Entscheidungsstichwort (Thema)
gewöhnlicher Aufenthalt. Kindergeld. Ausländer. wesentliche Änderung. fälschliche Leistungsbewilligung tatsächliche Änderung. rechtliche Änderung. Aufhebung. Grundlagenbescheid. Folgebescheid. Vergleichsbescheid
Leitsatz (amtlich)
- Fällt eine zu Recht als erfüllt angesehene Leistungsvoraussetzung (hier: der gewöhnliche Aufenthalt des Betroffenen im Geltungsbereich des BKGG) weg, so ist die Leistungsbewilligung wegen einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (§ 48 Abs 1 SGB X) auch dann aufzuheben, wenn eine weitere Leistungsvoraussetzung (hier: der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Geltungsbereich des BKGG) nie vorlag (Klarstellung zu BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60).
- Liegen durch eine Gesetzesänderung verschärfte Leistungsvoraussetzungen (hier: durch § 1 Abs 3 BKGG idF des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990) nicht vor, so ist die Leistungsbewilligung wegen einer wesentlichen Änderung der rechtlichen Verhältnisse (§ 48 Abs 1 SGB X) auch dann aufzuheben, wenn bereits die ursprünglichen Leistungsvoraussetzungen (hier: der gewöhnliche Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG) nicht vorlagen.
Normenkette
BKGG § 1 Abs. 1 Nr. 1 (Fassung: 9.7.1990), Abs. 3 (Fassung: 9.7.1990); SGB X § 48 Abs. 1 Sätze 1-2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 25.05.1993; Aktenzeichen L 3 Kg 34/92) |
SG Hannover (Urteil vom 02.06.1992; Aktenzeichen S 20 Kg 119/91) |
Tenor
- Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Mai 1993 wird hinsichtlich seines Kindergeldanspruchs ab Januar 1991 zurückgewiesen.
- Auf die Revision des Klägers und auf die Anschlußrevision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Mai 1993 im übrigen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Kindergeld über den Monat Dezember 1989 hinaus und wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem diese die Weiterzahlung des Kindergeldes unter der Begründung ablehnt, der Kläger habe weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Der Kläger, polnischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 1981 als Tourist in die Bundesrepublik Deutschland ein und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis, die mehrfach, zuletzt bis zum 4. März 1987 verlängert wurde. Ende 1985 reiste die Ehefrau des Klägers mit den 1974 und 1981 geborenen Kindern Magdalena und Klaudia ebenfalls in die Bundesrepublik Deutschland ein; mit Wirkung ab November 1985 bewilligte die Beklagte dem Kläger für diese Kindergeld. Nach den Feststellungen des Sozialgerichts (SG), auf die das Landessozialgericht (LSG) pauschal Bezug genommen hat, beruht die Kindergeldbewilligung auf einer Verfügung vom 30. Januar 1986. Nach diesen Feststellungen bewilligte die Beklagte dem Kläger ferner mit Bescheid vom 25. September 1987 Kindergeld weiter ab Juli 1987, nachdem er im August 1987 in einem Fragebogen fälschlicherweise seine Staatsbürgerschaft als “deutsch” angegeben hatte.
Einen weiteren Antrag des Klägers und seiner Ehefrau auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lehnte die zuständige Ausländerbehörde im Jahr 1992 ab und verfügte aufenthaltsbeendende Maßnahmen. Hiergegen hat der Kläger gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch genommen, über den noch nicht befunden worden ist. Der Kläger ist seit seiner Einreise in die Bundesrepublik mehrfach straffällig geworden.
Die Kindergeldbewilligung hob die Beklagte mit Bescheid vom 16. März 1990 mit Wirkung ab Januar 1990 unter der Begründung auf, daß der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt und Wohnsitz in Polen habe. Mit Bescheid vom 1. Februar 1991 lehnte die Beklagte ferner einen Kindergeldantrag des Klägers vom Dezember 1990 mit der Begründung ab, der Kläger werde im Bundesgebiet lediglich geduldet. Die Widersprüche gegen jene Bescheide hatten keinen Erfolg (gemeinsamer Widerspruchsbescheid vom 11. April 1991).
Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 2. Juni 1992): Der zunächst vom Kläger begründete Wohnsitz bzw gewöhnliche Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sei weder zum 1. Januar 1990 noch zu einem späteren Zeitpunkt beendet worden, da er weder ausgewiesen noch abgeschoben worden sei und sich auch nicht im Ausland aufhalte. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil lediglich hinsichtlich des Kindergeldanspruchs für Januar bis März 1990 bestätigt und die Klage im übrigen abgewiesen (Urteil vom 25. Mai 1993). Für den Zeitraum ab April 1990 könne sich die Entziehung des Kindergeldes auf § 48 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs – Zehntes Buch – (SGB X) stützen. Nach § 1 Abs 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) idF des Gesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354), wie er im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides gegolten habe, sei ein berechtigter Aufenthalt Voraussetzung für eine Kindergeldzahlung an Ausländer. Ein solcher habe jedoch seit dem Ablauf der Aufenthaltserlaubnis im Jahre 1987 nicht mehr vorgelegen. Der Kläger habe auch keinen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung; diese liege im Ermessen der Behörde. Hier komme zudem im Hinblick auf die zahlreichen strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers sogar das Vorliegen eines Regelversagungsgrundes in Betracht. Hinsichtlich des Kindergeldanspruchs für den Zeitraum von Januar bis März 1990 enthalten die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils lediglich folgende Ausführungen: “Soweit der Kg-Anspruch allerdings bereits rückwirkend für die Zeit von Januar bis März 1990 entzogen worden ist, ist der Bescheid rechtswidrig und aufzuheben, da Gründe für eine rückwirkende Aufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X nicht vorliegen.”
Gegen dieses Urteil richten sich die Revision des Klägers sowie die Anschlußrevision der Beklagten.
Der Kläger rügt sinngemäß eine Verletzung des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm Abs 3 BKGG und des § 30 Abs 3 des Sozialgesetzbuches – Erstes Buch – (SGB I); § 1 Abs 3 BKGG sehe keine Rücknahmeregelung vor, wenn bei einem mehr als ein Jahr andauernden geduldeten oder gestatteten Aufenthalt eine verwaltungsrechtliche Änderung eintrete. Ein Erfordernis des “berechtigten Aufenthaltes” sei in § 1 Abs 3 BKGG (anders als nach § 1 Abs 1 Satz 2 Bundeserziehungsgeldgesetz) nicht enthalten.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Mai 1993 hinsichtlich des Kindergeldanspruchs ab April 1990 aufzuheben und insoweit die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 2. Juni 1992 zurückzuweisen sowie die Anschlußrevision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Mai 1993 insoweit abzuändern, als es die Aufhebung der Kindergeldbewilligung für die Zeit von Januar bis März 1990 betrifft und die Sache insoweit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen sowie die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Hinsichtlich des Kindergeldanspruchs des Klägers von Januar bis März 1990 rügt sie einen Verfahrensfehler in Gestalt der Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da insoweit die Entscheidungsgründe fehlten. Aus dem Urteil sei nicht erkennbar, aus welchen rechtlichen Erwägungen das Gericht von der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide ausgegangen sei und welchen Sachverhalt es insoweit seiner Entscheidung zugrunde gelegt habe. Zur Revision des Klägers trägt die Beklagte vor, sie sei nach § 48 Abs 1 SGB X dann zur Aufhebung der Kindergeldbewilligung berechtigt gewesen, wenn sie unter den geänderten Verhältnissen das Kindergeld nicht hätte neu bewilligen dürfen. Ein vom Ausländer begründeter gewöhnlicher Aufenthalt als Anspruchsvoraussetzung könne auch wieder entfallen; hierfür wiederum könnten auch ausländerrechtliche Entscheidungen maßgeblich sein.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers und die Anschlußrevision der Beklagten sind derart begründet, daß das Urteil des LSG hinsichtlich des Anspruchs des Klägers auf Kindergeld für die Monate April bis Dezember 1990 einerseits und Januar bis März 1990 andererseits aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit an das LSG zurückzuverweisen war; die Revision des Klägers erweist sich jedoch insoweit als unbegründet, als er Kindergeld über Dezember 1990 hinaus begehrt.
1. Zur Revision des Klägers fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen des LSG, um entscheiden zu können, ob die Beklagte den Kindergeldanspruch des Klägers bereits mit Wirkung ab April 1990 entziehen durfte (dieser Anspruch ist Gegenstand der Revision des Klägers); jedenfalls ab 1. Januar 1991 aber steht dem Kläger Kindergeld nicht mehr zu.
Rechtsgrundlage für die hier streitige Entziehung ist, wie vom LSG richtig erkannt, § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Hiernach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
Es sind also (a) die Verhältnisse bei Bewilligung des Kindergeldes im Januar 1986 mit (b) jenen bei Erlaß des Entziehungsbescheides vom 16. März 1990 – in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 1991 – zu vergleichen. Eine andere Beurteilung ergäbe sich freilich dann, wenn die Beklagte mit ihrem – vom LSG nicht berücksichtigten – Bescheid vom 25. September 1987 dem Kläger Kindergeld neu bewilligt hätte, so daß dieser iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X Vergleichsbescheid wäre (c).
a) In den Jahren 1985/1986 stand Kindergeld auch einem Ausländer dann zu, wenn er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG hatte (§ 1 Nr 1 BKGG idF der Bekanntmachung vom 21. Januar 1982 ≪BGBl I 13≫, ab 1. Januar 1986 gleichlautend § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG idF des Gesetzes vom 27. Juni 1985 ≪BGBl I 1251≫). Der Kläger macht nicht geltend – und es bestehen auch im übrigen keine Anhaltspunkte dafür –, daß diese Voraussetzungen damals bei ihm nicht vorlagen. Er befand sich im November 1985, also zu dem Zeitpunkt, ab dem ihm Kindergeld bewilligt wurde, bereits über vier Jahre in der Bundesrepublik und verfügte (nach den Feststellungen des SG: seit Juni 1983) über eine Aufenthaltserlaubnis. Es begegnet keinen Bedenken, daß das LSG auf dieser Grundlage zu der Annahme gelangt ist, der Kläger habe bis zum Ablauf der Aufenthaltserlaubnis ohne weitere Verlängerung, also bis März 1987 – dh auch im Zeitpunkt der Kindergeldbewilligung – seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt.
b) Demgegenüber galt im Jahre 1990, also bei Erlaß des angefochtenen Entziehungsbescheides, für den hierdurch betroffenen Personenkreis zusätzlich die Vorschrift des § 1 Abs 3 BKGG idF des 12. BKGGÄndG vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1294):
“Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, haben Anspruch nach diesem Gesetz nur, wenn ihre Abschiebung auf unbestimmte Zeit unzulässig ist oder wenn sie auf Grund landesrechtlicher Verwaltungsvorschriften auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.”
Durch diese Gesetzesfassung hatte sich der Gesetzgeber erkennbar an die Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Feststellung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers (insbesondere Asylbewerbers) angelehnt (nach dem Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit, BT-Drucks 11/4765, S 5 zu Art 1 diente § 1 Abs 3 BKGG der “Klarstellung”; s hierzu auch BSG vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90 = DBIR 3903 BKGG – § 1). § 1 Abs 3 BKGG idF des 12. BKGGÄndG bestimmte damit – lediglich –, unter welchen Voraussetzungen bei einem Ausländer ohne Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet angenommen werden kann. Damit aber reichte im Fall des Klägers nicht aus, daß seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert worden war, um den Fortbestand seine gewöhnlichen Aufenthalts (und damit seiner Kindergeldberechtigung) zu verneinen. Hinzu kommen mußte, daß ihm kein Abschiebungsschutz auf unbestimmte Zeit im Sinne der damaligen Fassung des § 1 Abs 3 BKGG zustand. Hierzu fehlen Feststellungen des LSG. Seine Ausführungen, ein Abschiebungsschutz “aufgrund der Regelungen der §§ 51, 53 oder 54 Ausländergesetz” bestehe nicht, beziehen sich erkennbar auf den (unten näher erläuterten) Rechtszustand ab 1. Januar 1991, nicht jedoch auf den, der noch im Zeitraum von April bis Dezember 1990 galt. Im übrigen ist denkbar, daß sich auch die Sachlage, also die Praxis des Ausländerrechts zur Abschiebung von Polen, in den Jahren 1990/1991 geändert hatte. Hierauf geht das LSG ebenfalls nicht ein.
Erst mit Wirkung ab 1. Januar 1991 galt § 1 Abs 3 BKGG idF des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts (vom 9. Juli 1990, BGBl I 1354):
“Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, haben Anspruch nach diesem Gesetz nur, wenn sie nach den §§ 51, 53 oder 54 des Ausländergesetzes auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.”
Mit der zitierten Begründung des LSG läßt sich daher lediglich eine Entziehung des im Januar 1986 bewilligten Kindergeldes mit Wirkung ab Januar 1991 rechtfertigen, nicht jedoch die von ihm bestätigte Entziehung der Leistung mit Wirkung ab April 1990.
Für die Zeit ab Januar 1991 kann das LSG-Urteil im vorliegend diskutierten Zusammenhang indes Bestand haben; auch insoweit ist im vorliegenden Verfahren über den Kindergeldanspruch des Klägers zu entscheiden. Denn zwar beurteilt sich bei einer Anfechtungsklage gegen einen leistungsentziehenden Bescheid dessen Rechtmäßigkeit nur nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Erlasses; dies gilt auch (gerade) dann, wenn – erst – nachträglich eine die Entziehung begründende Änderung der Verhältnisse eintritt (BSG vom 20. April 1993, SozR 3-1500 § 54 Nr 18). In diesem Sinne “Zeitpunkt des Erlasses” kann jedoch nur der des Widerspruchsbescheides sein, sofern ein solcher ergangen ist (in dem vom BSG am 20. April 1993 entschiedenen Fall war ein solcher nicht festgestellt). Denn wenn – wie das BSG aaO ausführt – bei der Anfechtungsklage grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zu dem Zeitpunkt maßgebend ist, in dem der angefochtene Verwaltungsakt ergangen ist, so muß als Klagegegenstand der Entziehungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides gelten (§ 95 SGG). Der Widerspruchsbescheid der Beklagten datiert jedoch im vorliegenden Fall vom 11. April 1991.
Zum selben Ergebnis – der Maßgeblichkeit auch der Rechtslage ab 1. Januar 1991 – gelangt man im Falle des Klägers auch deswegen, weil Gegenstand des Verfahrens (wie auch durch oben genannten Widerspruchsbescheid mitentschieden) ebenfalls der Kindergeld-Neuantrag des Klägers vom 27. Dezember 1990 mit Ablehnungsbescheid vom 1. Februar 1991 ist. Jedenfalls auf diesen ist zu entscheiden, ob dem Kläger (auch) für den Rechtszustand ab 1. Januar 1991 Kindergeld zustand.
Unerörtert kann in diesem Zusammenhang bleiben, ob die Kinder des Klägers ihrerseits im Zeitpunkt der Bewilligung des Kindergeldes Wohnsitz bzw gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten, was § 2 Abs 5 Satz 1 BKGG damals ebenso voraussetzte wie im Zeitraum ab Januar 1991. Selbst wenn die Beklagte zum November 1985 das Kindergeld insoweit fälschlich bewilligt hätte, stände dies der Entziehung des Kindergeldes wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse infolge Wegfalls der Kindergeldvoraussetzungen in der Person des Klägers nicht entgegen: Wenn die Änderung bei einer zu Recht als erfüllt angesehenen Leistungsvoraussetzung eintritt, kann auch eine – wegen Nichtvorliegens weiterer Voraussetzungen – zu Unrecht gewährte Leistung wegen Änderung der Verhältnisse vollständig entzogen werden. Der Senat stellt insoweit seine – uU mißverständliche – Formulierung im Urteil vom 3. Oktober 1989 (BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60) klar, wonach für die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den – rechtlichen – Verhältnissen eingetreten ist, die materielle Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts und zum Zeitpunkt der angeblich eingetretenen Änderung zu vergleichen sei.
c) Etwas anderes könnte sich jedoch dann ergeben, wenn Vergleichsbescheid nicht die Kindergeldbewilligung im Januar 1986 wäre, sondern ein Bescheid, der nach dem Auslaufen der Aufenthaltserlaubnis des Klägers (also nach dem 4. März 1987) ergangen ist. In Betracht kommt insoweit der zwar vom SG, nicht jedoch ausdrücklich vom LSG festgestellte Bescheid der Beklagten vom 25. September 1987, mit dem die Beklagte Kindergeld weiter ab Juli 1987 bewilligte. Insoweit kommt es zunächst darauf an, ob dieser Bescheid lediglich als “Folgebescheid” zu verstehen war, der an der Bewilligung “dem Grunde nach” nichts geändert hatte, oder ob durch jenen Bescheid neu über – sämtliche – Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld entschieden wurde.
Dies ist aus dem hierfür maßgebenden objektivierten Empfängerhorizont zu beurteilen (s BSG vom 24. Januar 1995, BSGE 75, 291, 296 mwN). Ausgehend vom Wortlaut des Bescheides vom 25. September 1987 könnte für seine Auslegung als “Grundlagenbescheid” sprechen, daß durch ihn – auch – eine Nachzahlung an Kindergeld ab Juli 1987 geregelt wurde, ihm also augenscheinlich eine Zahlungseinstellung vorangegangen war; gegen eine derartige Auslegung spricht jedoch gleichermaßen, daß einer solchen Zahlungseinstellung – soweit ersichtlich – ein Verwaltungsakt nicht zugrunde lag. Über die Auslegung des fraglichen Bescheides vermag der Senat nicht abschließend zu entscheiden, erscheint doch nicht ausgeschlossen, daß sich aus dem – auch objektivierten – Empfängerhorizont aufgrund eines nicht unmittelbar aus der Kindergeldakte ersichtlichen Briefwechsels zwischen der Beklagten und dem Kläger eine bestimmte Auslegung aufdrängt – zB wenn die Beklagte dem Kläger den von ihm vor Bescheiderteilung zurückgereichten Fragebogen mit einem Formblattschreiben übersandt hätte, wonach lediglich routinemäßig der Fortbestand seines Aufenthaltes in Deutschland überprüft werden sollte; dann hätte nicht nahegelegen, im fraglichen Bescheid eine Bewilligung des Kindergeldes auf neuen Grundlagen zu sehen.
Handelte es sich bei dem Bescheid vom 25. September 1987 aber um einen (neuen) Grundlagenbescheid, waren sämtliche Kindergeldvoraussetzungen Regelungsgehalt der neuen Bewilligung und es wäre zu prüfen, ob – auch – insoweit im Vergleich mit dem damaligen Rechtszustand spätestens zum April 1990 (bzw zum Januar 1991) eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 BKGG eingetreten war (s BSG vom 25. Januar 1994, SozR 3-1300 § 48 Nr 32 S 59 f).
Dieses kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG wiederum für den Zeitraum ab Januar 1991 bejaht werden:
Im September 1987 galt – ebenso wie im Zeitpunkt der Kindergeldbewilligung 1985/1986 – als Voraussetzung für die Kindergeldberechtigung für Ausländer lediglich deren Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG. Dies bedeutet: Unabhängig davon, ob die Beklagte im September 1987 irrig von der Erfüllung der Kindergeldvoraussetzungen auf seiten des Klägers ausgegangen ist (sei es, daß sie weiterhin einen gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet angenommen hätte, sei es, weil sie – wie vom SG festgestellt – aufgrund der falschen Angaben des Klägers im Fragebogen vom 15. August 1987 irrig von dessen deutscher Staatsangehörigkeit ausgegangen war), war gegenüber den – in Wirklichkeit vorliegenden – tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen beim Erlaß jenes Verwaltungsaktes (BSG vom 6. Dezember 1989, SozR 3870 § 4 Nr 3; BSG vom 3. Oktober 1989, BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60; BSG vom 11. Oktober 1994, SozR 3-3870 § 4 Nr 10) wiederum eine wesentliche Änderung eingetreten, die zur Entziehung des Kindergeldes berechtigte: nämlich in Gestalt der bereits oben dargestellten Rechtsänderung zum 1. Januar 1991. Der Kläger war niemals deutscher Staatsangehöriger. Selbst wenn bei ihm im September 1987 Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet bestanden hätten, so hätte er doch ab 1. Januar 1991 zusätzlich die Voraussetzungen entweder einer Aufenthaltsgenehmigung oder eines Abschiebungsschutzes nach den §§ 51, 53 oder 54 AuslG aufweisen müssen, die er nach den Feststellungen des LSG nicht erfüllte. Mit anderen Worten: Wenn für alle (zu Recht) kindergeldbeziehenden Ausländer ab 1. Januar 1991 weitere Voraussetzungen für ihren Kindergeldanspruch zu erfüllen waren, so mußten diese zusätzlichen Voraussetzungen auch von jenen Ausländern erfüllt werden, die bis zu jenem Zeitpunkt – hier: mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes – zu Unrecht Kindergeld bezogen hatten.
So aber war die Rechtslage in der Tat. Denn mit der Änderung des § 1 Abs 3 BKGG durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354) mit Wirkung ab 1. Januar 1991 hat der Gesetzgeber nicht lediglich das bisherige Recht redaktionell an das neue Ausländergesetz angepaßt (so freilich die Gesetzesbegründung, BR-Drucks 11/90, S 92 zu Art 9 – 14). Er hat vielmehr zunehmend auch dem Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität Rechnung getragen. Im Ergebnis setzt das Gesetz nämlich die nach der Prognose-Rechtsprechung des Senats erforderliche Einzelfallprüfung, ob ein Ausländer (Asylbewerber) ausnahmsweise seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, zugunsten einer pauschaleren Betrachtungsweise nicht mehr voraus. Nach der ursprünglichen Fassung des § 1 Abs 3 BKGG mußte jeder Einzelfall umfassend dahingehend überprüft werden, ob nach der tatsächlichen Handhabung des Ausländerrechts (s hierzu die Entscheidung des Senats vom 12. Dezember 1995 – 10 RKg 7/95 mwN) auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden würde, wohingegen die Neufassung nur noch bestimmte, enumerativ aufgezählte, Abschiebungshindernisse gelten lassen will.
Damit war – unabhängig davon, ob dem Kläger als Ausländer (unterstelltermaßen im September 1987) Kindergeld zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden war – für den Fortbestand seines Kindergeldanspruchs über den 31. Dezember 1990 hinaus zu überprüfen, ob er die zusätzlichen Voraussetzungen des § 1 Abs 3 BKGG in der neuen Fassung erfüllte. Da dies beim Kläger – nach der Feststellung des LSG – nicht der Fall war, war jedenfalls ab 1. Januar 1991 in den Verhältnissen auch gegenüber jenen bei Erlaß des Bescheides vom 25. September 1987 eine wesentliche, zur Aufhebung der Leistungsbewilligung berechtigende, Änderung eingetreten.
Anders ist die Ausgangslage wiederum für den Anspruch des Klägers auf Kindergeld von April bis Dezember 1990 . Der in jener Zeit maßgebende § 1 Abs 3 BKGG idF des 12. BKGGÄndG hatte sich darauf beschränkt, die “Prognose”-Rechtsprechung des Senats zur Feststellung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in das BKGG zu übernehmen (das “Karenzjahr” spielt im vorliegenden Fall keine Rolle). Lag aber zwischen der – fraglichen – “Neubewilligung” von Kindergeld durch Bescheid vom 25. September 1987 und dem Entziehungszeitpunkt April 1990 keine Rechtsänderung, so könnte eine Aufhebung der Bewilligung nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X nur auf eine anspruchserhebliche Änderung im tatsächlichen Bereich gestützt werden; eine solche ergibt sich jedoch aus den bisherigen Feststellungen des LSG nicht.
Soweit die Sache auf die Revision des Klägers zurückverwiesen wird, obliegt dem LSG damit zuvörderst die nähere Aufklärung der Umstände, unter denen der Bescheid vom 25. September 1987 ergangen ist, und damit der Umstände, die für dessen Auslegung aus dem hierfür maßgebenden Empfängerhorizont erheblich sind. Ergibt sich hieraus, daß durch jenen Bescheid keine grundlegende Neuregelung des Kindergeldanspruchs vorgenommen wurde, so hat das LSG zu prüfen, ob für den Kläger im Zeitraum von April bis Dezember 1990 ein Abschiebungsschutz auf unbestimmte Zeit iS des § 1 Abs 3 BKGG idF des 12. BKGGÄndG zustand. Ist der Bescheid vom 25. September 1987 hingegen als Grundlagenbescheid aufzufassen, so könnte sich die von der Beklagten vorgenommene Entziehung des Kindergeldanspruchs nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGG lediglich auf – bisher noch nicht ersichtliche – tatsächliche Veränderungen stützen; anderenfalls wäre jener Bescheid insoweit rechtswidrig. Eine Umdeutung (§ 43 SGB X) eines Bescheides nach § 48 SGB X in einen nach § 45 SGB X (Rücknahme wegen ursprünglicher Unrichtigkeit) scheitert in aller Regel an der nicht vorgenommenen, nach § 45 SGB X jedoch erforderlichen Ermessensprüfung (BSG vom 22. Juni 1988, SozR 1300 § 43 Nr 1), es sei denn, für den Rücknahmebescheid läge eine Ermessensschrumpfung auf Null vor (hierzu BSG vom 24. Januar 1995, BSGE 75, 291, 294 f).
2. Auch die Anschlußrevision der Beklagten führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz. Denn es mangelt an nachvollziehbaren Feststellungen zu dem vom LSG behaupteten Fehlen der Voraussetzungen, unter denen nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X im Regelfall (“soll”) eine – rückwirkende – Aufhebung ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse zu erfolgen hat. Da der Rechtsstreit schon aus diesem Grunde insoweit an die Vorinstanz zurückverwiesen werden muß, kann der Senat dahingestellt lassen, ob in dieser Hinsicht auch der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler vorliegt. Hinsichtlich der Entziehung des Kindergeldes für den Zeitraum von Januar bis März 1991 wird das LSG das Urteil des Senats vom 12. Dezember 1995 (10 RKg 9/95 – zur Veröffentlichung bestimmt) zu berücksichtigen haben, falls der Kläger durch die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldbewilligung im nachhinein vermehrt sozialhilfebedürftig würde.
Das LSG wird schließlich auch endgültig über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten – darin eingeschlossen die des Revisionsverfahrens (einschließlich des Teils, der durch das vorliegende Urteil endgültig abgeschlossen wurde) – zu entscheiden haben.
Fundstellen
Breith. 1996, 960 |
SozSi 1997, 70 |