Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Urteil vom 21.01.1993) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. Januar 1993 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung zur Gewährung von Kindergeld an einen Asylbewerber ab Januar 1991.
Der Kläger, jugoslawischer Staatsangehöriger albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo, reiste im Oktober 1988 mit seiner Ehefrau und drei Kindern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Über seinen Asylantrag war im Zeitpunkt der Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) noch nicht rechtskräftig entschieden. Seit Januar 1991 hat er eine befristete Arbeitserlaubnis und steht in einem Beschäftigungsverhältnis als Schlosser.
Seinen Kindergeldantrag von März 1991 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 5. Juni 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 1991). Diese Bescheide hob das Sozialgericht (SG) auf (Urteil vom 11. November 1991). Das LSG wies die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurück, daß sie verurteilt wurde, dem Kläger ab 1. Januar 1991 Kindergeld für seine drei Kinder zu gewähren (Urteil vom 21. Januar 1993). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Kläger erfülle ab dem 1. Januar 1991 die Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld, insbesondere § 1 Abs 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) idF des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hätten Asylbewerber, bei denen damit zu rechnen sei, daß sie – auch bei rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags – auf unabsehbare Zeit nicht in ihr Heimatland abgeschoben würden, ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet iS des § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG. Diese Voraussetzungen seien beim Kläger gegeben. Zwar habe das zuständige Ministerium des Innern bislang keine generelle Regelung über ein Bleiberecht von Kosovo-Albanern auch bei abgelehntem Asylantrag getroffen. Nach Auskunft des Innenministeriums würden aber zur Zeit Asylverfahren dieser Bevölkerungsgruppe dilatorisch behandelt; selbst wenn ein solches Asylverfahren abgeschlossen werden sollte, bleibe es im Einzelfall der Ausländerbehörde überlassen, über die Frage einer Abschiebung zu entscheiden. Im Augenblick erfolge jedenfalls wegen der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Jugoslawien keine Abschiebung. Der Senat halte im Hinblick auf diese Praxis und die Tatsache, daß der Kriegszustand in Jugoslawien zur Zeit in seiner Dauer nicht abzuschätzen sei, eine Gleichsetzung der Aufenthaltsduldung des Klägers mit abgelehnten Asylbewerbern, für die ein generelles Abschiebeverbot gelte, für geboten. Auch die Tatsachen, daß der Kläger eine Arbeitserlaubnis habe sowie einen Arbeitsplatz besitze und daß seine Kinder im schulpflichtigen Alter hier in der Bundesrepublik Deutschland die Schule besuchten, ließen die Annahme zu, daß eine Abschiebung des Klägers und seiner Familie jedenfalls für absehbare Zeit nicht erfolge.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision und rügt eine Verletzung der §§ 107 und 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie des § 1 Abs 3 BKGG. Das LSG habe sein Ermittlungsergebnis in Gestalt der entscheidungserheblichen Auskunft des Innenministerium ihr nicht mitgeteilt und dennoch nachfolgend verwertet. In materiell-rechtlicher Hinsicht trägt die Beklagte vor, das LSG habe verkannt, daß die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs 3 BKGG in der vom LSG angewandten Fassung kumulativ zu den Anspruchsvoraussetzungen des Abs 1, insbesondere derjenigen des gewöhnlichen Aufenthalts, hinzuträten. Diese Voraussetzungen würden vom Kläger jedoch nicht erfüllt. Die Gerichte seien jedenfalls gehindert, im Wege der Auslegung der Auskunft des zuständigen Innenministeriums, das – aus welchen Gründen auch immer – bisher davon abgesehen habe, ein generelles Abschiebungsverbot für den hier in Rede stehenden Personenkreis auszusprechen, diesen so zu stellen, als existiere bereits ein derartiges landesweites Verbot.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. Januar 1993 und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 11. November 1991 in vollem Umfang aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er trägt vor, daß ehemalige jugoslawische Staatsangehörige der albanischen Bevölkerungsgruppe der ehemaligen Provinz Kosovo basierend auf den Vorschriften der §§ 51 und 54 Ausländergesetz (AuslG) nicht abgeschoben würden, ihnen vielmehr eine Duldung für die Bundesrepublik Deutschland erteilt werde. Darüber hinaus sei Kosovo-Albanern unter Hinweis auf eine vom individuellen Einzelverfolgungsschicksal unabhängige Gruppenverfolgung Asyl gewährt worden.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist iS einer Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet. Das Berufungsurteil beruht auf verfahrensfehlerhaften Tatsachenfeststellungen; soweit das LSG Tatsachen festgestellt hat, die nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen sind, reichen diese nicht aus, um über den streitigen Kindergeldanspruch des Klägers zu entscheiden.
1. In dem im Revisionsverfahren streitigen Zeitraum (Januar 1991 bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des LSG im Januar 1993) stand Kindergeld einem Ausländer, der sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich des BKGG aufhielt, dann zu, wenn er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt dort hatte (§ 1 Abs 1 Nr 1 BKGG idF der Bekanntmachung vom 30. Januar 1990, BGBl I 149) und, zusätzlich, wenn er nach den §§ 51, 53 oder 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden konnte, frühestens jedoch für Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr (§ 1 Abs 3 BKGG idF des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990, BGBl I 1354). Hierbei hat § 1 Abs 3 BKGG in der zitierten Fassung gegenüber dem zuvor geltenden Rechtszustand (§ 1 Abs 3 BKGG idF des 12. BKGG-Änderungsgesetzes ≪12. BKGG-ÄndG≫ vom 30. Juni 1986, BGBl I 1294) eine Verschärfung der Voraussetzungen zur Folge: Während nach dem früheren Rechtszustand § 1 Abs 3 BKGG lediglich in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG klargestellt hatte, unter welchen Voraussetzungen bei einem Ausländer ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet angenommen werden konnte, so beschränkte § 1 Abs 3 BKGG in seiner ab 1. Januar 1991 geltenden Fassung (des Gesetzes vom 9. Juli 1990) die Kindergeldberechtigung für Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung auf solche, denen ein Abschiebungsschutz auf unbestimmte Zeit nach den §§ 51, 53 oder 54 AuslG 1990 zugute kam (vgl hierzu im einzelnen das Urteil des Senats vom 27. Februar 1996 – 10 RKg 27/93, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Wie der Senat bereits zum Kindergeldanspruch für Ausländer nach der früheren Gesetzeslage betont hat, ist im Kindergeldverfahren das Ausländerrecht nicht eigenständig anzuwenden, sondern es ist zum Zwecke der Tatsachenfeststellung zu ermitteln, wie die zuständigen Behörden die ausländerrechtlichen Vorschriften handhaben (s hierzu das Urteil des Senats vom 25. Juli 1995 – 10 RKg 13/93, ferner bereits BSG vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8, 9 f = SozR 3-5870 § 1 Nr 2 sowie BSG vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90). Bei der Anwendung des § 1 Abs 3 BKGG in der ab 1. Januar 1991 geltenden Fassung beschränkt sich nunmehr die insoweit anzustellende Prüfung sowohl der Kindergeldbehörden als auch der Sozialgerichte darauf, ob für den betreffenden Ausländer in dem Zeitpunkt, in dem über seinen Kindergeldanspruch zu entscheiden ist, ein Abschiebeverbot nach den §§ 51, 53 oder 54 AuslG auf unbestimmte Zeit gilt.
Die Feststellungen, die das LSG insoweit getroffen hat, können dem Senat nicht als Entscheidungsgrundlage dienen. Denn sie sind, wie von der Beklagten mit der Revision zu Recht gerügt, unter Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (§ 62, § 107, § 128 Abs 2 SGG) festgestellt worden. Das LSG hat seiner Entscheidung eine Auskunft des Saarländischen Ministeriums des Innern zugrunde gelegt, zu der sich die Beteiligten nicht äußern konnten, da sie ihnen vor der – ohne mündliche Verhandlung ergangenen – Entscheidung des LSG nicht mitgeteilt wurde.
Die fehlenden tatsächlichen Feststellungen wird das LSG verfahrensfehlerfrei nachzuholen haben. Insoweit sei lediglich darauf hingewiesen, daß zweifelhaft erscheint, ob selbst auf der Grundlage des vom LSG mitgeteilten Inhalts der ministeriellen Auskunft ein Abschiebeverbot nach § 1 Abs 3 BKGG in der hier maßgebenden Fassung bestand.
2. Sollte sich ein Kindergeldanspruch des Klägers für den streitigen Zeitraum nicht bereits aus § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 3 BKGG ergeben, so weist der Senat auf folgendes hin:
Nach den – insoweit mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen – Feststellungen des LSG stand der Kläger im streitigen Zeitraum in einem Beschäftigungsverhältnis als Schlosser, bezog also steuerpflichtiges Einkommen. Hatte er aus diesem Grunde in der Tat in der streitigen Zeit Einkommensteuer zu entrichten, so könnte erheblich sein, ob die bei ihrer Berechnung zu berücksichtigenden Kinderfreibeträge (§ 32 Abs 6 Einkommensteuergesetz ≪EStG≫) ausreichten, um das Existenzminimum seiner Kinder steuerfrei zu stellen. Sollte dies nicht der Fall sein, so ist fraglich, ob sich aus dem Zusammenwirken dieser Regelung mit dem Ausschluß des Anspruchs auf Kindergeld nach § 1 Abs 3 BKGG eine verfassungswidrige Rechtslage ergibt, die auch im sozialgerichtlichen Verfahren zur verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellt werden kann (vgl BVerfGE 82, 60 Leitsätze 1 und 2).
Der Senat wird über die hierdurch aufgeworfenen Fragen voraussichtlich im Laufe des Jahres 1996 unter dem Az.: 10 RKg 1/95 entscheiden.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen