Verfahrensgang
SG Augsburg (Urteil vom 26.08.1987) |
Tenor
Auf die Sprungrevision der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 26. August 1987 und der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1985 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beklagte gewährte der am 19. Januar 1910 geborenen Klägerin, die als italienische Staatsangehörige in Italien lebt, mit Bescheid vom 17. April 1984 ab dem 1. September 1982 Witwenrente nach § 1268 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Ihr am 10. August 1982 verstorbener Ehemann hatte in Italien eine Versicherungszeit von 323 Kalendermonaten und in Deutschland eine Versicherungszeit von 24 Kalendermonaten zurückgelegt. Zum Zeitpunkt seines Todes erhielt er wegen Vollendung des 65. Lebensjahres aus der deutschen Rentenversicherung eine Rente von 44,60 DM. Der italienische Unfallversicherungsträger teilte der Beklagten mit Schreiben vom 12. Juni 1984 mit, daß die Klägerin seit dem 1. Februar 1984 eine Witwenrente aus der italienischen Unfallversicherung rückwirkend ab 1. August 1982 bezieht. Daraufhin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Dezember 1985 die Witwenrente unter Anwendung der Ruhensvorschriften der §§ 1278 ff RVO rückwirkend neu fest.
Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage mit Urteil vom 26. August 1987 abgewiesen, weil die Anwendung der Ruhensvorschriften im angefochtenen Bescheid unter Berücksichtigung des § 1279a Abs 1 RVO zu Recht erfolgt sei.
Die Klägerin hat hiergegen mit Zustimmung der Beklagten die im Urteil des SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt Verletzungen des materiellen Rechts durch das Erstgericht.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 19. Dezember 1985 und des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 26. August 1987 die Beklagte zur erneuten Berechnung des Ruhens der Witwenrente unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen;
hilfsweise beantragt sie,
den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung statthafte und gemäß § 161 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) formgerecht eingelegte Sprungrevision der Klägerin ist im Ergebnis begründet.
Es kann offen bleiben, ob der gemäß § 77 SGG bindend gewordene Witwenrentenbescheid vom 17. April 1984 deshalb rechtswidrig ist, weil in diesem Bescheid die der Klägerin gewährten Leistungen aus der italienischen Unfallversicherung nicht iS der Ruhensvorschriften der §§ 1278 ff RVO berücksichtigt worden sind. Da die Klägerin die genannten italienischen Leistungen nach der für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Tatsachenfeststellung des SG bereits seit 1. Februar 1984 und damit schon vor Erlaß des rechtsverbindlichen Bescheides vom 17. April 1984 erhalten hat, kann dieser Bescheid im Falle seiner Rechtswidrigkeit – wie der erkennende Senat mit Urteil vom 9. April 1987 (SozR 1300 § 45 Nr 29) gerade für den Fall des Ruhens einer Rente aus der Arbeiterrentenversicherung entschieden hat – nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB 10) ganz oder teilweise zurückgenommen werden.
Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes iS dieser Vorschrift ist aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Ermessensentscheidung (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 13. Juli 1988 – 5/5b RJ 24/87 – mwN). Die Beklagte hat indes in dem hier angefochtenen Bescheid vom 19. Dezember 1985 keine Ermessensentscheidung getroffen. Insoweit fehlt es bereits an einer hierfür vorgeschriebenen Begründung iS des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10. Die Begründung des Bescheides beschränkt sich vielmehr auf die Wiedergabe der materiell-rechtlichen Ruhensregelung. Diese Bescheidbegründung läßt erkennen, daß die Beklagte über die Rücknahme des Erstbescheides vom 17. April 1984 gerade keine Ermessensentscheidung hat treffen wollen, sondern sich zur Aufhebung dieses Bescheides aufgrund der Annahme eines gebundenen Verwaltungshandelns für verpflichtet gehalten hat.
Wie der erkennende Senat bereits im Anschluß an das Urteil des 1. Senats des BSG vom 15. Oktober 1987 (SozR 1300 § 45 Nr 32) mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 13. Juli 1988 aaO entschieden hat, führt in einem derartigen Fall allein die fehlende, im Gerichtsverfahren nicht nachholbare Ermessensentscheidung zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung des – hier mit der Klage angefochtenen – Rentenneufeststellungsbescheides. An dieser Rechtsauffassung hält der erkennende Senat fest. Auf die Gründe seines Urteils vom 13. Juli 1988 wird insoweit Bezug genommen.
An diesem Ergebnis ändert auch nichts der im ersten Witwenrentenbescheid vom 17. April 1984 enthaltene Widerrufsvorbehalt. Abgesehen davon, daß dieser – wie sich aus § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10 ergibt – ohnehin nicht zu einer rückwirkenden Neufeststellung der Witwenrente berechtigt, würde auch die Ausübung des Widerrufs eine – hier fehlende – Ermessensausübung voraussetzen (vgl BSGE 7, 226, 229).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen