Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweisanregung. Beweisantrag

 

Orientierungssatz

Hat ein Kläger hilfsweise den Antrag gestellt, einen namentlich benannten Arzt als Sachverständigen zu hören, so muß das Gericht klären, ob dieser Antrag als Beweisanregung nach § 103 SGG oder als Beweisantrag nach § 103 SGG gemeint ist.

 

Normenkette

SGG § 112 Abs. 2, § 106 Abs. 1, §§ 109, 103

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.10.1972)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 1972 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenversorgung nach ihrem am 24. September 1970 verstorbenen Ehemann F G (G.). Dieser war bis April 1948 in russischer Gefangenschaft; er bezog Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H. wegen "1) hirnorganischer Dauerschaden mit luftencephalographischen Veränderungen und organischer Persönlichkeitsveränderung nach schwerer Dystrophie; 2) ausgeglichener Eiweißmangelschaden mit fehlender Salzsäure" (Bescheid vom 3. Mai 1955). Nach der Todesbescheinigung des behandelnden Arztes Dr. I ist der Tod des Ehemannes der Klägerin unmittelbar durch einen Herzinfarkt bei Kreislaufstörungen herbeigeführt worden.

Der Beklagte lehnte den Versorgungsantrag nach Einholung eines versorgungsärztlichen Gutachtens (Dr. Sch) durch Bescheid vom 27. November 1970/Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 1971 ab. Mit einem weiteren Bescheid vom 23. Juni 1971 wurde der Klägerin eine Witwenbeihilfe in Höhe von zwei Dritteln der Witwenversorgung gewährt. Das Sozialgericht (SG) holte ein Gutachten von Dr. Sch ein und wies die Klage durch Urteil vom 15. Januar 1972 ab. Die Klägerin legte Berufung ein. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) stellte die Klägerin den Sachantrag und beantragte "hilfsweise, Einholung eines Gutachtens bei Herrn Prof. Dr. med. H. V. Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität E, S-straße ...". Das LSG hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 13. Oktober 1972 zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Voraussetzungen der unwiderlegbaren Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) seien nicht erfüllt. Nach dem fachärztlichen Gutachten von Dr. Sch sei der Tod des Ehemannes der Klägerin durch die Schädigungsfolgen weder direkt noch indirekt verursacht oder um etwa ein Jahr beschleunigt worden.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Dieses Urteil wurde der Klägerin am 30. Oktober 1972 zugestellt, die dagegen am 28. November 1972 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet hat.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

In ihrer Revisionsbegründung rügt sie einen wesentlichen Mangel des Verfahrens und trägt dazu vor, ausweislich der Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 1972 habe sie hilfsweise die Einholung eines Gutachtens bei Herrn Prof. Dr. med. H. V beantragt. Zur mündlichen Begründung dieses Antrages sei vorgetragen worden, daß der medizinische Sachverhalt insofern nicht ausreichend aufgeklärt sei, als von den gehörten Sachverständigen die Frage einer biologischen Voralterung nach extremen Lebensverhältnissen und dadurch bedingter Lebensverkürzung um wenigstens ein Jahr nicht behandelt worden sei. Obwohl der Hilfsantrag auf Seite 3 der Urteilsausfertigung wörtlich aufgeführt sei, finde sich in den Entscheidungsgründen oder aber in der Sitzungsniederschrift kein Hinweis dafür, daß sich der Senat mit dem Hilfsantrag befaßt habe. Die Klägerin müsse demgemäß davon ausgehen, daß dieser Antrag durch den Senat übergangen worden sei.

Das beklagte Land stellt zur Revision keinen Antrag.

II

Die Revision ist von der Klägerin frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (vgl. BSG 1, 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).

Die Klägerin rügt in ihrer Revisionsbegründung eine Verletzung der §§ 103, 109 iVm § 112 SGG. Zwar hat sie diese Vorschriften nicht ausdrücklich bezeichnet. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG 1, 227) genügt es jedoch, wenn aus dem substantiierten Vortrag des Revisionsklägers ersichtlich ist, welche verfahrensrechtlichen Normen als verletzt angesehen werden. Das ist hier § 112 iVm § 103 und 109 SGG. Diese Rüge greift auch durch. Nach § 112 Abs. 2 SGG hat der Vorsitzende u.a. dahin zu wirken, daß die Beteiligten sich über erhebliche Tatsachen vollständig erklären sowie angemessene und sachdienliche Anträge stellen. Ergänzend dazu schreibt § 106 Abs. 1 SGG vor, daß der Vorsitzende darauf hinzuwirken hat, daß "... unklare Anträge erläutert..." werden. Diese Vorschrift bezieht sich zwar unmittelbar nur auf die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, während § 112 SGG den formellen Ablauf der mündlichen Verhandlung betrifft. Die Anforderungen, die an den Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung zu stellen sind, können aber nicht geringer sein als bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung. Die Vorschrift des § 112 Abs. 2 SGG ist also in Verbindung mit § 106 Abs. 1 SGG dahin zu verstehen, daß der Vorsitzende auch in der mündlichen Verhandlung dahin zu wirken hat, daß "unklare Anträge erläutert" werden. Die erforderliche Klarheit läßt der in die Sitzungsniederschrift und in den Tatbestand des Urteils aufgenommene Hilfsantrag der Klägerin vermissen. Insbesondere ist nicht zu erkennen, ob die Klägerin einen Beweisantrag nach § 109 oder nach § 103 SGG gestellt hat.

Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Dieser Antrag kann auch hilfsweise für den Fall gestellt werden, daß dem Klageantrag nicht oder nicht in vollem Umfang entsprochen wird (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Nr. 17). Nach der Rechtsprechung des BSG braucht ein Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nicht ausdrücklich als "Antrag nach § 109 SGG" bezeichnet zu werden; es genügt vielmehr, wenn beantragt wird, den durch Namen und Anschrift hinreichend bezeichneten Arzt - das war hier der Fall - über ein für die Entscheidung rechtserhebliches Beweisthema gutachtlich zu hören (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Nr. 26). Auch das traf hier zu, denn die Frage der Voralterung nach extremen Lebensbedingungen konnte für die Entscheidung über die Vorverlegung des Todeseintritts um etwa ein Jahr von Bedeutung sein (vgl. Seite 6 unten des Urteils). Hat die Tatsacheninstanz weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen über den Antrag nach § 109 SGG entschieden, so liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel, nämlich eine Verletzung des § 109 SGG vor (vgl. BSG aaO; SozR SGG § 109 Nr. 33 und 35; Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1969 - 10 RV 291/67).

Andererseits schreibt § 103 Satz 2 SGG vor, daß das Gericht "an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden" ist. Für das Gericht handelt es sich demnach insoweit nur um eine Beweisanregung, über die das Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht zu entscheiden hat. Hatte die Klägerin also lediglich einen Antrag nach § 103 SGG auf Einholung eines Gutachtens von Amts wegen gestellt und dafür Prof. Dr. V in Vorschlag gebracht, so war das LSG allein aufgrund dieses Antrages ("Anregung") noch nicht verpflichtet, dem Antrag stattzugeben und das beantragte Gutachten einzuholen. Allerdings wird es sich auch bei § 103 SGG empfehlen, daß das Gericht über diesen Antrag entscheidet oder wenigstens dazu Stellung nimmt, schon um den Verdacht auszuräumen, daß das Gericht diesen Antrag bzw. diese Anregung übersehen hat.

Das LSG hat den Hilfsantrag der Klägerin zwar im Tatbestand des Urteils erwähnt, jedoch in den Entscheidungsgründen mit keinem Wort dazu Stellung genommen. In der Sitzungsniederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem LSG findet sich gleichfalls nur der Hilfsantrag der Klägerin ohne jede nähere Erläuterung. Ein besonderer Beschluß ist nicht ergangen. Da das Sitzungsprotokoll und das Urteil des LSG somit keinerlei Anhaltspunkte dafür bieten, ob es sich um einen Antrag nach § 109 - dem das LSG stattgeben mußte, sofern nicht die Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG als vorliegend angesehen wurden - oder nach § 103 SGG - den das LSG möglicherweise ablehnen durfte - gehandelt hat, fehlen dem Senat die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Entscheidung in dem einen oder anderen Sinne (vgl. hierzu auch BSG in SozR SGG § 162 Nr. 187). Das zu diesen Unklarheiten Anlaß gebende Verfahren des LSG bedeutet einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Revision ist daher statthaft. Sie ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß ein Antrag nach § 109 SGG vorlag und daß das Gericht diesem Antrag hätte stattgeben müssen. Bei dieser Rechtslage brauchte der Senat nicht zu entscheiden, ob das Gericht auch einem Antrag nach § 103 SGG hätte stattgeben (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 7 und 14) oder sich wenigstens damit auseinandersetzen müssen.

Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650689

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