Leitsatz (amtlich)

Ist die Nachprüfung eines rechtskräftig oder bindend abgelehnten Leistungsantrages erst nach Ablauf der Ausschlußfrist in ArVNG Art 2 § 44 S 4 (= AnVNG Art 2 § 43) beantragt worden, so kann eine Leistung auch nicht vom Zeitpunkt des Neuantrages an gewährt werden. Die Nachprüfung nach dieser Vorschrift ist vielmehr in vollem Umfang ausgeschlossen (Anschluß BSG 1962-06-14 4 RJ 63/61 = SozR Nr 9 zu Art 2 § 44 ArVNG; Anschluß BSG 1962-07-20 12/3 RJ 112/61; Anschluß BSG 1964-02-18 11/1 RA 220/62).

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 44 S. 4 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 43 S. 4 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. April 1962 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11. Oktober 1960 wird zurückgewiesen.

Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob Art. 2 § 43 letzter Satz Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) der erneuten Geltendmachung des klägerischen Anspruchs nach dem 31. Dezember 1958 entgegensteht.

Der durch seine Mutter gesetzlich vertretene Kläger beantragte im November 1952 Waisenrente aus der Versicherung seines im Oktober 1952 verstorbenen Vaters. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 21. März 1953 ab, weil die Anwartschaft aus den Beiträgen des Versicherten erloschen sei (§ 32 AVG aF i. V. m. §§ 1264 ff RVO aF und mit § 4 Abs. 2 SVAG). Mit seiner Klage hatte der Kläger keinen Erfolg; die gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) eingelegte Berufung wurde am 23. März 1955 zurückgenommen. Im Dezember 1959 stellte er erneut den Antrag auf Gewährung der Waisenrente; die Beklagte lehnte ihn als verspätet ab; der Antrag auf Nachprüfung des früheren bindend gewordenen Bescheides hätte nach Art. 2 § 43 AnVNG bis zum 31. Dezember 1958 gestellt werden müssen (Bescheid vom 25. Februar 1960).

Der Kläger sah in der Ablehnung des neuen Antrages eine unbillige Härte. Das SG wies jedoch seine Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG) hob das Urteil des SG auf und sprach dem Kläger vom 1. Dezember 1959 an die Waisenrente zu; soweit er die Rente schon von einem früheren Zeitpunkt an begehrte, wies es die Berufung des Klägers zurück.

Nach der Auffassung des LSG kann der Gesetzgeber den völligen Ausschluß derjenigen Versicherten, die den Nachprüfungsantrag nicht rechtzeitig gestellt haben, nicht gewollt haben, weil diese Gruppe von Versicherten dann schlechter gestellt wäre als diejenigen, die zuvor keinen Rentenantrag gestellt haben; eine solche Regelung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Der letzte Satz in Art. 2 § 43 AnVNG könne nur dahin verstanden werden, daß - wenn der Neuantrag nach dem 31. Dezember 1958 gestellt sei - die bei rechtzeitiger Antragstellung nach Art. 2 § 24 Satz 2 AnVNG mögliche Rentengewährung vom 1. Januar 1957 an entfalle und für den Beginn der Rente der Zeitpunkt der Stellung des neuen Leistungsantrags maßgeblich sei (§ 67 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -). Das LSG ließ in seinem Urteil vom 11. April 1962 die Revision zu.

Der Kläger und die Beklagte legten Revision ein. Der Kläger beantragte, die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Rentengewährung auch für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. November 1959 zu verurteilen. Er rügte für diesen Zeitraum die Nichtanwendung von § 44 AnVNG sowie die Verletzung von Art. 2 §§ 24 und 43 letzter Satz AnVNG und § 67 AVG.

Die Beklagte beantragte, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers in vollem Umfange zurückzuweisen. Nach ihrer Ansicht ist Art. 2 § 43 AnVNG vom LSG unrichtig angewendet worden.

Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revisionen der Beteiligten sind zulässig; aber nur die Revision der Beklagten ist begründet. Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG steht der erneuten Geltendmachung des klägerischen Anspruchs entgegen.

Nach Art. 2 § 6 AnVNG sind Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze nach den bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Vorschriften zu beurteilen, soweit nicht in den folgenden Vorschriften dieses Art. etwas anderes bestimmt ist. Eine solche andere Bestimmung findet sich für die Rentenansprüche von Hinterbliebenen in Art. 2 § 17 AnVNG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift gelten die § 40 Abs. 2 AVG und Art. 2 § 8 AnVNG auch dann, wenn der Tod des Versicherten - wie hier - in der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956 eingetreten ist. Bei Versicherungsfällen in diesem Zeitraum wird die Erhaltung der Anwartschaft - wie die Bezugnahme auf Art. 2 § 8 AnVNG besagt, der wiederum auf § 26 AVG verweist, - vom neuen Recht nicht mehr verlangt. Durch Art. 2 § 43 Satz 2 bis 4 AnVNG wird jedoch die Anwendung des neuen Rechts eingeschränkt, wenn ein früherer Leistungsantrag rechtskräftig oder bindend abgelehnt worden ist. In einem solchen Falle - wie er auch hier vorliegt - ist zwar auf Antrag zu prüfen, ob die Vorschriften des AnVNG günstiger sind. Der Antrag auf Nachprüfung ist jedoch an eine Frist gebunden; er war "nur" bis zum 31. Dezember 1958 zulässig (Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG). Diese Frist hat der Kläger nicht eingehalten.

Weil der Antrag zu spät gestellt wurde, ist eine Nachprüfung des seinerzeit rechtskräftig abgelehnten Leistungsantrags ausgeschlossen. Diese gesetzliche Rechtsfolge wird auch nicht berührt von der Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. Juni 1961 (BSG 14, 246), die zu einem anderen Sachverhalt ergangen ist. Hier hat der Große Senat entschieden, daß die ähnlich lautende Fristvorschrift des § 58 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) aF nicht gelte, wenn die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Versorgungsanspruchs zweifelsfrei gegeben seien. Diese Entscheidung geht davon aus, daß § 58 Abs. 1 BVG aF überwiegend dem Zweck diene, die Verwaltung vor verspätet angemeldeten Ansprüchen zu schützen, bei denen der Sachverhalt dann nur noch unter großen Schwierigkeiten aufzuklären wäre. Bei der Fristvorschrift des Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG dagegen verhält es sich anders. Schon der geregelte Gegenstand ist hier ein anderer: § 58 BVG aF betrifft erstmals angemeldete Ansprüche; Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG dagegen bezieht sich auf bereits früher (rechtzeitig) angemeldete, aber schon rechtskräftig oder bindend abgelehnte Ansprüche. Ein wesentlicher Unterschied zu § 58 BVG aF liegt aber vor allem in der anderen Zweckbestimmung des Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG. Schon die Einordnung dieser Vorschrift in die Übergangsvorschriften des Art. 2 läßt erkennen, daß bei ihr der Ordnungscharakter im Vordergrund steht. Der Gesetzgeber hat in die Übergangsregelung des Art. 2 § 43 auch solche Fälle einbezogen, in denen bereits vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung der Versicherungsfall eingetreten, ein Leistungsantrag aber durch rechtskräftig oder bindend gewordene Entscheidung abgelehnt worden war. Die Nachprüfung solcher abgeschlossener Fälle ließ er jedoch nur dann zu, wenn der Nachprüfungsantrag bis zum 31. Dezember 1958 gestellt wurde. Diese in Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG festgelegte Frist ist somit schon nach ihrem Sinn und Zweck eine Ausschlußfrist, die weder für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch für Billigkeitserwägungen Raum läßt. Wegen der hiernach unterschiedlichen Funktionen der beiden Vorschriften lassen sich die Grundgedanken der Entscheidung des Großen Senats zu § 58 BVG aF nicht auf die Auslegung der Fristvorschrift in Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG entsprechend anwenden. In diesem Sinne haben auch schon der 4. und 12. Senat des BSG zu der entsprechenden Vorschrift in der Arbeiterrentenversicherung entschieden (SozR zu Art. 2 § 44 ArVNG Aa 4 Nr. 9 und Urt. des 12. Senats vom 20. Juli 1962 - 12/3 RJ 112/61) sowie der 11. Senat in seinem Urteil vom 18. Februar 1964 - 11/1 RA 220/62. Der Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Für die dem Art. 2 § 43 AnVNG vom Berufungsgericht gegebene Auslegung ist somit kein Raum, weil nach dem 31. Dezember 1958 gestellte Nachprüfungsanträge schlechthin nicht mehr berücksichtigt werden können.

Nicht zu Unrecht weist der Kläger allerdings darauf hin, sein Rentenanspruch stünde außer Zweifel, wenn er den früheren, damals aussichtslosen Rechtsstreit weitergeführt und notfalls Revision eingelegt hätte (Art. 2 § 43 Satz 1 Halbs. 2 AnVNG) oder wenn er den Antrag auf Waisenrente nicht schon früher, sondern erstmalig nach dem 31. Dezember 1956 gestellt hätte (Art. 2 § 17 AnVNG). Der Kläger übersieht jedoch, daß sich der Gesetzgeber bei der in Art. 2 § 43 AnVNG getroffenen Regelung durchaus im Rahmen des Üblichen hielt. Es kann nicht als unsachgemäß bezeichnet werden, wenn der Gesetzgeber in abgeschlossenen, aber von ihm unter Einschränkung der Rechtskraft- und Bindungswirkung früherer Entscheidungen für erneut nachprüfbar erklärten Versicherungsfällen die Anwendung des neuen Rechts davon abhängig machte, daß der erforderliche Nachprüfungsantrag innerhalb einer angemessenen Frist zu stellen war. Der Zeitraum von nahezu zwei Jahren ist als angemessen anzusehen. In der Bestimmung der zweijährigen Ausschlußfrist liegt deshalb kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. Urt. des 4. Senats vom 14. Juni 1962 - SozR Aa 4 Nr. 9 zu Art. 2 § 44 ArVNG).

Da innerhalb der Ausschlußfrist ein Antrag auf Nachprüfung nicht gestellt worden ist, hat der Kläger das Recht auf Nachprüfung verloren und kann sich auf die Neuregelung nicht berufen. Hierbei ist es unerheblich, ob die Frist des Art. 2 § 43 letzter Satz AnVNG aus Unkenntnis der Neuregelungsvorschriften oder aus sonstigen Gründen ohne Verschulden versäumt wurde. Demnach konnte sich die Beklagte zu Recht auf den Fristablauf berufen. Ihre Revision war daher begründet. Das angefochtene Urteil mußte aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang zurückgewiesen werden, während gleichzeitig die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen war (§ 170 Abs. 1 u. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375195

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