Leitsatz (amtlich)
Einem Verladearbeiter (Stauer) in einem Seehafen, der weder gelernter Arbeiter noch angelernter Arbeiter im Sinne eines anerkannten Anlernberufes ist, können alle Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, mit Einschluß solcher einfacher Art im Sinne der Entscheidung vom 1963-05-28 (Vergleiche BSG 1963-05-28 12/4 RJ 30/60 = SozR Nr 32 zu § 1246 RVO), zugemutet werden.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 3. August 1960 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der im Jahre 1905 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war bis 1928 in verschiedenen Berufen, vor allem als Bauarbeiter beschäftigt. Von 1928 bis 1940 arbeitete er als Verladearbeiter (Stauer) im Hafen von Bremen. Seit 1948 übte er keine geregelte Beschäftigung mehr aus. Wegen aktiver Lungentuberkulose und einer Netzhaut-Aderhaut-Narbe bezog er Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. und seit November 1957 nach einer MdE um 70 v. H.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger am 15. März 1950 wegen der aktiven Lungentuberkulose ab 1. November 1949 die Invalidenrente.
Bei einer Nachuntersuchung im März 1958 kam der ärztliche Sachverständige zu dem Ergebnis, der Tuberkuloseprozeß habe sich stabilisiert, so daß der Kläger die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters in mittelschwerer Beschäftigung mit zeitweisen Unterbrechungen sechs Stunden täglich wieder verrichten könne. Darauf entzog die Beklagte durch Bescheid vom 12. Mai 1958 dem Kläger die Rente mit Ablauf des Monats Juni 1958, weil er infolge wesentlicher Änderung der Verhältnisse nicht mehr berufsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger die Versichertenrente über den Monat Juni 1958 hinaus weiterzugewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten zurückgewiesen, nachdem es Sachverständige für den Beruf des Stauers gehört hatte. Es hat den Kläger, obwohl sein Gesundheitszustand sich gebessert habe und obwohl er noch zu gewissen Arbeiten fähig sei, doch deswegen für berufsunfähig erachtet, weil er zur Verrichtung der Arbeit als Stauer nicht mehr fähig sei und ein Arbeiter wie er, der viele Jahre als Stauer gearbeitet habe, sich nicht auf einfache Arbeiten verweisen zu lassen brauche. Da die Invalidenrente des Klägers, die gemäß Art. 2 § 38 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gelte, gemäß Art. 2 § 24 ArVNG in Verbindung mit § 1286 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nur dann entzogen werden könne, wenn der Versicherte nicht mehr berufsunfähig sei, sei die Rente zu Unrecht entzogen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 19. Oktober 1960 ihr zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27. Oktober 1960 beim Bundessozialgericht (BSG) Revision eingelegt und das Rechtsmittel durch einen am 25. November 1960 beim BSG eingegangenen Schriftsatz begründet.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Bremen vom 3. August 1960 und des SG Bremen vom 9. Oktober 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Bremen zurückzuverweisen.
Sie rügt die Verletzung der §§ 1286 Abs. 1 Satz 1, 1246 Abs. 2 RVO. Sie meint, das LSG habe die Erwerbsfähigkeit des Klägers zu Unrecht nur nach der Tätigkeit des Stauers beurteilt. Der Stauer sei kein Anlernberuf, sondern verrichte ebenso wie der unständige Hafenarbeiter eine ungelernte Arbeit. Beide erhielten den gleichen, und zwar den geringsten Schichtlohn unter den Hafenarbeitern. Die Stauerarbeit könne nach kurzer, auch bei anderen ungelernten Arbeiten üblicher Einarbeitungszeit ausgeübt werden. Sie erfordere lediglich körperliche Kräfte und eine gewisse Übung. Der Stauer benötige im Gegensatz zum Küper auch keine qualifizierten Kenntnisse über die Ladungsgüter und die Verladung, weil er weder die Reihenfolge noch Art der Verladung beeinflussen könne. Ihn treffe keine besondere Verantwortung. Die Verladung und Stauerarbeit werde von einem Oberstauer und von einem Schiffsoffizier nach dem Stauplan geleitet und überwacht. Insgesamt unterscheide sich die Arbeit des Stauers nicht von anderen ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes. Der Kläger müsse sich daher auch auf andere leichtere ungelernte Arbeiten verweisen lassen. Er sei infolge wesentlicher Änderung seiner Verhältnisse imstande, mittelschwere Arbeiten mit Unterbrechung bis zu sechs Stunden und leichte Arbeiten im Sitzen acht Stunden täglich zu leisten. Mit diesem Leistungsvermögen könne er die Arbeiten des Fließbandarbeiters, Werkzeugausgebers sowie des Tallymanns und Karteiführers im Hafen verrichten.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er weist ferner darauf hin, daß er die Tätigkeit des Tallymanns und Karteiführers nicht ausüben könne, weil ihm die hierfür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten fehlten.
Die von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§§ 164, 166 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und damit zulässig.
Die Beteiligten streiten im Revisionsverfahren darüber, ob der Kläger, der seinen Beruf als Stauer auszuüben nicht mehr fähig ist, auf einfache Tätigkeiten eines ungelernten Arbeiters verwiesen werden darf. Das Berufungsgericht hat dies verneint. Dem konnte der Senat nicht folgen.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Auffassung ausgeführt, die Arbeit des Stauers im Bremer Hafen gehöre nicht zu den Arbeiten einfachster Art, die keine besonderen beruflichen Anforderungen stellten; es handele sich bei einem Stauer "nicht um einen ungelernten Arbeiter im üblichen Sinne", vielmehr handele es sich bei seiner Tätigkeit um eine angelernte - diese allerdings nicht im Sinne eines anerkannten Anlernberufs verstanden-; zur Ausübung dieser Tätigkeit seien - wenn auch Oberstauer die Verladung leiteten - Kenntnisse über die verschiedenen Ladungsgüter und deren Verstauung, ferner Kenntnisse zum Bedienen von Winden und Kränen sowie Begabung, Genauigkeit und, da die Arbeit auch andere Personen gefährden könne, Verantwortungsbewußtsein erforderlich. Ein unständiger Hafenarbeiter werde daher in der Regel erst nach eineinhalb- bis zweijähriger Kajearbeit als zum Stammpersonal der Gesamthafen-Betriebe gehörig in der Stauerei eingesetzt. In den Häfen Rotterdam und Amsterdam seien eigene Stauerschulen errichtet worden; dies sei auch im Bremer Hafen geplant, um geschulte Stauer heranzubilden.
Diese Ausführungen des Berufungsgerichts, die, soweit sie Feststellungen von Tatsachen enthalten, nach § 163 SGG das Revisionsgericht binden, besagen - insoweit ist dem Berufungsgericht beizutreten - daß der Kläger nicht zu den einfachen ungelernten Arbeitern gehörte, die ohne eingehendere Einweisung, längere Einarbeitung oder betriebliche Anlernung eingesetzt werden können (BSG in SozR RVO § 1246 Bl. Aa 20 Nr. 32). Andererseits kann aber nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger weder gelernter noch angelernter Arbeiter im Sinne eines anerkannten Anlernberufs ist und daß er auch nicht unter den Verladearbeitern eine gehobene Stellung etwa als Oberstauer, Vormann oder dergl. hatte; seine über zehn Jahre ausgeübte Tätigkeit als Stauer setzte keine besondere Berufsausbildung voraus, sondern konnte bereits nach einer gewissen, wenn auch ausgedehnten Einarbeitungszeit verrichtet werden. Wenn in den holländischen Häfen Rotterdam und Amsterdam sogenannte Stauerschulen bestehen, so ändert dies nichts daran, daß es in den deutschen Häfen weder Stauerschulen noch eine sonstige geregelte Ausbildung für Stauer gibt (vgl. Klugmann, Die Hamburger Hafenarbeiter, Schiffahrts-Verlag H. C. Sc. & Co., 1954, Seite 38). Die bindend festgestellte Tatsache, daß ein unständiger Hafenarbeiter in Bremen in der Regel erst nach eineinhalb bis zwei Jahren Kajearbeiten zu Stauerarbeiten eingesetzt wird, läßt nicht darauf schließen, daß es sich dabei um eine eigentliche Berufsausbildung handelt. Daraus ist zu folgern, daß der unständige Hafenarbeiter sich durch Kajearbeiten selbst genügend Übung und Erfahrung im Umgang mit Ladungsgütern sowie über das Verladen, Verstauen und Löschen von Schiffsladungen verschaffen soll, bevor er zum Stammpersonal gezählt und in der Stauerei verwendet wird. Die durch Kaje- und Stauereiarbeiten erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers sind auch nicht denjenigen eines gelernten Arbeiters gleichzustellen, der regelmäßig eine dreijährige Lehrzeit zurückzulegen hat, oder denjenigen eines angelernten Arbeiters in einem anerkannten Anlernberuf, der regelmäßig eine zweijährige Anlernzeit mit anschließender Prüfung zurücklegen muß. Daß an seine Tätigkeit gewisse nicht unerhebliche Anforderungen auch hinsichtlich Genauigkeit und Verantwortung beim Verstauen und Löschen der Ladung gestellt wurden, trifft zwar zu. Dieser Umstand hob den Kläger aber nicht über die Gesamtheit der anderen ungelernten Arbeiter hinaus. Es hieße den Wert der Arbeit zahlreicher ungelernter Arbeiter verkennen, wollte man davon ausgehen, daß Genauigkeit, Verantwortungsbewußtsein und Intelligenz bei ihrer Verrichtung ohne wesentliche Bedeutung seien.
Nach der Rechtsprechung des BSG muß ein Versicherter, der in vorgeschriebener Anlernzeit von ein bis zwei Jahren für einen anerkannten Anlernberuf ausgebildet worden ist, eine vorgeschriebene Prüfung bestanden hat und in seinem anerkannten Anlernberuf tätig gewesen ist, sich auf solche ungelernten Tätigkeiten verweisen lassen, die nicht zu den Arbeiten einfacher Art gehören, welche ohne eingehendere Einweisung, längere Einarbeitung oder betriebliche Anlernung von jedem gesundheitlich dazu Fähigen ausgeübt werden können (SozR RVO § 1246 Bl. Aa 20 Nr. 32). Da der Kläger weder zu den angelernten Arbeitern in diesem Sinne gehört noch, wie dargelegt, ihnen gleichsteht, muß er sich auf alle ungelernten Tätigkeiten mit Einschluß auch der einfachen verweisen lassen, weil der damit verbundene soziale Abstieg als wesentlich nicht angesehen werden kann und deshalb nicht unzumutbar ist.
Die Revision ist somit begründet. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben.
Der Senat konnte jedoch nicht in der Sache selbst entscheiden, weil die Feststellungen des LSG hierfür nicht ausreichen. Das LSG hat nicht festgestellt, von welchem Leistungsvermögen des Klägers bei der Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit auszugehen ist. Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, wie weit das LSG den Gutachten der ärztlichen Sachverständigen - die überdies nicht in jeder Beziehung übereinstimmen - folgen wollte. Ferner hat das LSG keine Feststellungen darüber getroffen, ob und in welchem Umfang Arbeitsplätze mit Tätigkeiten, für die das erheblich herabgesetzte Leistungsvermögen des Klägers ausreicht, am Wohnsitz des Klägers vorhanden oder für ihn erreichbar sind. Diese Feststellungen sind für die Entscheidung des Rechtsstreits unerläßlich. Die Sache ist daher nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden.
Die Kostenentscheidung ist mit der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung zu treffen.
Fundstellen