Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Arbeiterrentenversicherung. Verweisungstätigkeit bei gesundheitlichen Einschränkungen
Orientierungssatz
Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, darf im Rahmen der Prüfung seiner Erwerbsunfähigkeit nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Praktisch verschlossen ist ihm der Arbeitsmarkt, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 : 100 (vgl BSG 1969-12-11 GS 2/68 = SozR Nr 20 zu RVO § 1247).
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 21.04.1967) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. April 1967 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1908 geborene Kläger beantragte am 1. Oktober 1962 die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).
Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid vom 5. September 1963 nur die Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Hiergegen richtet sich die Klage, der Kläger begehrt Rente wegen EU. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 9. März 1966 abgewiesen.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. April 1967 zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, daß dem Kläger keine Rente wegen EU zusteht, da er nicht erwerbsunfähig sei. Er sei noch in der Lage, sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen zu verrichten, soweit ihm dabei Gelegenheit zum Sitzen gegeben sei. Auch müsse er die Möglichkeit haben, von seinem Arbeitsplatz aus schnell eine Toilette zu erreichen; dieser krankhafte Zustand könne allerdings durch Einnahme von Medikamenten unter Kontrolle gehalten werden. Es gebe auch dem Leistungsvermögen des Klägers entsprechende Arbeitsplätze. Ob und in welchem Umfang in der Nähe dieser Arbeitsplätze Toiletten erreichbar sind, brauche nicht aufgeklärt zu werden, weil es gerichtsbekannt sei, daß bei der überwiegenden Zahl der Arbeitsplätze Toiletten in schnell erreichbarer Entfernung vorhanden sind. Es sei dagegen nicht erforderlich, daß der Arbeitsplatz unmittelbar neben einer Toilette gelegen sei; Durchfälle seien therapeutisch gut beeinflußbar. Es sei die Gewähr gegeben, daß der Kläger bei der Einnahme entsprechender Medikamente eine Toilette rechtzeitig erreichen könne, auch wenn sie nicht unmittelbar neben seinem Arbeitsplatz gelegen sei.
Da solche Arbeitsplätze ihrer Art nach vorhanden seien, brauche nicht geprüft zu werden, ob es sie in nennenswerter Zahl gebe.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er ist der Auffassung, daß ein Versicherter bei Anwendung des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf Teilzeittätigkeiten nur verwiesen werden könne, wenn es für sie Arbeitsplätze in zumindest nennenswerter Zahl gebe.
Sinngemäß stellt er den Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Entscheidend ist, ob der Versicherte auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für die Tätigkeiten, die der Versicherte noch verrichten kann, Arbeitsplätze gibt. Diese Rechtsfrage hat der Große Senat durch Beschluß vom 11. Dezember 1969 in Sachen B ./. LVA R - GS 2/68 - dahin entschieden, daß es bei Anwendung des § 1247 Abs. 2 RVO erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind, und daß der Versicherte auf solche Tätigkeiten nur verwiesen werden kann, wenn ihm das Arbeitsfeld praktisch nicht verschlossen ist, d.h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger ist als 75 zu 100. Des weiteren hat der Große Senat in Abschn. C V 1 des o.a. Beschlusses in Verbindung mit Abschn. C V 2 des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M ./. LVA B - GS 4/69 - Anhaltspunkte dafür gegeben, wann in diesem Sinne das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. Um diese Entscheidung treffen zu können, bedarf es weiterer Tatsachenfeststellungen, die der erkennende Senat als Revisionsgericht nicht treffen kann. Das LSG hat zwar festgestellt, daß der Kläger noch sechs Stunden täglich leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen mit Sitzgelegenheit verrichten kann, daß er aber zusätzlich insofern in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist, als er nur Arbeitsplätze ausfüllen kann, in deren Nähe sich eine Toilette befindet. Es steht damit praktisch fest, daß der Versicherte im Sinne des oben angeführten Beschlusses noch halb- bis unter vollschichtig leichte Arbeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten kann. Der Kläger kann also einerseits nicht auf das gesamte allgemeine Arbeitsfeld, d.h. auf alle leichten bis mittelschweren Arbeiten im Sitzen, im Stehen und im Umhergehen in geschlossenen Räumen und im Freien verwiesen werden, sondern nur auf einen eingeschränkten Teil dieses Arbeitsfeldes. Zum anderen unterliegt er einer zusätzlichen Einsatzbeschränkung, weil er wegen seines Leidens gezwungen ist, häufig eine Toilette aufzusuchen. Es kommt nun darauf an, ob es sich bei diesen Einschränkungen um starke Einschränkungen im Sinne von Abschn. C V 1 des o.a. Beschlusses in Verbindung mit Abschn. C V 2b aa) und bb) des Beschlusses des Großen Senats in Sachen M ./. LVA B - GS 4/69 - handelt. Würde es sich um starke Einschränkungen in diesem Sinne handeln, so könnte der Kläger nicht auf dieses Arbeitsfeld verwiesen werden. Etwas anderes könnte in diesem Falle nur gelten, wenn das Arbeitsamt oder die Beklagte dem Versicherten einen entsprechenden Arbeitsplatz nachweist, gleichgültig ob er von diesem Angebot Gebrauch macht, oder wenn er einen solchen Arbeitsplatz anderweitig nicht nur vergönnungsweise erhalten hat (vgl. dazu Abschn. C V 1a aa) des Beschlusses M ./. LVA B vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 -). Würde es sich dagegen nicht um starke Einschränkungen in diesem Sinne handeln, könnte der Kläger auf dieses Arbeitsfeld verwiesen werden.
An sich würde man annehmen können, daß der Kläger dadurch, daß er nur einen Arbeitsplatz innehaben kann, in dessen Nähe sich eine Toilette befindet, in seiner Einsatzfähigkeit stark eingeschränkt ist, so daß er als erwerbsunfähig angesehen werden müßte, weil davon ausgegangen werden muß daß ein Arbeitgeber einen solchen Arbeitnehmer in der Regel nicht einzustellen pflegt. Es muß bedacht werden, daß nicht nur die mit diesem Umstand als solchem verbundene Erschwernis einer Einstellung entgegensteht, sondern vor allem auch, daß dadurch die Arbeit häufiger als normal durch Aufsuchen der Toilette unterbrochen werden muß.
Das LSG hat allerdings weiter festgestellt, daß diese Einsatzbeschränkung dadurch aufgehoben wird, daß das Leiden des Klägers durch Einnahme von Medikamenten kompensiert werden kann. Nehme der Kläger diese Medikamente ein, so genüge es, wenn sich an der Betriebsstätte überhaupt eine Toilette befindet. Abgesehen davon, daß dem Kläger die laufende Einnahme solcher Medikamente nur zugemutet werden kann, wenn sie keine schädlichen Nebenwirkungen haben, könnte aus den Ausführungen des LSG entnommen werden, daß er trotz Einnahme dieser Medikamente doch noch häufiger als normal eine Toilette aufsuchen und dadurch seine Arbeit häufiger als normalerweise erforderlich unterbrechen muß. Es könnte sich hier also aus dem einen oder anderen Grunde um einen Fall handeln, in welchem angenommen werden müßte, daß ein Arbeitgeber einen solchen Arbeitnehmer in der Regel nicht einzustellen pflegt. Insofern müssen allerdings noch nähere Feststellungen getroffen werden.
Die andere Frage ist, ob für den Kläger das Arbeitsfeld nicht im Sinne von Abschn. C V 2b bb) des letztgenannten Beschlusses schon ohnedies dadurch wesentlich eingeschränkt ist, daß er nicht auf das uneingeschränkte allgemeine Arbeitsfeld, d.h. auf alle leichten bis mittelschweren Tätigkeiten im Sitzen, im Stehen und im Umhergehen in geschlossenen Räumen und im Freien, sondern nur auf leichte Tätigkeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen verwiesen werden kann. Diese Entscheidung kann nicht ohne Kenntnis der zahlenmäßigen Größe dieser Gruppe von Teilzeitarbeitsplätzen getroffen werden, da nur bei Kenntnis dieser Zahl entschieden werden kann, ob es sich gegenüber dem uneingeschränkten allgemeinen Arbeitsmarkt um eine starke Einschränkung handelt. Da der Kläger noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten kann, kann er auf das Arbeitsfeld der gesamten Bundesrepublik Deutschland verwiesen werden, so daß hier praktisch allein eine Auskunft bei der Bundesanstalt für Arbeit in N in Betracht kommt. Da die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg zur Zeit noch nicht in der Lage ist, die ungefähre Größe von Teilgebieten des allgemeinen Arbeitsmarktes anzugeben, könnte der Kläger nach den Grundsätzen des oben angeführten Beschlusses nicht auf dieses Teilzeitarbeitsfeld verwiesen werden. Denn auch in einem solchen Falle muß nach dem o.a. Beschluß angenommen werden, daß ihm das Arbeitsfeld praktisch verschlossen ist. Wenn die für die Beobachtung des Arbeitsmarktes und die Arbeitsvermittlung zuständige Arbeitsverwaltung nicht in der Lage ist, die ungefähre zahlenmäßige Größe eines Teilzeitarbeitsmarktes angeben zu können, muß davon ausgegangen werden, daß ihr auch nicht bekannt ist, wo und in welchem Umfang sich solche Stellen befinden. Daher muß man annehmen, daß es sich insoweit um einen nicht funktionierenden Teilzeitarbeitsmarkt handelt, der dem Versicherten praktisch verschlossen ist. Zwar ist auch der Kläger verpflichtet, von sich aus einen solchen Arbeitsplatz zu suchen. Doch kann nicht angenommen werden, daß er eine bessere Übersicht über diesen Arbeitsmarkt hat als die Bundesanstalt für Arbeit in N selbst.
Da jedoch der Senat als Revisionsgericht diese Tatsachen nicht selbst feststellen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen