Orientierungssatz

1. Ist die Revision zugelassen, so kann mit ihr auch eine fehlerhafte Beweiswürdigung gerügt werden.

2. Will das Gericht seine Entscheidung auf ein Zusatzgutachten stützen, in dem es einen Gegensatz zum Hauptgutachten gesehen hat, so muß es den Zusatzgutachter selbst bestellen, wenn es dessen Gutachten als das eines Sachverständigen verwerten will.

 

Normenkette

RVO § 1247 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Urteil vom 11.02.1977; Aktenzeichen L 1 J 43/75)

SG Bremen (Entscheidung vom 11.02.1975; Aktenzeichen S J 237/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 11. Februar 1977 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem 1922 geborenen Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren hat. Der Kläger hat einen Beruf nicht erlernt und ist früher als Holz- und als Lagerarbeiter beschäftigt gewesen. Seit 1947 war er bei der Deutschen Bundesbahn tätig, zunächst als Bahnunterhaltungsarbeiter, seit 1952 im Beamtenverhältnis. Zum 1. Mai 1974 wurde er als Bundesbahnobersekretär aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt.

Seinen Rentenantrag vom Februar 1974 lehnte die Beklagte nach Begutachtung des Klägers in einer diagnostischen Klinik (mit nervenfachärztlicher Zusatzbegutachtung durch Dr. R) ab, weil er noch mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten könne (Bescheid vom 23. Juli 1974). Seine Klage blieb im ersten Rechtszug erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Bremen - SG - vom 29. September 1975). Das SG stützte sich dabei auf ein von ihm eingeholtes nervenfachärztliches Gutachten der Dres. B und S vom April 1975. Diese hatten ein psychologisches Zusatzgutachten von dem Diplompsychologen v d M beigezogen; danach entsprach die intellektuelle Leistungsfähigkeit des Klägers noch voll dem Altersdurchschnitt; es lägen aber Störungen - wahrscheinlich hirnorganischer Natur im Sinne eines recht ausgeprägten Altersabbaus - vor, die sich auf die allgemeine Beweglichkeit des Denkens und auf die Fähigkeit bezögen, auch unbekannte Situationen schnell und treffsicher zu überblicken und in adäquater Weise auf sie zu reagieren. Die Hauptgutachter hielten diese Störungen "aufgrund der hier erhobenen Befunde in Kenntnis der gesamten Vorgeschichte nicht von so großem Ausmaß, daß Herr D. nicht altersgemäße Lohnarbeiten im vollen Umfang in seinem früher ausgeübten Beruf als Lagerarbeiter oder in einem ähnlichen bzw. vergleichbaren Beruf als Bote, Pförtner und für leichte Büroarbeiten ausüben könnte".

Auf die Berufung des Klägers hat ihm das Landessozialgericht (LSG) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab März 1974 zugesprochen (Urteil vom 11. Februar 1977). Dabei hat es dem Gutachten des Diplompsychologen v d M den Vorzug vor der Bewertung des Leistungsvermögens durch Dres. B und S gegeben, weil diese ihr Gutachten nur aus psychiatrischer Sicht erstattet hätten und die im psychologischen Zusatzgutachten festgestellten Leistungsstörungen nicht in ihr abschließendes Ergebnis einbezogen hätten. Der Kläger könne deshalb nur noch leichte bis mittelschwere Lohnarbeiten im Wechsel von Stehen und Sitzen vollschichtig unter Berücksichtigung seiner durch Voralterung hervorgerufenen Minderung der psychischen Belastbarkeit verrichten. Diese Einschränkungen seiner körperlichen und geistigen Kräfte seien so erheblich, daß ihm eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zugemutet werden könne. Das gelte insbesondere für Arbeiten als Wachmann, Bote, Parkarbeiter, Kalfaktor oder Lagerarbeiter, da sie in der Regel in Bewegung auszuführen seien; es gelte aber auch für die Tätigkeiten eines Pförtners oder Telefonisten, für die dem Kläger nach dem psychologischen Gutachten die geistige Beweglichkeit fehle, ferner für Revisions-, Überwachungs- und Kontrollarbeiten und für Arbeiten eines Lagerverwalters, Magazinverwalters und Materialausgebers - sie erforderten eine ständige Aufnahmebereitschaft und ein gutes Gedächtnis -, schließlich für einen Einsatz als Verwaltungshilfskraft oder als Schreibkraft; dabei käme der Kläger in eine für ihn in jeder Beziehung ungewohnte Umgebung, in der er sich bei seinem Altersabbau nur schwer zurechtfinden könnte.

Die Beklagte hat die - vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt vor allem, das LSG habe das Gutachten des Diplompsychologen v d M "überbewertet" und ihm im Gegensatz zu der richtigen Interpretation des Gutachtens durch die Hauptgutachter "einen anderen Sinn gegeben". Der Psychologe habe den Kläger keineswegs für erwerbsunfähig gehalten, sondern sein Leistungsvermögen vielmehr ebenso wie vorher Dr. R eingeschätzt. Die Beweiswürdigung des LSG verstoße deshalb gegen Denkgesetze. Im übrigen gebe es noch zahlreiche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, bei denen der Kläger nicht eine Vielzahl unterschiedlicher Reize gleichzeitig erfassen und verwerten müßte. Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Bremen vom 11. Februar 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Bremen vom 29. September 1975 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Seiner Ansicht nach hat die Beklagte die Feststellungen des LSG über sein Leistungsvermögen nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Feststellungen des LSG über das Leistungsvermögen des Klägers beruhen, wie die Beklagte mit Recht geltend macht, auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Dieser Verfahrensmangel kann bei einer zugelassenen Revision - anders als bei einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) - auch gerügt werden.

Der Diplompsychologe v d M hat in seiner abschließenden Stellungnahme zwar bestimmte Störungen in der psychischen Leistungsfähigkeit des Klägers und - damit zusammenhängend - eine nicht unerhebliche Herabsetzung der allgemeinen psychischen Belastbarkeit angenommen. Er hat sich jedoch nicht zu der - für den Rentenanspruch des Klägers entscheidenden - Frage geäußert, ob und welche Tätigkeiten der Kläger noch verrichten kann. Diese (vom SG im Gutachtenauftrag gestellte) Frage haben allein die Hauptgutachter Dres. B und S beantwortet, und zwar in dem Sinne, daß der Kläger noch in der Lage sei, altersgemäße Lohnarbeiten in vollem Umfange in seinem früheren Beruf als Lagerarbeiter oder in einem ähnlichen bzw vergleichbaren Beruf als Bote, Pförtner oder in einem Büro auszuüben. Daß die Hauptgutachter dabei, wie das LSG meint, die im psychologischen Zusatzgutachten erhobenen Befunde nicht berücksichtigt hätten, trifft nicht zu. Sie sind auf diese Befunde vielmehr ausdrücklich eingegangen, haben "die genannten psychischen Alterationen" indessen nicht für ausreichend gehalten, um die Fähigkeit des Klägers für altersgemäße Lohnarbeiten der genannten Art auszuschließen. Wenn das LSG dies im Gegensatz zu ihnen dennoch angenommen und sich dabei auf das psychologische Zusatzgutachten gestützt hat, so hat es die Grenzen überschritten, die der richterlichen Beweiswürdigung bei der - weitgehend vom medizinischen Sachverhalt abhängigen - Feststellung des Leistungsvermögens eines Versicherten gezogen sind, und hat damit § 128 Abs 1 SGG verletzt. Im übrigen ist dem psychologischen Zusatzgutachten, wie die Beklagte mit Recht vorträgt, eher zu entnehmen, daß der Gutachter die Fähigkeit des Klägers zur Verrichtung bestimmter Tätigkeiten ähnlich wie vor ihm schon Dr. R beurteilt hat, dessen Gutachten er wiederholt zustimmend erwähnt. Auch darauf hat die Beklagte mit Recht hingewiesen.

Ist hiernach die Annahme des LSG, der Kläger könne die fraglichen Tätigkeiten wegen eines nicht ausreichenden psychischen Leistungsvermögens nicht mehr verrichten, mit dem psychologischen Zusatzgutachten nicht zu begründen, so kann das angefochtene Urteil, das auf diesem Gutachten beruht, nicht bestehen bleiben. Da der Senat die fehlenden Feststellungen nicht selbst treffen kann, hat er den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.

Dieses wird bei der neuen Verhandlung zunächst die körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers nochmals zu prüfen haben, insbesondere die Frage, ob er nur noch im Wechsel von Gehen und Sitzen arbeiten kann. Dafür hat Dr. R, der dies allein angenommen hat, keine Begründung gegeben. Sollte seine Beurteilung gleichwohl zutreffen, müßte - gegebenenfalls unter Hinzuziehung von berufskundlichen Sachverständigen - weiter geprüft werden, ob die vom LSG ua in Betracht gezogenen Tätigkeiten als Lagerarbeiter und als Bote nicht hinreichende Möglichkeiten bieten, die gehende Tätigkeit durch gelegentliche Ruhepausen im Sitzen zu unterbrechen (was mindestens bei einer Tätigkeit als Bürobote zutreffen dürfte).

Wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem psychischen Leistungsvermögen des Klägers abhängt und das LSG insoweit eine psychologische Begutachtung für erforderlich hält (vgl dazu das Urteil des Senats vom 30. Juli 1975, 4 RJ 353/74), müßte das Gericht den psychologischen Sachverständigen vor Erstattung seines Gutachtens selbst bestellen, wenn es das Gutachten als das eines Sachverständigen verwerten will (vgl SozR SGG § 128 Nr 71, Nr 73 und Nr 81). Ob das aufgrund eines solchen Gutachtens festgestellte Leistungsvermögen des Klägers für bestimmte berufliche Tätigkeiten ausreicht, wird das LSG im Zweifelsfall mit Hilfe eines einschlägig erfahrenen Sachverständigen klären können. Dabei werden auch sehr einfache Tätigkeiten als Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen, da der Kläger während seines Versicherungslebens anscheinend keine qualifizierten Arbeiten verrichtet hat.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, hat der Senat dem LSG überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647484

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