Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterlassung der Vernehmung von Zeugen
Leitsatz (redaktionell)
Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt bereits vor, wenn das Gericht auf die Vernehmung eines Zeugen verzichtet, weil dieser dem Gericht mitgeteilt hatte, er vermöge über das Beweisthema nichts auszusagen.
Um so mehr sind dann die Tatsachengerichte verpflichtet, Zeugenaussagen herbeizuführen, wenn in den dem Gericht vorgelegten Erklärungen zu der maßgebenden Beweisfrage nur keine Angaben enthalten sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Tatsachengerichte die Möglichkeit haben, die Urheber der Erklärungen als Zeugen zur Sache zu hören.
Normenkette
SGG § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. Mai 1968 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem am 5. Juli 1894 geborenen Kläger das Altersruhegeld zusteht.
Der Kläger ist jüdischer Abstammung; er wanderte im Mai 1938 wegen politischer Verfolgung nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika aus. Bei seiner Rentenantragstellung gab er an, vom 26. April 1908 bis 26. April 1911 als kaufmännischer Lehrling und anschließend noch bis Juli 1911 als kaufmännischer Angestellter im Geschäft seines Onkels Jakob K in Frankenberg/Hessen gegen "Kost und Logis" beschäftigt gewesen zu sein.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit der Begründung ab. daß für den Kläger keine auf die Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten vorhanden seien.
Mit der Klage machte der Kläger geltend, während der Beschäftigung bei seinem Onkel sei er von der Vollendung des 16. Lebensjahres am 5. Juli 1910 an und damit bis zu seinem Ausscheiden aus der Firma Ende Mai 1911 nur 11 Monate lang versicherungspflichtig gewesen. Die Invalidenversicherungskarte sei daher offensichtlich nicht zur Aufrechnung gelangt. Soweit sie ihm bei seiner Entlassung ausgehändigt worden sei, sei sie während der verfolgungsbedingten Auswanderung zu Verlust gegangen. Durch diese Beitragsleistung sei zusammen mit den als Ersatzzeiten anzuerkennenden Kriegsdienst- und Verfolgungszeiten die Mindestwartezeit von 180 Versicherungsmonaten für das begehrte Altersruhegeld erfüllt. Der Kläger legte u.a. vier privatschriftliche Erklärungen des Heinrich B. der Selma K, Ella M und Selma St vor, in welchen die Lehrzeit von 1908 bis 1911 und teilweise auch die anschließende Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter bestätigt werden. Vorsorglich benannte er die Aussteller der Erklärungen als Zeugen.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ohne Beweisaufnahme ab.
Im Berufungsverfahren ordnete das Landessozialgericht (LSG) die Vernehmung des in New York wohnenden Ferdinand K als Zeugen durch das dortige Generalkonsulat der Bundesrepublik an. Der Zeuge sagte aus, über eine Beitragsentrichtung für den Kläger zur Rentenversicherung während dessen Beschäftigung bei der Firma Jakob K sei ihm nichts bekannt. Das LSG wies die Berufung des Klägers zurück; es ließ die Revision nicht zu (Urteil vom 7. Mai 1968).
Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Für die Anrechnung der vom Kläger geltend gemachten Versicherungszeiten sei der Nachweis der Beitragsentrichtung erforderlich. Dieser sei nicht erbracht. Selbst wenn man aber die Glaubhaftmachung einer Beitragsentrichtung i.S. des § 1 Abs. 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) für zulässig halten würde, wäre nicht überwiegend wahrscheinlich, daß für den Kläger zu irgend einer Zeit während seiner Beschäftigung bei seinem Onkel in Frankenberg auch Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet worden sind. Eine Versicherungspflicht könne schon deshalb nicht bestanden haben, weil der Kläger damals nach seinen eigenen Angaben nur gegen Kost und Logis beschäftigt gewesen sei. Abgesehen hiervon ergebe sich aus keiner der vom Kläger vorgelegten Erklärungen, daß für ihn aus dieser Tätigkeit Beiträge entrichtet worden sind. Hierzu habe auch der im Berufungsverfahren gehörte Zeuge K keine Angaben machen können.
Mit der rechtzeitig eingelegten und begründeten Revision rügt der Kläger unzureichende Gewährung des rechtlichen Gehörs und mangelnde Sachaufklärung durch das LSG. Er sieht einen wesentlichen Verfahrensmangel u.a. darin, daß das LSG von den vom Kläger benannten Zeugen Selma K, Ferdinand K Selma St, Ella M und Heinrich B nur den Zeugen Ferdinand K vor dem Generalkonsulat der Bundesrepublik in New York habe vernehmen lassen. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, aus dem Beweisangebot des Klägers Aussonderungen zu treffen. Durch die alleinige Vernehmung des Zeugen Ferdinand K - noch dazu mit unzureichender Fragestellung durch das Gericht - sei dem Kläger das rechtliche Gehör versagt und der Beweisantritt rechtserheblicher Tatsachen abgeschnitten worden.
Der Kläger beantragt sinngemäß, den Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hessen (LVA) vom 18. Juli 1966 und die Urteile des SG Frankfurt/Main vom 13. Juli 1967 sowie des Hessischen LSG vom 7. Mai 1968 aufzuheben und das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren; hilfsweise beantragt er sinngemäß die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Sie verneint das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels. Es sei unwahrscheinlich, daß die nicht vernommenen Zeugen eine Beitragsleistung des Klägers hätten bestätigen können.
II
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, da der gerügte wesentliche Verfahrensmangel der unzureichenden Sachaufklärung durch das Berufungsgericht vorliegt.
Das LSG hat in seiner Entscheidung u.a. ausgeführt, aus den vom Kläger vorgelegten Erklärungen ergebe sich nicht, daß für ihn während der Beschäftigung in der Firma Jakob K in Frankenberg Bei träge zur Rentenversicherung entrichtet worden seien. Es hat somit den Inhalt dieser Erklärungen bei seiner Überzeugungsbildung verwertet, ohne die Urheber der Erklärungen als Zeugen auch über eine etwaige Beitragsleistung zur Rentenversicherung während der Beschäftigung zu vernehmen bzw. vernehmen zu lassen.
Das LSG hat durch diese Unterlassung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gegen seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen verstoßen (§ 103 Satz 1 SGG). Danach liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG bereits dann vor, wenn das Gericht auf die Vernehmung eines Zeugen verzichtet, weil dieser dem Gericht mitgeteilt hatte, er vermöge über das Beweisthema nichts auszusagen (vgl. BSG-Urteil vom 25.8.1955 in SozR Nr. 2 zu § 103 SGG). Um so mehr ist dann aber das LSG verpflichtet, Zeugenaussagen herbeizuführen, wenn in den dem Gericht vorgelegten Erklärungen zu der maßgebenden Beweisfrage - hier der Barentlohnung und der Beitragsentrichtung - nur keine Angaben enthalten sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das LSG die Möglichkeit hat, die Urheber der Erklärungen als Zeugen zur Sache zu hören (vgl. BSG-Urteil vom 19.11.1965 in SozR Nr. 47 zu § 103 SGG im Anschluß an BSG 4, 60). Diese Möglichkeit bestand hier aber im Falle der vom Kläger benannten Zeugen Selma K, Selma S, Ella M und Heinrich B ebenso wie im Falle des vom LSG allein gehörten Zeugen Ferdinand K.
Der von der Beklagten in der Revisionserwiderungsschrift gebrachte Einwand, es sei unwahrscheinlich, daß die vom LSG nicht vernommenen Zeugen eine Beitragsleistung des Klägers hätten bestätigen können, ist für die sich aus § 103 Satz 1 SGG ergebende Pflicht des LSG zur Vernehmung dieser Zeugen unbehelflich. Denn diese Argumentation beinhaltet im Wege einer bloßen Unterstellung bzw. Vermutung eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung, welche die Unterlassung von Zeugenvernehmungen nicht rechtfertigen kann (so ständige Rechtsprechung des BSG: vgl. SozR Nr. 2, 4, 6, 9 zu § 103 SGG; vgl. auch Baumbach/Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 27. Aufl., Anm. 3 zu § 286 ZPO mit weiteren Nachweisen).
Entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht durfte auf die Vernehmung der vier genannten Zeugen auch nicht mit der Begründung verzichtet werden, der Kläger habe nach seinen Angaben im Rentenantrag als Entgelt für die Beschäftigung nur freie Kost und Wohnung angegeben und müsse hiernach versicherungsfrei gewesen sein. Ganz abgesehen davon, daß der Kläger diese einmalige Angabe im "Versicherungs- und Beschäftigungsnachweis"-Formular später sinngemäß widerrufen hat und insoweit schon unter Berücksichtigung des Zeitablaufes ein Irrtum auch denkbar ist, hätte sich das LSG aufgrund seiner Pflicht zur Erforschung des gesamten für die Entscheidung wesentlichen Sachverhalts veranlaßt sehen müssen, die Zeugen auch über die Dauer und die Ausgestaltung des damaligen Beschäftigungsverhältnisses im einzelnen und insbesondere über die Art der damaligen Entlohnung des Klägers zu befragen. Erst nach dem Gesamtinhalt der Aussagen der Zeugen über ihr Wissen von den damaligen Beschäftigungsmerkmalen und von einer etwaigen Beitragsentrichtung zur Rentenversicherung hätte das LSG - unter Abwägung der übrigen ermittelten Tatsachen - zu der Feststellung der damaligen Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit kommen dürfen.
Da der u.a. gerügte wesentliche Verfahrensmangel (Verstoß gegen § 103 Satz 1 SGG) vorliegt, ist die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig, ohne daß die sonst von der Revision noch gerügten Verfahrensverstöße zu prüfen sind. Die Revision ist auch begründet. Die Möglichkeit, daß das LSG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Vernehmung sämtlicher der vom Kläger benannten Zeugen angeordnet hätte, ist nicht auszuschließen. Dem LSG muß daher Gelegenheit gegeben werden, die für die Entscheidung des Rechtsstreits notwendigen tatsächlichen Feststellungen noch zu treffen. Dabei wird das LSG zu erwägen haben, welche Fragen im einzelnen den noch zu vernehmenden Zeugen im aufgezeigten Sinne zu stellen sind. Soweit das LSG die Zeugenvernehmung nicht selbst vornimmt, dürfte es zweckmäßig sein, eine Feststellung des Vernehmenden über den persönlichen Eindruck, den der Zeuge bei seiner Aussage macht, zu veranlassen (vgl. BSG in SozR Nr. 74 zu § 128 SGG). Schließlich wird das LSG unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses der durchgeführten Beweiserhebungen neu zu prüfen haben, ob der Kläger eine auf die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeit i.S. des § 1249 Satz 2 b 2. Halbs. der Reichsversicherungsordnung zurückgelegt hat und ihm deswegen das begehrte Altersruhegeld zusteht.
Das angefochtene Urteil ist aus diesen Gründen aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen