweiten Jahr seine Kenntnisse zu vervollkommnen habe, so ergebe sich daraus, daß in Wirklichkeit ungelernte Hilfsarbeiten verrichtet würden. Wie wenig es sich bei der Tätigkeit des Messejungen um eine planmäßige Ausbildung handele, gehe daraus hervor, daß nach dieser Aussage der Kläger nur durch einen Messesteward, also einen "Mitlehrling", im Bedienen unterwiesen worden sei und nach den vom SG zugezogenen Auskünften die Ausbildungsvoraussetzungen für den Beruf des Stewards auch durch den Nachweis einer zweijährigen Fahrzeit als Aufwäscher erfüllt werden könnten.
Woher das LSG seine Kenntnis geschöpft habe, die Ausbildung des Klägers sei vom Ersten Offizier des Schiffes überwacht worden, sei unklar. Aus den in erster Instanz beigezogenen Auskünften gehe lediglich hervor, daß die Jungdienstgrade des Bedienungspersonals der Schiffsführung unterstünden. Daß sich diese auch um die Ausbildung gekümmert habe, gehe daraus nicht hervor. Für die Beschäftigung des Stewards werde also keineswegs der Nachweis irgendwelcher Fachkenntnisse, sondern nur der Nachweis einer Fahrenszeit als Messejunge und Messesteward gefordert. Wenn auch das BSG im Hinblick auf die Verordnung über die Eignung und Befähigung der Schiffsleute des Decksdienstes auf Kauffahrteischiffen die Tätigkeiten der Schiffsjungen, Jungmänner und Leichtmatrosen als Berufsausbildung anerkannt habe, so betreffe diese Entscheidung doch nicht die Tätigkeiten der Messejungen und Messestewards, weil Ausbildungsbestimmungen, wie sie in der genannten Verordnung für das Personal des Decksdienstes getroffen seien, für das Bedienungspersonal fehlten.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG Bremen vom 29. April 1959 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Bremen zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig. Sie ist auch überwiegend begründet.
Nach Art. 2 § 20 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gilt § 1267 RVO auch für Versicherungsfälle vor dem Inkrafttreten des ArVNG, d. h. vor dem 1. Januar 1957. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ist also nach § 1267 RVO zu beurteilen, obgleich kraft Todeserklärung vermutet wird (§ 9 des Verschollenheitsgesetzes), daß der versicherte Vater des Klägers 1942 gestorben, der Versicherungsfall seines Todes also vor dem 1. Januar 1957 eingetreten ist.
Nach § 1267 Abs. 1 RVO erhält nach dem Tode des Versicherten sein unverheiratetes Kind auch über das 18. Lebensjahr hinaus eine Waisenrente dann, wenn es sich in Berufsausbildung befindet.
Der Streit geht darum, ob der Kläger sich als Messejunge und als Messesteward in Berufsausbildung befand. Die Vorinstanzen haben dies bejaht, aber nur zum Teil mit Recht. Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO ist die Ausbildung für einen in Zukunft gegen Entgelt auszuübenden Beruf, welche die Zeit und Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nimmt (BSG in ständiger Rechtsprechung im Anschluß an die Rechtsprechung des RVA zu demselben Rechtsbegriff; vgl. BSG 9, 196, 198; 14, 285 mit weiteren Nachweisen; SozR RVO § 1267 Bl. Aa 9 Nr. 7).
Daß die Tätigkeit des Klägers als Messejunge und Messesteward dazu gedient hat, später den Beruf des Stewards ausüben zu können, wird auch von der Beklagten nicht bezweifelt. Sie meint jedoch, daß es sich bei diesen Tätigkeiten nicht um eine geregelte Ausbildung, sondern um eine nur nebenbei zu Ausbildungszwecken geleistete Hilfsarbeit gehandelt habe, die Voraussetzung dafür sei, später als Steward arbeiten zu dürfen.
Daß der Kläger während seiner Tätigkeit als Messejunge und Messesteward für die Reederei nützliche Arbeit geleistet hat, ist sicher, steht jedoch der Annahme eines Ausbildungsverhältnisses nicht entgegen (SozR RVO § 1267 Bl. Aa 9 Nr. 7). Sogar bei echten Lehrverhältnissen hat der Lehrling dem Lehrherrn Arbeit zu leisten, und zwar nicht nur Arbeit, die dem Ausbildungszweck dient, wenn nicht die Ausbildung in Lehrwerkstätten erfolgt (vgl. bisher nicht veröffentlichtes Urteil des BSG vom 30.1.1963 - 3 RK 36/59 -). Auch in Lehrverhältnissen ist eine Arbeitsleistung für den Lehrherrn zu erbringen, wenn sie nicht in Gegensatz zum Ausbildungszweck steht. Lediglich die Tätigkeit eines Schülers erschöpft sich im Lernen und hat für den Ausbildenden keinen selbständigen wirtschaftlichen Wert (Hueck/Nipperdey, Lehrb. des Arbeitsrechts, 6. Aufl. 1959, 72 ff, 678).
Jedoch liegt bei Leistung solcher Arbeit ein Ausbildungsverhältnis dann nicht mehr vor, wenn ein - vorhandener - Ausbildungszweck in den Hintergrund, die Verwertung der Arbeitskraft in den Vordergrund tritt (RVA in AN 1929, 159 Nr. 3389). Die Entscheidung des vorliegenden Falles hing mithin maßgeblich davon ab, ob bei der Tätigkeit des Klägers als Messejunge und Messesteward die Ausbildung oder aber die Verwertung der Arbeitskraft überwog. Das erstere hat der Senat für gegeben erachtet, soweit es sich um die Tätigkeit als Messejunge handelt. Hierfür waren folgende Erwägungen maßgebend: Aus der Höhe der Heuer, die der Kläger als Messejunge erzielt hat, lassen sich in dieser Richtung maßgebliche Schlüsse allerdings nicht ziehen, weil, wie das LSG festgestellt hat, einerseits diese Heuer zwar im Vergleich zu den an Land gezahlten Lehrlingsvergütungen recht hoch war - welcher Umstand dafür spricht, daß die Verwertung der Arbeitskraft im Vordergrund stand -, anderseits die Heuer beträchtlich unter der eines Stewards lag, ein Umstand, der den gegenteiligen Schluß nahelegt.
Die Beklagte meint, die Tätigkeit des Klägers als Messejunge sei auch deshalb nicht als Ausbildungsverhältnis im Sinne des § 1267 RVO anzusehen, weil geregelte Unterweisung und geregelte Aufsicht gefehlt haben. Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen trifft dies jedoch nicht zu. Denn das LSG hat festgestellt, daß der Kläger während seiner Tätigkeit als Messejunge einem Messesteward beigegeben und von diesem unterwiesen worden ist und hierbei auch noch der Aufsicht des Ersten Offiziers unterstanden hat. Dabei mag es zutreffen, daß die Feststellung des LSG, die Ausbildung des Klägers habe der Aufsicht des Ersten Offiziers unterstanden, sich nicht ohne weiteres aus dem Inhalt der Akten ergibt. Das besagt aber nichts für ihre Unrichtigkeit. Nach den Unterlagen, die dem LSG für seine Feststellung zur Verfügung standen, ist der Kläger als Messejunge zum Teil in unmittelbarer Nähe der Schiffsoffiziere ausgebildet worden, insbesondere auch zum Bedienen in der Offiziersmesse herangezogen worden. Anzunehmen, daß hierbei seine Ausbildung zumindest von ihrem Ergebnis her nicht von den Schiffsoffizieren, auch vom Ersten Offizier, beaufsichtigt worden sei, würde der Lebenserfahrung widersprechen. Die in Rede stehende Feststellung des Berufungsgerichts ist daher nicht zu beanstanden.
Richtig ist es freilich, daß nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die ihrerseits insbesondere auf der Aussage des Ersten Offiziers beruhen, der Kläger als Messejunge nahezu vom ersten Tage seiner Tätigkeit an auch schon nützliche Arbeit an Bord verrichtet hat. In Anbetracht des erheblichen Umfanges dessen aber, was der Kläger in zwei Jahren als Messejunge lernen mußte, um dann, wie das Berufungsgericht ebenfalls festgestellt hat, selbständig als Messesteward in der Offiziersmesse tätig und auch einem Einsatz im Salon gewachsen zu sein, und in Anbetracht seiner ständigen Unterweisung, insbesondere durch einen Messesteward, ist der erkennende Senat in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen zu der Auffassung gelangt, daß bei der Tätigkeit des Klägers als Messejunge die Ausbildung überwog. (Ebenso das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 21. Dezember 1962 - 3 AZR 37/62 -.) Demnach hat der Kläger während dieser Zeit in einer Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO gestanden, so daß ihm Waisenrente weiter zustand. Anders war die Rechtslage indes in der Zeit, in der der Kläger Messesteward war. Hier kann von einem Überwiegen der Ausbildung nicht mehr gesprochen werden. Dies ergibt sich einmal aus dem schon erwähnten Umstand, daß der Kläger als Steward für die Offiziersmesse selbständig arbeitete und von dem 1. Steward nur noch in gewissen Feinheiten seines Dienstes unterwiesen wurde, ferner daraus, daß Messestewards als Ausbilder von Messejungen tätig zu werden pflegen, und endlich aus dem Umstand, daß die Messestewards zum Teil gelernte Kellner sind. Wenn auch der Kläger als Messesteward noch nicht das Berufsziel, nämlich den Einsatz als Steward, erreicht hatte, so rechtfertigt dies doch nicht die Annahme, daß die Ausbildung noch angedauert habe. Ein Berufsziel kann außer durch Ausbildung auch durch Sammlung von Erfahrung in Fortsetzung des Berufs und durch Vervollkommnung infolge praktischer Übung erreicht werden, und ein solcher Fall lag hier vor. Nach alledem mußte der Senat zu dem Ergebnis gelangen, daß mit Beginn der Tätigkeit des Klägers als Messesteward, d. i. ab 1. Januar 1958, nicht mehr die Voraussetzung des § 1267 Abs. 1 RVO erfüllt war, von der die Rechtsfolge der Waisenrente abhängt, weil sich der Kläger nicht mehr in Berufsausbildung befand. Dieser Entscheidung steht nicht die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 22. November 1962 (SozR RVO § 1267 Bl. Aa 9 Nr. 7) entgegen, weil diese Entscheidung nicht einen Messesteward, sondern einen Leichtmatrosen betraf. Der Leichtmatrose kann aber im Gegensatz zum Messesteward den Vollberuf (Matrose) nur auf dem Wege über eine im einzelnen genau geregelte umfassende Ausbildung und erfolgreiche Ablegung einer Fachprüfung erlangen (Verordnung über die Eignung und Befähigung der Schiffsleute auf Kauffahrteischiffen vom 28. Mai 1956 - BGBl II 591).
Da sonach die von der Beklagten angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts zum Teil auf unzutreffender Auslegung des § 1267 Abs. 1 RVO und damit auf einer Gesetzesverletzung beruht, waren das angefochtene Urteil, das erstinstanzliche Urteil und der Bescheid der Beklagten vom 11. November 1957 dahin abzuändern, daß dem Kläger Waisenrente bis zum 31. Dezember 1957, nicht aber darüber hinaus, zu gewähren ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen