Leitsatz (amtlich)
Entscheidet das Gericht nach Lage der Akten (SGG § 126), obwohl am Tage vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung der Antrag eines Beteiligten auf Terminsverlegung unter Angabe erheblicher Gründe in den gerichtlichen Organisationsbereich (Eingangsstelle) gelangt war, so ist dies eine Verletzung des Anspruchs auf das rechtliche Gehör (GG Art 103; SGG § 62) und damit ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (SGG § 150 Nr 2, SGG § 162 Abs 1 Nr 2).
Normenkette
GG Art. 103 Fassung: 1949-05-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 126 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Februar 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1898 geborene Kläger kam 1952 aus der sowjetischen Besatzungszone nach Berlin-West. Seinen Angaben zufolge war er zuletzt seit 1938 als selbständiger Landwirt tätig gewesen, obwohl er ursprünglich den Beruf eines technischen Zeichners bzw. eines Konstrukteurs erlernt und ausgeübt habe. Der Kläger erreichte zunächst weder die Aufnahme im Bundesnotaufnahmeverfahren noch erhielt er die Zuzugsgenehmigung nach West-Berlin. Als sogenannter Zuwanderer ohne Aufenthaltserlaubnis wurde er von der Beklagten jedoch in der Berufsgruppe der Landwirte bei dem hierfür zuständigen Facharbeitsamt V registriert und auf eigenen Wunsch auch als technischer Zeichner bei dem hierfür zuständigen Facharbeitsamt I Berlin zur Vermittlung mitgeführt. Als späterhin das Facharbeitsamt V die Meldekontrolle für den Kläger mangels vorhandener Vermittlungsmöglichkeiten eingestellt hatte, lehnte das Facharbeitsamt I es ebenfalls ab, für ihn eine neue Meldekarte zu verwenden, da er nach einem amtsärztlichen Attest zu Arbeiten, die ständiges Feinsehen erforderten, nicht mehr in der Lage sei. Dem Kläger wurde anheimgegeben, sich bei dem regionalen Arbeitsamt führen zu lassen. Er wendete sich hiergegen und brachte einen für ihn günstigen augenärztlichen Befundbericht bei. Daraufhin ließ ihn die Beklagte durch den Direktor der Berufsschule für Maschinenschlosser in Berlin-Wedding auf seine Fähigkeiten als technischer Zeichner prüfen. Dieser kam zu dem Ergebnis, daß der Kläger für dieses Fach nicht mehr vermittlungsfähig sei. Danach lehnte e die Beklagte seine weitere Registrierung mit Bescheid vom 11. März 1957 ab. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 8. April 1957), seine Klage vom Sozialgericht (SG) Berlin abgewiesen (Urteil vom 19. September 1958). Der Kläger legte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) beraumte Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 16. Februar 1960 an und lud den Kläger, der inzwischen nach Ravensburg (Württemberg) verzogen war, hierzu mit Postzustellungsurkunde an 10. Februar 1960. Die Ladung enthielt den Hinweis, daß auch im Falle des Ausbleibens der Beteiligten verhandelt und nach Lage der Akten entschieden werden könne. Im Termin vom 16. Februar 1960 war der Kläger nicht persönlich erschienen und auch nicht vertreten. In der mündlichen Verhandlung legte aber ein Bekannter von ihm, namens Gerhard K..., nach Aufruf der Sache dem Gericht eine unter dem 13. Februar 1960 an ihn geschriebene private Karte vor, derzufolge der Kläger Vertagung beantragt habe. Gleichwohl stellte das LSG fest, daß bis zum Schluß der Sitzung am 16. Februar 1960 ein Vertagungsantrag des Klägers beim Gericht nicht eingegangen sei. Es wies auf entsprechenden Antrag der Beklagten hin die Berufung im Wege der Entscheidung nach Lage der Akten zurück. Gegenstand des Verfahrens sei allein das Begehren des Klägers auf Registrierung als technischer Zeichner. Da er sich jedoch in der Zeit vom 11. März bis zum 8. April 1957 ohne Aufenthaltserlaubnis in West-Berlin befand, habe er gemäß Kontrollratsbefehl Nr. 3 vom 17. Januar 1946 keinen Anspruch auf Arbeitsvermittlung gehabt. Deshalb sei er durch Ablehnung seiner Registrierung als technischer Zeichner auch nicht in seinen Rechten beeinträchtigt worden.
Revision wurde nicht zugelassen.
II. Gegen das ihm am 11. März 1960 zugestellte Urteil legte der Kläger am 8. April 1960 Revision ein und begründete diese am 2. Mai 1960. Er rügt als wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens, daß das LSG zu Unrecht seinem Antrag nicht stattgegeben habe, einen Sachverständigen über seine Fähigkeiten als technischer Zeichner zu hören und daß es seinen Antrag auf Vertagung des Termins vom 16. Februar 1960 nicht entsprochen bzw. überhaupt nicht hierüber entschieden habe. Seine diesbezügliche Karte vom 13. Februar 1960 sei tatsächlich bereits am 15. Februar, also einen Tag vor dem Termin bei Gericht eingelaufen. Durch Übergehen des Vertagungsantrags sei er verhindert worden, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken und sich über alle erheblichen Tatsachen zu äußern. Dadurch sei eine zutreffende Sachentscheidung verhindert worden. Überdies sei die Ladungsfrist nicht eingehalten gewesen. In sachlicher Hinsicht macht der Kläger geltend, daß er die Aufenthaltsgenehmigung für West-Berlin am 17. Dezember 1957 erhalten habe, damit sei spätestens sein Anspruch auf Vermittlung entstanden. Dies hätte bereits vom SG berücksichtigt werden müssen. Weder SG noch LSG hätten eine Begründung dafür gegeben, daß es für seine Klage lediglich auf die Zeit vom 11. März bis zum 8. April 1957 ankomme. Er habe sich nachweislich auch danach um Registrierung als technischer Zeichner bemüht und diesen Anspruch ununterbrochen bis zur Gegenwart aufrechterhalten. Im übrigen ergebe sich die Verpflichtung der Beklagten zu seiner Registrierung und Vermittlung schon vor Erhalt der Aufenthaltserlaubnis aus dem Kontrollratsbefehl Nr. 3, der ohne Einschränkung alle arbeitsfähigen Männer im Alter von 14 bis 65 Jahren zur Meldung beim Arbeitsamt verpflichtet habe. Die angefochtenen Bescheide seien schließlich unrichtig, da er die nötigen Fähigkeiten als technischer Zeichner besitze. Dies erhelle nicht zuletzt die Tatsache, daß er nunmehr bereits seit über einem Jahr als Chefzeichner in einem Textilbetrieb tätig sei.
Der Kläger beantragte,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, seine Registrierung als technischer Zeichner anzuerkennen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen
Die Beklagte beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Nichtbeachtung eines vom Kläger gestellten Vertagungsantrags ergebe einen wesentlichen Verfahrensmangel, weil dann sein Recht auf mündliche Verhandlung und rechtliches Gehör verletzt sei. Sachlich-rechtlich sei die Revision jedoch unbegründet. Der Kläger habe vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für West-Berlin überhaupt keinen Anspruch auf Vermittlung gehabt. Danach sei der Anspruch auf Registrierung als technischer Zeichner zu verneinen, da hierfür dem Kläger die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen gefehlt hätten.
Nach Einlegung und Begründung der Revision haben die Prozeßbevollmächtigten des Klägers seine Vertretung niedergelegt.
III. Die form- sowie fristgerecht (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) eingelegte und zulässige Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Kläger rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG.
In den Prozeßakten des LSG Berlin L 4 Ar 70/58 befindet sich eine Karte mit dem Postaufgabestempel "Ravensburg 13.2.60 - 17 Uhr"; ihrem Inhalt nach hat der Kläger beantragt, "den Termin aufzuheben und mindestens drei Monate zu vertagen" (LSG-Akten Band II Bl. 27). Diese Postkarte, die von ihm deutlich mit dem zutreffenden Aktenzeichen L 4 Ar 70/58 versehen war, trägt den Eingangsstempel "Sozialgericht und Landessozialgericht Berlin, Eing. 15. Feb. 1960". Damit ist der Nachweis erbracht, daß sich der Antrag des Klägers auf Verlegung des Termins bereits am 15. Februar 1960 im Verfügungsbereich des Berufungsgerichts befunden hat (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG 2. Aufl. Anm. 4 d zu § 118; Baumbach/Lauterbach, Komm. z. ZPO 26. Aufl. Anm. 1 zu § 418). Die gegenteilige Feststellung des LSG bindet daher das Bundessozialgericht (BSG) nicht, denn die Rüge des Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör stützt sich gerade auf die Unrichtigkeit dieser Feststellung, und der Kläger hat diesbezüglich zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht (§ 163 SGG; vgl. BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 22). Das LSG hätte daher spätestens im Termin vom 16. Februar 1960 über diesen Antrag auf Terminsverlegung oder Vertagung befinden müssen, zumal vom Kläger hierfür auch im einzelnen eine Begründung gegeben war. Dabei spielt es keine Rolle, daß jene Karte dem erkennenden 4. Senat des LSG Berlin offenbar nicht rechtzeitig vorgelegt wurde. Organisationsfehler oder falscher Geschäftsgang innerhalb der Gerichtsverwaltung können dem Antragsteller nicht angelastet werden. Entscheidend ist allein, daß der Verlegungsantrag noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Februar 1960 in den gerichtlichen Geschäftsbereich gelangt war.
Nach § 124 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig auf Grund mündlicher Verhandlung. Dieses Prinzip, das nur in Ausnahmefällen durchbrochen wird, verfolgt den Zweck, in Gedankenaustausch und Gespräch zwischen Gericht und den Beteiligten den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Es steht daher auch nicht im Widerspruch zur Amtsermittlungspflicht der Sozialgerichte (§ 103 SGG), denn die mündliche Verhandlung dient ebenfalls jener Aufgabe. Sie ist gleichzeitig aber ein wesentliches Mittel, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (vgl. Peters/Sautter/Wolff, aaO Anm. 1 zu § 124). Der Grundsatz des Art. 103 des Grundgesetzes, daß vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat, findet auch auf Verfahren Anwendung, in denen die Untersuchungsmaxime gilt (vgl. BVerfG in JZ 1957, 542). Für die Sozialgerichtsbarkeit ist dies in § 62 SGG ausdrücklich festgelegt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet, daß einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war (vgl. BVerfG 5, 22, 24; 6, 12, 14; BSG 7, 209, 211). Die Beteiligten haben also durchweg ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Soweit in den §§ 124 ff SGG Ausnahmen von dem Grundsatz der notwendigen mündlichen Verhandlung vor Erlaß des Urteils zugelassen werden, sind sie auf das Einverständnis der Beteiligten abgestellt, das allerdings auch stillschweigend - durch Nichterscheinen - erklärt werden kann (§ 126 SGG). Im Falle der Verhinderung hat ein Beteiligter daher auch das Recht, die Verlegung eines Termins zur mündlichen Verhandlung zu beantragen. Ein derartiger Verlegungsantrag ist nach den Merkmalen des § 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zu beurteilen. Diese Regelung ist für das sozialgerichtliche Verfahren entsprechend anzuwenden, da das SGG hierzu keine Bestimmungen enthält und grundsätzliche Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen (§ 202 SGG; vgl. BSG 1, 277 ff).
Nach § 227 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben und verlegen. Obwohl das Gericht solches Begehren auch unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Beschleunigung des Verfahrens zu prüfen hat (vgl. BSG 1, 36 ff), darf es hierbei den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht mißachten. Sobald erhebliche Gründe im Sinne von § 227 ZPO vorliegen, muß der Termin zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält (BSG 1, 277, 279). Das BSG hat wiederholt (BSG 1, 277 ff; Breithaupt 1958, 1022) dahin erkannt, daß es einen Verstoß gegen den Anspruch auf das rechtliche Gehör und damit einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG darstellt, wenn ein Terminänderungsantrag trotz Vorliegens erheblicher Gründe in Sinne von § 227 ZPO abgelehnt wird. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Ein derartiger Verfahrensmangel ist in Sonderheit gegeben, wenn über einen begründet eingereichten Antrag - wie hier - überhaupt nicht entschieden worden ist. Alsdann hat nämlich das Gericht jegliche Prüfung darüber unterlassen, ob das Vorbringen des Antragstellers zur Verlegung des Termins zwingt. Das LSG hat dem Kläger somit ohne rechtfertigende Begründung das rechtliche Gehör verweigert, wiewohl es allein schon die Anhörung des Gerhard K. im Termin vom 16. Februar 1960 (vgl. Niederschrift in den LSG-Akten Bd. II Bl. 26) von einer Entscheidung nach Lage der Akten hätte abhalten sollen. Im vorliegenden Falle ist zudem nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht bei der sachlichen Behandlung des Verlegungsantrags zu einem positiven Ergebnis gekommen wäre, weil schon die äußeren Umstände - Abwesenheit des Klägers von Berlin und Ladungsfrist von nur sechs Tagen - dafür sprechen. Ferner besteht die Möglichkeit, daß der Kläger in einem neuen Termin persönlich oder durch einen Bevollmächtigten aufgetreten wäre und durch zweckmäßige Erklärungen eine andere Entscheidung des LSG zur Sache herbeigeführt hätte. Indessen stellt bereits die Nichtbescheidung des Verlegungsantrags eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar und macht ihrerseits das Verfahren in einem wesentlichen Punkt fehlerhaft.
IV. Da dieser Mangel vom Kläger genügend substantiiert gerügt wurde, ist die Revision statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Deswegen bedurfte es keiner zusätzlichen Entscheidung darüber, ob in der Ablehnung seines Antrags auf Anhörung eines weiteren Sachverständigen durch das Berufungsgericht nochmals ein wesentlicher Verfahrensmangel zu finden ist und sich die Statthaftigkeit der Revision hieraus ebenfalls ergibt.
Nach alledem konnte der Revision der Erfolg nicht versagt bleiben. Wegen des festgestellten wesentlichen Mangels ist das vom LSG bisher durchgeführte Verfahren nicht geeignet, als Grundlage für die Urteilsfindung in der Sache selbst zu dienen, zumal sich bei Wahrung des rechtlichen Gehörs andere Sachfeststellungen als die bisher getroffenen ergeben könnten. Infolgedessen kann es auch nicht die Grundlage für eine Entscheidung durch das BSG selbst bilden. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers hinsichtlich des erhobenen Anspruchs auf Registrierung und Vermittlung als technischer Zeichner (§§ 53, 54 SGG) ist gegeben, da er - unabhängig von der späteren Übernahme einer neuen Beschäftigung als Arbeitnehmer - behauptet hat, für den streitigen Zeitraum durch die Ablehnung oder Unterlassung des beantragten Verwaltungsakts beschwert zu sein.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
BSGE, 44 |
NJW 1962, 1463 |
MDR 1962, 686 |