Entscheidungsstichwort (Thema)

Ersatzzeiten nach § 1251nF RVO bei Versicherungsfällen in der Zeit vom 1.4.45. 31.12.56

 

Orientierungssatz

§ 26 AVG (§ 1249 RVO) führt für die Versicherungsfälle aus der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956, für die er nach Art 2 § 8 AnVNG (Art 2 § 8 ArVNG) gilt, nicht die Ersatzzeiten des § 28 AVG (§ 1251 RVO nF) ein (vgl BSG vom 1959-01-28 1 RA 139/58 = SozR Nr 1 zu § 1251 RVO).

 

Normenkette

AVG § 26 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 8 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 8 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 26.06.1958)

SG Ulm (Entscheidung vom 31.07.1956)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Juni 1958 wird aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt wurde, einen neuen Bescheid zu erteilen und die Kosten zu tragen.

Die Klage gegen den Bescheid vom 1. Juni 1954 wird in vollem Umfange abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin macht als Witwe des am 13. März 1953 verstorbenen Landwirts J... B... Rentenansprüche aus dessen Beiträgen zur Rentenversicherung der Angestellten (AV.) geltend. Der Verstorbene war nach seiner Flucht aus Niederschlesien in den Jahren von 1945 an versicherungspflichtig beschäftigt; er hat Pflichtbeiträge und freiwillig Beiträge zur AV. geleistet. Im Dezember 1952 beantragte er das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Die Landesversicherungsanstalt Württemberg, die damals die Aufgaben der AV. mit wahrnahm, sah 27 der vom Versicherten freiwillig geleisteten Beiträge als rechtsunwirksam an und beanstandete sie. Die Klägerin, die nach dem Tode des Versicherten das Verfahren weiterbetrieb und Witwenrente beanspruchte, machte geltend, ihr Ehemann habe als Gegenleistung für eine Tätigkeit, die er in den Jahren 1948 und 1949 ausgeführt habe, nachträglich eine Vergütung von 500,-- DM erhalten; hierfür müßten vom Arbeitgeber noch Pflichtbeiträge abgeführt werden. Die Beklagte, die inzwischen für die Feststellung der Leistungen zuständig geworden war, lehnte sowohl den Anspruch auf Ruhegeld als auch den Anspruch auf die Witwenrente ab, weil nur 59 Beitragsmonate nachgewiesen seien und die Wartezeit deshalb nicht erfüllt sei (Bescheid vom 1.6.1954).

Im Verfahren vor dem Sozialgericht Ulm begehrte die Klägerin die Feststellung, ihr Ehemann sei in der Zeit vom 1. Juli 1948 bis 10. Juli 1949 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Das Sozialgericht gab der Klage statt und stellte fest, der Verstorbene habe in der angegebenen Zeit der Versicherungspflicht unterlegen (Urteil vom 31.7.1956).

Gegen das Urteil des Sozialgerichts legten die Beklagte Berufung und die Klägerin Anschlußberufung ein. Die Klägerin beantragte nunmehr, die Beklagte zu verurteilen, ihr das Ruhegeld für den Ehemann bis zu dessen Tode und die Witwenrente vom März 1953 an, spätestens vom 1. Januar 1957 an zu gewähren. Das Landessozialgericht lud die Allgemeine Ortskrankenkasse B... und den Sohn des früheren Arbeitgebers des Versicherten zum Verfahren bei. Es hob auf die Berufung der Beklagten hin das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Feststellungsklage als unzulässig ab; auf die Anschlußberufung der Klägerin hin verurteilte es die Beklagte, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung der Witwenrente aus der AV. vom 1. Januar 1957 an zu erteilen; im übrigen wies es die Klage ab. Zu der Verurteilung der Beklagten führte es in den Urteilsgründen aus, für den Ehemann der Klägerin seien vom 20. Juli 1945 an lediglich 28 Beiträge aus versicherungspflichtiger Beschäftigung und 23 wirksame freiwillige Beiträge nachgewiesen. Mit den hiernach vorhandenen 51 (nicht 59) Monatsbeiträgen sei die Wartezeit nichterfüllt. Für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 bestehe deshalb kein Rentenanspruch. Dagegen sei der Anspruch auf die Witwenrente vom 1. Januar 1957 an gegeben, weil auf die Versicherungszeit des Ehemannes nach Art. 2 § 8 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) in Verbindung mit den §§ 26, 27 Abs. 1b und 23 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) n.F. die nicht mit Beiträgen belegten Zeiten vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 als Ersatzzeiten anzurechnen seien. Mit den sich hiernach ergebenden weiteren 14 Monaten sei eine Versicherungszeit von 65 Monaten nachgewiesen und damit die Wartezeit für die Gewährung der Witwenrente vom 1. Januar 1957 an erfüllt (Urteil vom 26.6.1958).

Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 25. Juli 1958 zugestellte Urteil am 13. August 1958 Revision ein mit dem Antrag, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin in vollem Umfange als unbegründet zurückzuweisen. Sie begründete die Revision am 3. September 1958: § 28 AVG n.F. finde auf Versicherungsfälle aus der Zeit vor dem 1. Januar 1957 keine Anwendung; dies ergebe sich zwingend aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Sinnzusammenhang der Gesetzesvorschriften sowie aus den Gesetzesmaterialien.

Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision.

Die Beigeladenen gaben keine Äußerungen zur Sache ab.

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.

Zwischen den Beteiligten ist, weil allein die Beklagte Revision eingelegt hat, nur noch streitig, ob der Klägerin die Witwenrente aus der AV. vom 1. Januar 1957 an zu gewähren ist. Weil die Wartezeit weder mit den wirksam geleisteten 51 Beiträgen des Versicherten erfüllt ist noch auf Grund besonderer Tatbestände im Sinne von § 29 AVG als erfüllt gilt (§ 40 Abs. 2 AVG), die übrigen Voraussetzungen jedoch gegeben sind, hängt die Entscheidung über den Rentenanspruch nur davon ab, ob Ersatzzeiten nach § 28 AVG n.F. für die Erfüllung der Wartezeit angerechnet werden können. Das Landessozialgericht hat zwar mit Recht angenommen, daß Art. 2 § 8 AnVNG im vorliegenden Falle anzuwenden ist, weil es sich um ein schwebendes Verfahren im Sinne von Art. 2 § 43 AnVNG handelt und weil der Versicherungsfall des Todes vor dem Inkrafttreten des AnVNG, aber nach dem 31. März 1945 eingetreten ist. Nicht richtig ist jedoch die weitere Annahme des Landessozialgerichts, wegen der in Art. 2 § 8 AnVNG angeordneten Geltung des § 26 AVG müsse auch § 28 AVG angewandt werden.

Wie der Senat entschieden hat (SozR. § 1251 RVO n.F. Bl. Aa 1 Nr. 1), führt § 26 AVG für die Versicherungsfälle aus der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956, für die er nach Art. 2 § 8 AnVNG gilt, nicht die Ersatzzeiten des § 28 AVG n.F. ein. Diese Auslegung des Gesetzes hat der Senat im Hinblick auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 8 AnVNG sowie nach dem Sinnzusammenhang und dem Zweck dieser Vorschrift für richtig erachtet. Sie weist zwar auf die Anwartschaftsregelung, wie sie in § 26 AVG enthalten ist (Unverfallbarkeit der Beiträge seit dem 1.1.1924, beschränkte Anrechenbarkeit der Beiträge für die Zeit vorher), nicht aber gleichzeitig - auf dem Weg über § 27 AVG - auch auf die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG hin. Diese Ersatzzeitenregelung gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des AnVNG (1.1.1957) eingetreten sind, nicht auch für Versicherungsfälle aus der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956. In dieser Hinsicht verbleibt es vielmehr bei dem allgemeinen Grundsatz des Art. 2 § 6 AnVNG, wonach altes Recht für alte Versicherungsfälle gilt. An dieser Auffassung hält der Senat nach erneuter Prüfung der Rechtslage auch in vorliegenden Falle fest.

Weil die Klägerin ihren Rechtsanspruch auf einen Versicherungsfall stützt, der schon im Jahre 1953 eingetreten ist, können zu ihren Gunsten Zeiten der Vertreibung oder der Flucht, die erstmals in den Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzen zu Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit erklärt worden sind, nicht angerechnet werden. Mit den nachgewiesenen 51 Beiträgen allein ist aber die Wartezeit (§ 40 Abs. 2 AVG) nicht erfüllt. Die Revision der Beklagten erweist sich sonach als begründet; das angefochtene Urteil muß daher - soweit eine Verurteilung der Beklagten erfolgt ist - aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1954 in vollem Umfang abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324294

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