Leitsatz (redaktionell)
RVO § 1265 S 2, der die geschiedene Ehefrau eines Versicherten dann günstiger stellt, wenn nach dessen Tod eine Witwenrente nicht zu gewähren ist, unterstellt lediglich die Unterhaltsfähigkeit des geschiedenen Mannes; die Vorschrift läßt aber das weitere Erfordernis für den Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau, deren Unterhaltsbedürftigkeit, unberührt. RVO § 1265 S 2 ist daher nicht anzuwenden, wenn eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten zur Zeit seines Todes wegen ausreichender Einkommens- und Erwerbsverhältnisse der geschiedenen Frau gemäß EheG § 58 nicht bestanden hat. Regelmäßig kann davon ausgegangen werden, daß eine Erwerbstätigkeit, die eine geschiedene Frau zur Zeit des Todes ihres Mannes faktisch ausgeübt hat, von ihr auch zumutbar verrichtet worden ist. Ausnahmen sind bei besonderen Verhältnissen veranlaßt, dann nämlich, wenn die Verweisung der Frau auf ihre ausgeübte Erwerbstätigkeit durch den auf Unterhalt in Anspruch genommenen Mann unbillig wäre (vergleiche dazu BSG 1967-05-31 12 RJ 406/62 = FamRZ 1967, 672 und BGH 1968-09-17 IV ZB 501/68 = FamRZ 1968, 642).
Das Alter der geschiedenen Frau und das Vorhandensein eines minderjährigen Kindes sind für die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit nicht unter allen Umständen entscheidend.
Normenkette
RVO § 1265 S. 2 Fassung: 1965-06-09; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. April 1969 und des Sozialgerichts Schleswig vom 13. September 1967 werden aufgehoben.
Die Klage gegen den Bescheid vom 6. Juni 1966 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob die Klägerin als geschiedene Frau zu Recht Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes nach § 1265 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beansprucht. Im einzelnen ist umstritten, ob die Erwerbstätigkeit, die sie zur Zeit des Todes des Versicherten ausgeübt hat, für sie unzumutbar und sie trotz ihres Arbeitseinkommens unterhaltsbedürftig gewesen ist.
Die 1910 geborene Klägerin hatte im Jahre 1939 den Versicherten O.J. geheiratet; aus der Ehe gingen drei Kinder, geboren 1940, 1941 und 1944, hervor. Die Ehe wurde im August 1954 rechtskräftig geschieden. Die Schuld des Versicherten an der Scheidung überwog. Mit Urteil des Amtsgerichts Westerland vom 3. Dezember 1954 wurde er verpflichtet, an Unterhalt monatlich 50,- DM an die Klägerin zu zahlen. Seit Januar 1957 erhielt er wegen Erwerbsunfähigkeit von der Beklagten eine Versichertenrente. Sie betrug im Jahre 1962 monatlich 103,50 DM ohne Kinderzuschuß. Der Versicherte hatte zumindest seit 1957 keinen Unterhalt an die Klägerin geleistet. Er ist am 2. Dezember 1962 gestorben. Die Klägerin hatte 1955 eine Beschäftigung als Haushaltshilfe im Hotelgewerbe aufgenommen. Sie hatte seit Oktober 1961 aus ihrer Beschäftigung einen monatlichen Nettoverdienst von etwa 300,- DM. Zur Zeit des Todes des Versicherten lebte in ihrem Haushalt noch ihr 18-jähriger Sohn, der sich in einer Lehre befand.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenrente an die Klägerin nach § 1265 Satz 1 RVO in den Jahren 1963 und 1964 ab, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht gegeben seien. Der Versicherte hätte den Unterhaltstitel infolge wesentlicher Änderung in seinen Verhältnissen beseitigen können. Die Klägerin focht diese Bescheide nicht an. Sie beantragte im Mai 1966 Hinterbliebenenrente auf Grund des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (RVÄndG). Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 6. Juni 1966 ab: Auch nach der durch Satz 2 erweiterten Fassung des § 1265 RVO bestehe kein Anspruch, weil beim Tode des Versicherten keine Unterhaltsverpflichtung bestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Juli 1965 Hinterbliebenenrente zu gewähren (Urteil vom 13. September 1967).
Das Landessozialgericht (LSG) Schleswig-Holstein hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision hat es zugelassen (Urteil vom 23. April 1969). Es hat einen Anspruch der Klägerin nach § 1265 Satz 2 RVO bejaht: Die Klägerin sei gegenüber dem Versicherten unterhaltsbedürftig und unterhaltsberechtigt gewesen; ihre Einkünfte aus Arbeit seien nicht zu berücksichtigen, weil ihr eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten gewesen sei. Der Grundgedanke des § 1268 Abs. 2 RVO, wonach Witwen die "große" Witwenrente erhalten, wenn sie das 45.Lebensjahr vollendet haben oder mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erziehen, sei eine Richtschnur des Gesetzgebers, inwieweit er von rentenberechtigten Witwen noch einen zumutbaren Nebenverdienst erwarte. Die Erwerbstätigkeit sei der Klägerin nicht allein wegen des Vorhandenseins eines 18-jährigen, in der Lehre befindlichen Sohnes unzumutbar, sondern auch deshalb, weil die Klägerin nach der Eheschließung ihre frühere Tätigkeit als Hausgehilfin aufgegeben und nur ihren Haushalt und ihre Kinder versorgt habe. Sie habe die Beschäftigung im wesentlichen aufgenommen, um zu ihrem und der Kinder Unterhalt beizutragen; sie habe die Erwerbstätigkeit beibehalten, weil der Versicherte später keinen Unterhalt mehr geleistet habe. Ein unterhaltspflichtiger Ehemann habe von seiner früheren Ehefrau, die einen 18-jährigen Sohn zu versorgen habe und während der Ehe nicht mehr beruflich gearbeitet habe, nicht verlangen können, daß sie im Alter von 52 Jahren wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehme.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie führt aus, nach den Grundsätzen des § 58 des Ehegesetzes 1946 (EheG) sei die geschiedene Frau in der Regel zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet. Der Grundsatz der Gleichberechtigung habe zur Folge, daß es der geschiedenen Frau - unter Berücksichtigung der Besonderheiten ihrer Lage und der Sorge für die Restfamilie - in ähnlichem Umfang wie dem Mann zuzumuten sei, sich selbst zu unterhalten. Dem § 1268 Abs. 2 RVO sei eine für das Unterhaltsrecht nach dem EheG beachtliche Stellungnahme des Gesetzgebers zu der hier streitigen Frage nicht zu entnehmen. Die Annahme des LSG, ein Großteil der berufstätigen Frauen ziehe sich im Alter der Klägerin aus dem Arbeitsprozeß zurück, widerspreche den tatsächlichen Verhältnissen (Hinweis auf die Frauen-Enquête, BTDrucksache V/1909 S. 61 bis 64). Da die Klägerin vor der Ehe Hausgehilfin gewesen und ihre Arbeit nach der Heirat im eigenen Haushalt im wesentlichen gleich geblieben sei, sei es ihr zuzumuten gewesen, an deren Stelle nach der Scheidung in abhängiger Stellung zu arbeiten. Der Verdienst aus eigener Erwerbstätigkeit sei ihr somit anzurechnen. Sie sei deshalb nicht bedürftig im Sinne des § 58 EheG gewesen. Ein Anspruch nach § 1265 Satz 2 RVO bestehe nicht.
Die Klägerin hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß über die Anspruchsvoraussetzungen nach § 1265 Satz 1 RVO in den früheren Verfahren bereits rechtsverbindlich zu Ungunsten der Klägerin entschieden worden sei und daß im vorliegenden Rechtsstreit nur noch darüber zu befinden sei, ob ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach Satz 2 des § 1265 RVO besteht. Entgegen der Auffassung des LSG kann die Klägerin die Rente aber auch nicht nach dieser Vorschrift beanspruchen, weil sie z.Zt. des Todes des Versicherten nicht unterhaltsbedürftig gewesen ist.
§ 1265 Satz 2 RVO unterstellt nach seinem Sinn und Wortlaut lediglich die Unterhaltsfähigkeit des geschiedenen Mannes; die Vorschrift läßt aber das weitere Erfordernis für den Unterhaltsanspruch, daß die geschiedene Frau unterhaltsbedürftig ist, unberührt. Die Vorschrift ist daher nicht anzuwenden, wenn eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten z.Zt. seines Todes wegen ausreichender. Einkommens- und Erwerbsverhältnisse der Klägerin nicht bestanden hat (SozR Nr. 31 zu § 1265 RVO).
Nach § 58 Abs. 1 Ehegesetz (EheG) hat der für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Erträgnisse der Erwerbstätigkeit der Frau nicht ausreichen. Danach muß sich der Unterhalt verlangende Ehegatte bei der Prüfung seiner Unterhaltsbedürftigkeit in der Regel die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit anrechnen lassen.
Das LSG hat festgestellt, daß das Arbeitseinkommen der Klägerin von monatlich 300,- DM z.Zt. des Todes des Versicherten für ihren Unterhalt ausgereicht hat. Es hat indes zu Unrecht das Einkommen als nicht anrechenbar und die Klägerin deshalb als unterhaltsbedürftig angesehen.
Obwohl im geltenden Recht die früher in § 66 Abs. 1 EheG 1938 hinter dem Wort "Erwerbstätigkeit" enthaltenen zusätzlichen Worte "die von ihr den Umständen nach erwartet werden kann" fehlen, kann die Anrechnung von Einkünften aus einer Erwerbstätigkeit der Frau in Ausnahmefällen eingeschränkt sein. Das Bundessozialgericht (BSG) hat dazu bereits entschieden, daß eine geschiedene Frau trotz eigenen Erwerbseinkommens unterhaltsbedürftig ist, wenn der von ihr in Anspruch genommene Mann sie billigerweise auf die Einkünfte nicht verweisen könnte. Dies ist nach den gesamten Umständen des Falles zu beurteilen (SozR Nr. 42 und 45 zu § 1265 RVO; Entscheidung des Senats vom 25. 9. 1969 12 RJ 198/63). Bei der Prüfung der Unterhaltsbedürftigkeit nach § 58 EheG sind zunächst allgemein der Gleichberechtigungsgrundsatz und die Entwicklung der außerhäuslichen Frauenarbeit zu beachten. Das BSG hat unter Anführung der Frauen-Enquête der Bundesregierung und anderer Materialien auf die zunehmende außerhäusliche Berufstätigkeit auch von Müttern mit Kindern unter 14 Jahren hingewiesen und dargelegt, daß selbst z.B. eine Frau mit einem oder zwei schulpflichtigen Kindern die Verrichtung außerhäuslicher Erwerbstätigkeit nicht allgemein als unzumutbar bezeichnen könne (SozR Nr. 42 zu § 1265 RVO). Regelmäßig könne davon ausgegangen werden, daß eine Erwerbstätigkeit, die eine geschiedene Frau z.Zt. des Todes des Mannes ausgeübt hat, von ihr auch zumutbar verrichtet worden ist. Ausnahmen sind bei besonderen Verhältnissen veranlaßt, wenn die Verweisung der Frau auf ihre ausgeübte Erwerbstätigkeit durch den auf Unterhalt in Anspruch genommenen Mann unbillig wäre.
Diesen Grundsätzen wird die Entscheidung des LSG nicht gerecht; insbesondere kann der Unterscheidung in § 1268 Abs. 1 u.2 Satz 1 RVO keine rechtliche Bedeutung für die Auslegung des § 1265 RVO i.V.m. § 58 EheG beigemessen werden. Zwar liegt dieser Unterscheidung, wie dem LSG zuzugeben ist, der Gedanke zugrunde, daß es der älteren und durch besondere Umstände in der Leistungsfähigkeit beeinträchtigten Witwe - anders als der jüngeren oder nicht behinderten Witwe - nicht mehr zugemutet werden soll, durch eigene Erwerbstätigkeit zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Jedoch kann die in § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 RVO für die Gewährung der erhöhten Rente durch den Versicherungsträger bestimmte Altersgrenze von 45 Jahren, obwohl sie nicht allein für die Witwe, sondern auch für den Witwer und den geschiedenen Ehegatten gilt, auf andere Rechtsgebiete nicht übertragen werden; insbesondere kann bei der Beurteilung der Frage, ob der geschiedenen Frau im Rahmen des § 58 EheG eine Erwerbstätigkeit zuzumuten ist, die unterschiedliche Höhe der Witwenrente nach § 1268 Abs. 1 und 2 Satz 1 RVO nicht herangezogen werden; denn die Frage der Zumutbarkeit der Erwerbstätigkeit für die geschiedene Frau ist allein im Verhältnis zum geschiedenen Mann zu betrachten und gemäß § 1265 RVO nach dem EheG zu beurteilen. Dieses Gesetz kennt aber keine derartige Altersgrenze. Entsprechendes gilt, soweit in § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO die Gewährung der erhöhten Witwenrente davon abhängig ist, daß die Witwe ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht. Der Senat vermag daher nicht der Rechtsmeinung des LSG beizutreten, daß die Altersgrenze für die höhere Witwenrente und schon das Vorhandensein eines "waisenrentenberechtigten" Kindes nach § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 u. 2 RVO (ohne Rücksicht darauf, inwieweit das Kind die Zeit oder die Arbeitskraft der Witwe in Anspruch nimmt) bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit der Frau im Rahmen des § 1265 RVO zu berücksichtigen sind.
Das LSG war deshalb, von § 1268 Abs. 1 und 2 RVO ausgehend, zu Unrecht der Rechtsauffassung, die Erwerbstätigkeit sei der Klägerin z.Zt. des Todes des Versicherten wegen ihres Alters von 52 Jahren und der Versorgung eines waisenrentenberechtigten 18-jährigen Sohnes in ihrem Haushalt nicht zuzumuten gewesen. Zudem hat es dabei nicht beachtet, daß die Klägerin die gegen Entgelt verrichtete Arbeit im Hotel nicht erst im Alter von 52 Jahren, sondern schon mit 45 Jahren aufgenommen hat; es hat auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen der Versicherte die Weiterverrichtung dieser Beschäftigung der Klägerin billigerweise nicht hätte zumuten können.
Dagegen hat das LSG für die Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zutreffend angenommen, daß bei der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit die gesundheitliche Leistungsfähigkeit der geschiedenen Frau von Bedeutung ist. Es hat indessen nicht feststellen können, daß die Klägerin z.Zt. des Todes des Versicherten erwerbsunfähig gewesen wäre. Für eine solche Annahme bietet der Sachverhalt auch keine Anhaltspunkte.
Ebenfalls zu Recht hat das LSG angenommen, daß die beruflichen Kenntnisse der Frau zu berücksichtigen sind. Dabei hat es aber nicht beachtet, daß die von ihm festgestellten Tätigkeiten, die das Leben der Klägerin bestimmt haben, stets gleichartig waren und sie also beruflich nicht überfordern konnten: Vor der Ehe die Arbeit als Hausgehilfin, während der Ehe Hausarbeit und Versorgung von Kindern im eigenen Haushalt und nach der Scheidung und dem Heranwachsen der Kinder Haushaltsarbeiten im Hotel.
Insgesamt hat das LSG keine Tatsachen festgestellt, die den Versicherten z.Zt. seines Todes billigerweise gehindert hätten, die Klägerin auf ihre Berufstätigkeit und ihr Arbeitseinkommen zu verweisen. Die Klägerin war deshalb nicht unterhaltsbedürftig. Ein Unterhaltsanspruch bestand demnach nicht. Damit ist auch kein Rentenanspruch nach § 1265 Satz 2 RVO gegeben.
Auf die Revision der Beklagten sind daher das Urteil des LSG und auf ihre Berufung das Urteil des SG aufzuheben.
Die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen