Leitsatz (amtlich)

1. Der während des letzten Krieges in Frankreich geleistete Dienst in einer der Organisation Todt unterstellten Einsatzgruppe des NSKK ist "kriegsähnlicher Dienst" iS des RVO § 1263a Abs 1 Nr 2 Fassung:1945-03-17.

2. Der Versicherungsfall hat sich auch dann noch während der Dienstleistung iS des RVO § 1263a Abs 1 Nr 2 Fassung:1945-03-17 ereignet, wenn der Versicherte in dem maßgebenden Zeitpunkt die ihm für eine Dienstreise zugemessene Zeit kurzfristig überschritten hat, ohne die Absicht zu haben, sich endgültig seiner Verpflichtung zur Dienstleistung zu entziehen.

3. Der zeitliche Zusammenhang zwischen Dienstleistung und Eintritt des Versicherungsfalles des Todes ist in einem solchen Fall auch dann noch gewahrt, wenn der Versicherte Selbstmord begangen hat.

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1945-03-17; SVVereinfV 1 Art. 26

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Dezember 1956 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 16. September 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die am 3. September 1940 geborene Klägerin ist die uneheliche Tochter des am 23. März 1943 verstorbenen Schneidermeisters Franz R... welcher durch Erklärung vom 7. Juli 1941 gegenüber dem Standesamt Karlsruhe die Vaterschaft anerkannt hat. Für R... waren in der Zeit vom 17. Juli 1922 bis zum 14. Juli 1924 einundfünfzig und vom 8. September 1927 bis zum 8. September 1929 zweiundvierzig Wochenbeiträge, insgesamt also dreiundneunzig Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden, davon zweiundvierzig nach dem 31. Dezember 1923. Von November 1939 bis zu seinem Tode war der Versicherte zu einer der Organisation Todt unterstellten Einsatzgruppe des NSKK in Frankreich eingezogen. Am 19. März 1943 wurde er von Bordeaux nach Paris versetzt. Es schwebte zu dieser Zeit gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Unterschlagung und mangelnder Dienstaufsicht. Nach seiner Ankunft in Paris meldete er sich jedoch nicht bei seiner neuen Einheit, sondern hielt sich privat bei Bekannten auf. Am 23. März 1943 beging er Selbstmord. Den Antrag der Klägerin vom 20. Juni 1954 auf Gewährung von Waisenrente aus der Invalidenversicherung des Raab lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 9. Dezember 1954 ab, weil die Wartezeit in der Person des Versicherten zur Zeit seines Todes nicht erfüllt sei.

Auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hob das Sozialgericht in Karlsruhe durch Urteil vom 16. September 1955 den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin ab 1. Februar 1954 Waisenrente zu zahlen. Die Wartezeit für den Versicherten gelte nach § 1263 a Nr. 2 a.F. der Reichsversicherungsordnung (RVO) als erfüllt. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung ein.

Das Landessozialgericht änderte durch Urteil vom 6. Dezember 1956 das Urteil des Sozialgerichts ab. Es wies die Klage ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei und auch nach § 1263 a Nr. 2 RVO a.F. nicht als erfüllt gelte.

Das Urteil wurde am 28. Januar 1957 zugestellt. Das Jugendamt der Stadt Karlsruhe (Amtsvormundschaft) legte als gesetzlicher Vertreter der Klägerin mit Schriftsatz vom 1. Februar 1957 am 6. Februar 1957 Revision ein und begründete diese gleichzeitig. Der Versicherte sei bis zum Tode Angehöriger eines militärähnlichen Verbandes gewesen, so daß die Voraussetzungen des § 1263a Nr. 2 RVO a.F. erfüllt seien.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Dezember 1956 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts in Karlsruhe vom 16. September 1955 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Jugendamt (Amtsvormundschaft) konnte als gesetzlicher Vertreter der Klägerin die Revision selbst wirksam einlegen und begründen (BSG. 3, 121). Die Revision ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt bleiben.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach dem vor dem 1. Januar 1957 geltenden Recht; der nach Art. 2 § 44 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) hier anwendbaren § 17 a.a.O. kann nicht zur Anwendung neuen Rechts führen, weil der Versicherungsfall bereits vor dem 1. April 1945 eingetreten ist.

Die Voraussetzungen des § 1258 RVO a.F. sind erfüllt. Die Klägerin ist, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, ein uneheliches Kind des inzwischen verstorbenen Versicherten; sie hat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet.

Nach § 1255 Abs. 2 RVO a.F. werden Hinterbliebenenrenten jedoch nun gewährt, wenn in der Person des Versicherten zur Zeit seines Todes die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten ist. Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob die Wartezeit erfüllt ist, da sie nach § 1263 a Nr. 2 RVO a.F. zumindest als erfüllt gilt. Obwohl die jetzige Fassung dieser Vorschrift erst nach Art. 17 der 1. Verordnung (VO) zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41), spätestens nach § 4 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) gilt, ist sie nach Art. 26 der VO vom 17. März 1945 bzw. § 6 der DurchfVO zum SVAG vom 27. Juni 1949 ( WiGEl . S. 111) doch für den vorliegenden Fall maßgebend, da am 31. März 1945 noch kein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftig gewordener Bescheid ergangen war bzw. keine Leistungen für die Zeit vor dem 1. Juni 1949 begehrt werden.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts als erfüllt anzusehen. R... war im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls versichert; denn die Anwartschaft aus den nach dem 31. Dezember 1923 entrichteten 42 Wochenbeiträgen war nach § 3 des Gesetzes über die Verbesserung der Leistungen in der Reichsversicherung vom 24. Juli 1941 (RGBl. I S. 443) bei Eintritt des Versicherungsfalles erhalten. Auch ist R... zweifelsohne "in Kriegszeiten" gestorben. Darüberhinaus hatte der erkennende Senat keine Bedenken anzunehmen, daß der Dienst in der der Organisation Todt unterstellten Einsatzgruppe des NSKK im besetzten Gebiet kriegsähnlicher Dienst im Sinne dieser Vorschrift ist, da die Organisation Todt und damit auch die ihr unterstellte Gruppe des NSKK im besetzten Gebiet für Zwecke der Kriegsführung eingesetzt war. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Versicherte auch während der Ableistung dieses kriegsähnlichen Dienstes gestorben. Maßgebend ist allein der zeitliche Zusammenhang zwischen Tod und Dienstleistung, ein ursächlicher Zusammenhang wird nicht verlangt. Nach der maßgebenden Wortfassung könnte allerdings, da der Versicherte sich bei seiner Ankunft in Paris nicht sofort bei seiner neuen Einheit gemeldet hat, zweifelhaft sein, ob der zeitliche Zusammenhang in diesem Sinne besteht. In dieser Richtung liegende Zweifel hätten nach der früheren, auf Grund des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34) geltenden Fassung nicht auftreten können, da diese darauf abstellte, ob der Versicherte "als Soldat gestorben" war. Danach wäre es nur darauf angekommen, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes noch Angehöriger der Organisation war; diese Voraussetzung wäre unzweifelhaft erfüllt gewesen, weil der Versicherte trotz seines Verhaltens noch Angehöriger der Einsatzgruppe war, da die Zugehörigkeit erst durch Entlassung geendet haben könnte. Dennoch glaubte der Senat auch nach der jetzigen Wortfassung zu demselben Ergebnis kommen zu müssen, zumal durch diese Gesetzesänderung eine Verbesserung und nicht eine Verschlechterung der Rechtsstellung der Versicherten bezweckt war und sich die hier bedeutsame Änderung nur wegen der sonstigen Änderungen aus grammatikalischen Gründen ergab. Dies spricht schon für eine weite Auslegung. Abgesehen davon kann aber auch nicht angenommen werden, daß die jetzt maßgebende Wortfassung bedeutet, daß nur der bei einer Dienstleistung selbst eingetretene Versicherungsfall geschützt sein soll, sondern daß auch Pausen, dienstfreie Zeiten und Erholungsurlaub noch als dem Dienst zuzurechnende Zeiten anzusehen sind. Dasselbe aber muß nach Ansicht des erkennenden Senats auch für Zeiten gelten, in welchen der Versicherte eine solche dienstfreie Zeit kurzfristig überschritten hat, wenn nicht die Absicht bestand, sich endgültig der Verpflichtung zur Dienstleistung zu entziehen. Nichts anderes kann aber auch gelten, wenn ein Versicherter, wie hier, die für eine dienstliche Reise zugemessene Zeitspanne um kurze Zeit mehr als angemessen für private Zwecke überschreitet. Da der Versicherte am 19. März 1943 von Bordeaux nach Paris versetzt wurde, hätte er sich vor dem 21. März 1943 noch nicht bei seiner neuen Einheit zu melden brauchen, da diese Zeit für die Reise nach Paris und den Weg zu seiner neuen Einheit erforderlich war. Die folgenden zwei Tage aber können auch nur als eine kurzfristige Überschreitung des ihm zuzubilligenden zeitlichen Spielraums in diesem Sinne angesehen werden. Es ist auch nicht festgestellt, daß er während dieser zwei Tage die Absicht gehabt hätte, überhaupt nicht mehr zu seinem Verband zurückzukehren. Richtig ist, daß er vor seinem Tode den Entschluß gefaßt haben muß, Selbstmord zu begehen und in diesem Entschluß die Absicht, sich endgültig seiner Verpflichtung zur Dienstleistung zu entziehen, begrifflich mit eingeschlossen ist. Dies aber ist ebenso der Fall bei dem während einer Dienstleistung erfolgten Selbstmord, ohne daß angenommen werden könnte, daß der Tod dann nicht während der Dienstleistung im Sinne dieser Vorschrift eingetreten wäre. Beide Fälle aber können nicht verschieden behandelt werden. Wenn diese Zeit der unberechtigten Ausdehnung der für die Dienstreise angemessenen Zeitspanne noch als Dienstleistung anerkannt wird, so maß notwendigerweise auch der während dieser Zeit erfolgte Selbstmord als während des Dienstes eingetreten angesehen werden.

Da auch die Anwartschaft, wie bereits nachgewiesen, erfüllt ist, lagen alle versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in der Person des R... zur Zeit seines Todes vor.

Der Umstand, daß der Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt worden ist, kann den Anspruch der Klägerin nicht berühren, da nach § 1261 RVO a.F. eine vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalles nur dann den Rentenanspruch ausschließt, wenn der Anspruchsberechtigte selbst ihn vorsätzlich herbeigeführt hat. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben.

Der Anspruch der Klägerin ist nach alledem begründet, so daß ihre Revision Erfolg haben mußte.

Das angefochtene Urteil mußte somit aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2340637

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