Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorgezogenes Altersruhegeld
Leitsatz (redaktionell)
Alle Regelleistungen aus der RV, soweit sie eine Rente darstellen, bedingen das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs über 156 Tage hinaus. Obzwar nicht nochmals besonders im Gesetz erwähnt, muß dieser Grundsatz in gleicher Weise für das vorgezogene Altersruhegeld gelten, weil es ebenfalls eine Art Altersrente ist. Infolgedessen hat der Senat im Wege einer ausdehnenden Rechtsauslegung das "vorgezogene Altersruhegeld" hinsichtlich der Ruhenswirkung beim Alg dem gewöhnlichen Altersruhegeld gleichgestellt. Der Senat hat keine Veranlassung, in dem anhängigen Rechtsstreit von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.
Normenkette
AVAVG § 87 Abs. 5 Fassung: 1957-04-03; RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Februar 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1895 geborene Kläger bezog mit Unterbrechungen durch Krankheit seit August 1957 Arbeitslosengeld (Alg), das ihm zuletzt für insgesamt 312 Tage bewilligt worden war. Als ihm die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) laut Mitteilung vom 9. Februar 1959 rückwirkend vom 1. August 1958 an das vorgezogene Altersruhegeld zuerkannte, hatte er bereits für mehr als 156 Tage Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Mit Bescheid vom 21. Februar 1959 entzog die Beklagte alsdann das dem Kläger bewilligte Alg rückwirkend vom 1. August 1958 an und ordnete die Rückzahlung von 345,60 DM an, weil der Anspruch auf Alg über 156 Tage hinaus wegen der Rentenbewilligung nach § 87 Abs. 5 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) ruhe; er habe daher für fünf Wochen und drei Tage die Versicherungsleistung zu Unrecht erhalten. Den Widerspruch hiergegen wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 22. April 1959).
Auf Klage hin hob das Sozialgericht (SG) Schleswig (Urteil vom 30. September 1959) die angefochtenen Bescheide auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger die aus der Nachzahlung der BfA einbehaltenen 345,60 DM zu zahlen.
II. Auf die (zugelassene) Berufung der Beklagten hin hob das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 10. Februar 1960) das sozialgerichtliche Urteil auf und wies die Klage ab. Die Bewilligung des vorgezogenen Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) habe das Ruhen des Alg-Anspruchs des Klägers vom 157. Tage an ausgelöst. Dieses falle zwar nicht unter den Begriff der ähnlichen Bezüge öffentlich-rechtlicher Art im Sinne von § 87 Abs. 5 AVAVG, es sei aber wie eine Rente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu behandeln. Das vorgezogene Altersruhegeld werde zwar in jener Vorschrift nicht ausdrücklich erwähnt; das erkläre sich daraus, daß dieses Rechtsinstitut zeitlich erst nach Inkrafttreten des Änderungsgesetzes zum AVAVG vom 23. Dezember 1956, auf dem die jetzige Fassung des § 87 Abs. 5 AVAVG beruhe, geschaffen worden sei. Die Gleichwertigkeit beider Renten führt indessen zu dem Ergebnis, daß die Empfänger des vorgezogenen Altersruhegeldes bezüglich der Versicherungsleistung aus der Arbeitslosenversicherung nicht anders - also nicht besser - behandelt werden könnten als diejenigen, die eine Rente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres erhalten. Das vorgezogene Altersruhegeld sei daher im Analogieschluß in die Regelung des § 87 Abs. 5 AVAVG einzubeziehen und stehe demgemäß der Verwirklichung des Alg-Anspruchs über 156 Tage hinaus entgegen.
Revision wurde zugelassen.
III. Gegen das ihm am 26. April 1960 zugestellte Urteil legte der Kläger am 19. Mai 1960 Revision ein und begründete diese am 15. Juni 1960. Er ist der Auffassung, daß das vorgezogene Altersruhegeld nicht das Ruhen seines Alg-Anspruchs bewirkt habe, da diese Rentenart von § 87 Abs. 5 AVAVG nicht erfaßt werde. Das LSG habe übersehen, daß nach Schaffung des Instituts des vorgezogenen Altersruhegeldes in § 25 Abs. 2 AVG nF zwei Änderungsgesetze zum AVAVG verabschiedet worden seien, durch die unter anderem auch § 87 Abs. 5 AVAVG dem Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetz angepaßt wurde, indem es statt "Rente wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit" nunmehr "Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit" heiße. Aus dem Umstand, daß eine Einbeziehung des vorgezogenen Altersruhegeldes in die Ruhensvorschrift des § 87 Abs. 5 AVAVG, die bei dieser Gelegenheit ein leichtes gewesen wäre, nicht vorgenommen wurde, ergebe sich der Wille des Gesetzgebers, eine derartige Regelung nicht zu troffen. Daher habe das LSG diese Vorschrift auf den Alg-Anspruch des Klägers zu Unrecht ausgedehnt. Im übrigen sei nicht aufgeklärt, ob die Beklagte im Falle der Berechtigung der Entziehung dann nicht auf die Rückforderung habe verzichten müssen.
Der Kläger beantragte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und das sozialgerichtliche Urteil wiederherzustellen,
hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung ihres Antrags bezieht sich die Beklagte auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juli 1960 (7 RAr 33/60) in einem ähnlich gelagerten Rechtsstreit.
IV. Die durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Revision ist zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet (§§ 164, 166 SGG) worden ist.
Die Revision ist auch begründet.
Zutreffend hat das LSG die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide insoweit bejaht, als sie das Ruhen des Alg-Anspruchs des Klägers über 156 Tage hinaus wegen des ihm bewilligten Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 2 AVG feststellen und deshalb vom 157. Tage an das bewilligte Alg entziehen. Der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 27. Juli 1960 (7 RAr 33/60) entschieden, daß hinsichtlich der Auswirkungen auf die erweiterte Bezugsdauer des Alg der Bezug des sogenannten "vorgezogenen" Altersruhegeldes (§ 25 Abs. 2 AVG) der Gewährung des Altersruhegeldes wegen Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 25 Abs. 1 AVG) gleichsteht und das Ruhen des Alg über 156 Tage hinaus nach § 87 Abs. 5 AVAVG zur Folge hat (vgl. BSG in SozR AVAVG § 87 Bl. Ba 2 Nr. 2). Überdies hat der Senat aus denselben rechtlichen Erwägungen die gleiche Rechtsfolge auch im Hinblick auf das vorgezogene Altersruhegeld einer Versicherten (§ 25 Abs. 3 AVG) ausgesprochen (vgl. BSG 13, 6; Breithaupt 1961, 70; BSG in SozR AVAVG § 87 Bl. Ba 1 Nr. 1). Wie in den genannten Entscheidungen des näheren dargelegt ist, bejaht der Senat die analoge Anwendung des § 87 Abs. 5 AVAVG auf die Rentenarten des § 25 Abs. 2 und 3 AVG deshalb, weil zwischen ihnen und der Rente nach § 25 Abs. 1 AVG, die in § 87 Abs. 5 AVAVG ausdrücklich erwähnt ist, ein Wesensunterschied nicht besteht. In allen drei Fällen wird das Ruhegeld wegen Erreichung eines höheren Lebensalters gewährt. Die besonderen Voraussetzungen, die zusätzlich für das vorgezogene Altersruhegeld vorliegen müssen, ändern an der Wesensgleichheit dieser Renten nichts. Die Rente nach § 25 Abs. 2 AVG wie die nach § 25 Abs. 3 AVG ist nur eine besondere Art des Altersruhegeldes wegen Erreichung des 65. Lebensjahres und daher wie dieses eine Regelleistung der Rentenversicherung. Sie muß daher die Gleichbehandlung wie der Normalfall erfahren, zumal ein abweichender Wille des Gesetzgebers in keiner Rechtsvorschrift niedergelegt ist. Dem steht nicht entgegen, daß das "vorgezogene Altersruhegeld" durch das Zweite Änderungsgesetz zum AVAVG vom 7. Dezember 1959 (BGBl I 705) in § 87 Abs. 5 AVAVG als weiterer Rechtsbegriff nicht ausdrücklich aufgenommen wurde. Hieraus ist vielmehr zu schließen, daß der Gesetzgeber das Vorliegen einer Lücke im Gesetz diesbezüglich nicht annahm, weil bereits die Gesamtumstände ergeben, daß die Ruhenswirkung auch der Renten nach § 25 Abs. 2 und 3 AVG durch die Regelung des Normalfalles der Altersrente (§ 25 Abs. 1) umschlossen und erfaßt ist. Diese Folgerung ergibt sich schließlich auch aus dem Sinn und Zweck des § 87 Abs. 5 AVAVG, der darin besteht, Doppelversorgung über 156 Tage hinaus aus Leistungen der Sozial- bzw. der Arbeitslosenversicherung zu vermeiden. Daher bedingen alle Regelleistungen aus der Rentenversicherung, soweit sie eine Rente darstellen, das Ruhen des Alg-Anspruchs über 156 Tage hinaus. Obzwar nicht nochmals besonders im Gesetz erwähnt, muß dieser Grundsatz in gleicher Weise für das vorgezogene Altersruhegeld gelten, weil es ebenfalls eine Art der Altersrente ist. Infolgedessen hat der Senat im Wege einer ausdehnenden Rechtsauslegung das "vorgezogene Altersruhegeld" hinsichtlich der Ruhenswirkung beim Alg dem gewöhnlichen Altersruhegeld gleichgestellt. Der Senat hat keine Veranlassung, in dem anhängigen Rechtsstreit von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Mithin ist das Urteil des LSG zu bestätigen, soweit es entschieden hat, daß das dem Kläger rückwirkend nach § 25 Abs. 2 AVG bewilligte Ruhegeld das Ruhen seines Alg-Anspruchs über 156 Tage hinaus bewirkt (§ 87 Abs. 5 AVAVG). Die insoweit bewilligten Leistungen hat die Beklagte dem Kläger deshalb zu Recht nach § 185 Abs. 1 AVAVG entzogen.
V. Das LSG hat indessen nicht beachtet, daß nach § 185 Abs. 2 Satz 3 AVAVG dann, wenn sich der Rückforderungsanspruch auf eine nachträgliche Rentenbewilligung im Sinne von § 185 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AVAVG - wie hier - gründet, auf die Rückforderung verzichtet werden soll, wenn und soweit sie mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers nicht vertretbar wäre. In dieser Richtung hat das Vordergericht Prüfungen nicht angestellt. Infolgedessen verfügt der erkennende Senat über keine Feststellungen tatsächlicher Art (Gesundheitszustand, Familienverhältnisse, sonstige finanzielle Verpflichtungen des Klägers u.a.), die beurteilen lassen, ob die Voraussetzungen für einen Verzicht gegeben sind und ob die Beklagte ihr Ermessen diesbezüglich richtig ausgeübt hat. Da hiervon die Rechtmäßigkeit des in den angefochtenen Bescheiden erhobenen Rückforderungsanspruchs abhängt, das Revisionsgericht seinerseits aber solche Feststellungen selbst nicht treffen kann, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen