Entscheidungsstichwort (Thema)
Lösung vom Facharbeiter-Beruf. Berufsunfähigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Eine zunächst unfreiwillige, gesundheitlich bedingte Lösung vom erlernten Facharbeiterberuf kann dann als freiwillig angesehen werden, wenn nach den gesamten Umständen des Einzelfalles anzunehmen ist, daß der Versicherte, selbst wenn er gesundheitlich wieder Tätigkeiten in seinem Facharbeiterberuf verrichten könnte, deshalb nicht mehr in seinen früheren Beruf zurückkehrt, weil ihm die neue Tätigkeit bessere Arbeitsbedingungen und/oder eine höhere Entlohnung bietet.
Orientierungssatz
Hat sich der Versicherte aus freien Stücken von seinem Facharbeiterberuf (Bäckerberuf) abgewendet, dann muß er sich als ungelernter Arbeiter behandeln und dementsprechend auf einen weiten Kreis von ungelernten Tätigkeiten verweisen lassen. Sollte der Versicherte sich nicht von seinem früheren Beruf gelöst haben, dann wäre seine Verweisbarkeit, soweit es sich um ungelernte Tätigkeiten handelt, auf besonders herausgehobene eingeschränkt; dabei würde eine tarifliche Gleichstellung der betreffenden Tätigkeit mit einer angelernten ausreichen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. August 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1922 geborene Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit. Seinen erlernten Beruf eines Bäckers hat er nur bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst und nach der Entlassung aus der Gefangenschaft von November 1947 bis Dezember 1953 ausgeübt, seit Mitte 1949 in einer Brotfabrik. Bei einer Untersuchung durch den ärztlichen Dienst des Arbeitsamtes B im Mai 1954 wurden verschiedene Gesundheitsschäden festgestellt, die ihn für eine weitere Tätigkeit als Bäcker ungeeignet machten. In der Folgezeit arbeitete er bei der Bundespost, in der Bau- und in der Autoindustrie sowie im B Hafen. Seit Februar 1960 war er Glasreiniger (Fensterputzer). Wegen zweier 1963 und 1972 erlittener Arbeitsunfälle bezieht er von der Bauberufsgenossenschaft Renten nach einer MdE von 20 % und 40 %. Mitte 1973 kündigte ihm der letzte Arbeitgeber, weil er wegen der Unfallfolgen nicht mehr als Fensterputzer arbeiten könne.
Den im September 1973 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. März 1974 ab, nachdem der Facharzt für Chirurgie Dr. F zu dem Ergebnis gekommen war, der Kläger könne zwar als Fensterputzer nicht mehr eingesetzt werden, im übrigen jedoch noch leichte Arbeiten teils im Sitzen, teils im Stehen vollschichtig verrichten.
Das Sozialgericht (SG) hat die auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 17. November 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1973 die begehrte Rente zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger genieße Berufsschutz als Bäcker; denn von diesem - seinem erlernten - Beruf habe er sich, wie sich aus den Unterlagen des arbeitsamtsärztlichen Dienstes aus dem Jahre 1954 ergebe, aus gesundheitlichen Gründen gelöst; daß er seine Bäckertätigkeit bereits vor 23 Jahren aufgegeben und in der Folgezeit - auch als Fensterputzer - nur ungelernte Arbeiten verrichtet habe, sei unerheblich. Als gelernter Bäcker könne der Kläger nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, deren tarifliche Einstufung der Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Angelernte) entspreche. Wegen der von Dr. F festgestellten Gesundheitsstörungen sei er nur noch in der Lage, leichte Arbeiten teils im Sitzen, teils im Stehen zu verrichten, so daß er weder als Bäcker noch als Fensterputzer verwendet werden könne. Zwar gebe es in anderen Berufen leichte Arbeiten im Wechsel von Sitzen und Stehen. Auf eine Tätigkeit als Pförtner, Bote oder Bürohilfskraft dürfe der Kläger als Facharbeiter aber nicht verwiesen werden, weil dazu keine längere betriebliche Einarbeitung erforderlich sei. Auch einfache Tätigkeiten nach der Lohngruppe II des Manteltarifvertrages für Arbeiter der Länder vom 27. Februar 1964 seien ihm nicht zumutbar. Auf andere Tätigkeiten, die eine längere Einarbeitung erforderten, sei er nicht verweisbar, zumal er über keine beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, die er in eine neue Tätigkeit einbringen könnte. Auch das BSG habe einen Versicherten auf eine Tätigkeit, die eine Einarbeitungszeit von mehr als drei Monaten erfordere, nur verwiesen, wenn der Versicherte sie bereits ausübe oder die erforderliche Einarbeitung durchlaufen habe. Überhaupt wäre der Kläger durch einen Arbeitsplatz überfordert, auf dem er von Grund auf neu beginnen müßte (Urteil vom 26. August 1977).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, der Kläger verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn er sich nach fast 18 1/2 Jahren ungelernter Tätigkeiten auf den Berufsschutz als Bäcker berufe, obwohl er in diesem Beruf nur 6 1/2 Jahre gearbeitet habe. Hätte er die von ihm ausgeübten Tätigkeiten als wirtschaftlich und sozial unzumutbar empfunden, hätte er bei der Beklagten oder der Berufsgenossenschaft Berufsförderungsmaßnahmen beantragen können. Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. August 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. November 1975 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er macht geltend, nach der Rechtsprechung des BSG komme es für seinen Berufsschutz als Bäcker auf die Dauer der späteren Beschäftigungsverhältnisse nicht an, da er seinen erlernten Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben habe. Anhaltspunkte dafür, daß er sich deshalb vom Bäckerberuf gelöst habe, weil die später aufgenommenen Tätigkeiten gegenüber der früheren Facharbeitertätigkeit besser entlohnt worden seien, gebe es nicht.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet, ohne daß der Senat den Rechtsstreit schon abschließend entscheiden kann. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob als "bisheriger Beruf" des Klägers, nach dem sich der Kreis der für ihn zumutbaren Verweisungstätigkeiten bestimmt (§ 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), der Bäckerberuf anzusehen ist, er also einen "Berufsschutz" als Facharbeiter genießt, wie das LSG angenommen hat.
Der Kläger hat zwar den Beruf eines Bäckers erlernt und auch etwa 6 1/2 Jahre ausgeübt, wenn auch überwiegend in einer Brotfabrik. Danach hat er jedoch mehr als 18 Jahre andere - ungelernte - Tätigkeiten verrichtet. Daß auch seine letzte Tätigkeit als Fensterputzer ihm keinen "dem Facharbeiter vergleichbaren Status" verschafft hat, obwohl der Beruf des Gebäudereinigers zu den anerkannten Ausbildungsberufen gehört, (vgl Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 18. Juli 1978, Beilage zum Bundesanzeiger Nr 196 vom 17. Oktober 1978, S. 11), hat das LSG unter Hinweis auf die Verordnung über die Berufsausbildung zum Gebäudereiniger vom 3. Oktober 1973 (BGBl I, S. 1480, vgl insbesondere § 9) zutreffend festgestellt; denn das Berufsbild des Gebäudereinigers umfaßt wesentlich mehr Tätigkeiten als die dem Kläger allein übertragen gewesene Reinigung von Verglasungen (vgl Molle, Wörterbuch der Berufs- und Berufstätigkeitsbezeichnungen, 2. Aufl, 1975, S. 299).
Mit der Verrichtung von ungelernten Tätigkeiten hätte sich der Kläger allerdings dann nicht von seinem früheren Bäckerberuf gelöst, wenn er diesen Beruf nicht freiwillig aufgegeben hätte, wenn er dazu insbesondere aus gesundheitlichen Gründen genötigt gewesen wäre (vgl BSGE 2, 182, 186 f; 15, 212, 214; SozR Nr 87 zu § 1246 RVO Bl Aa 79). Zu einer freiwilligen Lösung vom erlernten Beruf kann indessen auch eine zunächst gesundheitlich bedingte, also unfreiwillige, werden, sofern nämlich nach den gesamten Umständen des Falles anzunehmen ist, daß der Versicherte, selbst wenn er gesundheitlich dazu wieder in der Lage wäre, nicht mehr in seinen früheren Beruf zurückkehren würde, etwa weil ihm die neue Tätigkeit bessere Arbeitsbedingungen und/oder eine höhere Entlohnung bietet. Würde der Versicherte in einem solchen Fall einen Berufsschutz als Facharbeiter damit begründen wollen, daß er ursprünglich unfreiwillig aus seinem erlernten Beruf ausgeschieden sei, obwohl er inzwischen eine ihm mehr zusagende - ungelernte oder angelernte - Tätigkeit gefunden hat, die er in keinem Falle, auch bei entsprechendem Leistungsvermögen, zugunsten der früheren Facharbeitertätigkeit wieder aufgeben würde, so könnte dieses Verhalten, weil in sich widersprüchlich, nicht gebilligt werden. Der Versicherte müßte sich dann vielmehr so behandeln lassen, als ob er sich freiwillig von seinem früheren Beruf gelöst hätte.
In diesem Sinne hat das BSG schon wiederholt entschieden, so der 5. Senat in einem Urteil vom 7. September 1961 für den Fall, daß ein Versicherter, der seinen früheren Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, später nicht nur vorübergehend eine andere Tätigkeit aufgenommen hat, die solche Vorzüge gegenüber seiner früheren aufweist, daß mit einer Rückkehr zu ihr nicht mehr zu rechnen ist, selbst wenn dies gesundheitlich wieder möglich wäre; dabei ist für einen Vergleich des Einkommens aus der früheren und der jetzigen Tätigkeit weitgehend der tatsächliche, nicht der tarifliche Verdienst zugrunde gelegt worden (SozR Nr 18 zu § 35 RKG aF). Dieser Entscheidung hat sich der 12. Senat in einem Urteil vom 28. Mai 1963 angeschlossen (SozR Nr 33 zu § 1246 RVO). Auch der erkennende Senat hat eine aus gesundheitlichen Gründen erfolgte Lösung von einem Facharbeiterberuf dann für beachtlich gehalten, wenn der Versicherte die Möglichkeit nicht genutzt hatte, wieder eine seiner früheren Stellung etwa gleichwertige Arbeit zu erlangen (Urteil vom 3. Februar 1966, BSGE 24, 221).
Wäre somit der Kläger - nach Aufgabe seines Bäckerberufs im Jahre 1954, die nach den nicht angefochtenen Feststellungen des LSG auf gesundheitlichen Gründen beruhte - in diesen Beruf auch dann nicht wieder zurückgekehrt, wenn er dazu gesundheitlich imstande gewesen wäre, so hätte er sich freiwillig von seinem früheren Beruf gelöst. Ob ein solcher Fall hier vorliegt, hat das LSG bisher nicht geprüft. Diese Prüfung wird nunmehr nachzuholen sein, und zwar vom LSG als Tatsachengericht, da ihr Ergebnis entscheidend von einer Würdigung aller Umstände des einzelnen Falles abhängt; dabei kann sich die richterliche Überzeugungsbildung vor allem auf einen Vergleich der Arbeitsbedingungen und der Einkommen stützen.
Sollte die Prüfung ergeben, daß der Kläger sich nach dem Jahre 1954, namentlich während seiner Tätigkeit als Fensterputzer, aus freien Stücken von seinem Bäckerberuf abgewendet hat, dann müßte er sich als ungelernter Arbeiter behandeln und dementsprechend auf einen weiten Kreis von ungelernten Tätigkeiten verweisen lassen. Sollte das LSG dagegen nicht die Überzeugung von einer freiwilligen Lösung des Klägers von seinem früheren Beruf gewinnen können, dann wäre seine Verweisbarkeit, soweit es sich um ungelernte Tätigkeiten handelt, auf besonders herausgehobene eingeschränkt; dabei würde jedenfalls eine tarifliche Gleichstellung der betreffenden Tätigkeit mit einer angelernten ausreichen. Könnte der Kläger mit seinem Leistungsvermögen die gesundheitlichen und beruflichen Anforderungen einer solchen Tätigkeit erfüllen, so wäre er im übrigen auf sie auch dann verweisbar, wenn er keinen entsprechenden Arbeitsplatz innehätte. Das Arbeitsplatzrisiko trägt insoweit, wie auch sonst, die Arbeitsvermittlung, nicht der Träger der Rentenversicherung.
Der Senat hat hiernach auf die Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen; dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden.
Fundstellen