Leitsatz (amtlich)
Zur Abgrenzung des Versicherungsschutzes nach RVO § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a und Abs 2.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 537 Nr. 5a Fassung: 1942-03-09, § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Januar 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 6. März 1964 insoweit aufgehoben, als die Beklagte zur Entschädigungsleistung und Kostenerstattung verurteilt worden ist.
Das beigeladene Land Baden-Württemberg wird dem Grunde nach verurteilt, den Kläger für die Folgen seines Unfalls vom 7. Januar 1961 zu entschädigen.
Das beigeladene Land hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Am 7. Januar 1961 ereignete sich in der Küche der Wohnung des Klägers eine Gasexplosion. Der Gasherd, der aus einer Propangasflasche gespeist wurde, sollte abmontiert und zur Ausgestaltung einer Wohltätigkeitsveranstaltung in die Ortsturnhalle gebracht werden. Die hierzu notwendigen Arbeiten waren der Installationsfirma H B in S übertragen worden. Mit der Durchführung dieser Arbeit waren die Installateurgesellen B (B.) und R (R.) beauftragt. R. wollte das Ventil der Gasflasche schließen und die Gasleitung zum Herd, einen Gummischlauch, vom Ventil lösen. Da sich das Ventil nicht ohne weiteres zudrehen ließ, wandte er Gewalt an. Der Kläger reichte ihm ein Handtuch zu, damit R. die Verschlußvorrichtung fester in den Griff bekäme. Weil das nicht half, benutzte R. zum Anpacken eine Zange. Dabei drehte sich unbeabsichtigt das ganze Ventil aus dem Flaschenverschluß heraus. Das ausströmende Gas drohte, sich an dem Feuer, das im Kohleherd brannte, zu entzünden. Wegen dieser Gefahr griff der Kläger sofort zu, um mitzuhelfen, die Gasflasche aus dem Gefahrenbereich wegzubringen. Die Explosion konnte jedoch nicht verhindert werden. Sie traf den Kläger und sein sechsjähriges Kind, das sich mit ihm in der Küche aufhielt, sowie die beiden Installateurgesellen. Der Kläger erlitt schwere Verbrennungen am ganzen Körper.
Die Beklagte verhandelte mit dem Land Baden-Württemberg über die unfallversicherungsrechtliche Zuständigkeit zur Feststellung und Gewährung der Entschädigungsleistung an den Kläger ergebnislos. Sie teilte diesem durch formloses Schreiben vom 17. August 1961 mit, der Unfall könne von ihr nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden; es sei ihm freigestellt, sich an das zuständige Sozialgericht (SG) zu wenden.
Der Kläger hat gegen die Ablehnung der Entschädigungsleistung durch die Beklagte Klage erhoben.
Das SG Freiburg hat das Land Baden-Württemberg, vertreten durch die Ausführungsbehörde für Unfallversicherung für die Regierungsbezirke Nord- und Südbaden, beigeladen. Dieses ist der Ansicht, die Hilfeleistung des Klägers anläßlich der drohenden Explosionsgefahr sei eine dem Installationsunternehmen zuzurechnende Tätigkeit gewesen (§ 537 Nr. 10 der Reichsversicherungsordnung idF bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 - RVO aF -). Das SG hat nach Beweiserhebung über den Unfallhergang die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid über die ihm zustehenden Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erteilen. Es ist der Ansicht, der Kläger sei tätig geworden, bevor eine gemeine Gefahr entstanden sei; denn er habe das Handtuch zum Lösen des Abstellrades an der Gasflasche zugereicht und beim Trennen des Schlauches von der Gasflasche mitgeholfen. Das seien Tätigkeiten, die dem Installationsunternehmen gedient hätten.
Die Beklagte hat Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat diese durch Urteil vom 11. Januar 1967 zurückgewiesen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Tätigkeit des Klägers, bei der er die Verbrennungen erlitten habe, erfülle den Tatbestand des § 537 Nr. 10 RVO aF. Es habe sich um eine ernstliche Arbeitsleistung gehandelt, wie sie üblicherweise auch von Arbeitern verrichtet werde, die in dem Installationsunternehmen beschäftigt seien. Sie habe auch dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprochen und mit dem Unternehmen im inneren Zusammenhang gestanden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, daß der Kläger beim Abmontieren des Gasherdes zunächst nicht mitgeholfen habe. Er sei erst tätig geworden, als das Schließen des Ventils an der Gasflasche dem Installateur R. Schwierigkeiten gemacht habe. So habe er auf dessen Wunsch ein Handtuch zugereicht, weil man geglaubt habe, das Reglerrädchen lasse sich damit fester fassen. Erst als das Gas ausgeströmt und wegen des im Küchenherd brennenden Feuers Explosionsgefahr entstanden sei, habe der Kläger eingegriffen. Er habe zusammen mit B. die Gasflasche noch rechtzeitig aus der Küche bringen wollen. Ohne die Mithilfe des Klägers hätte dieser die Halterung bzw. den Verbindungsschlauch zu dem Gasherd nicht lösen können. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger schon mit dem Zureichen des Handtuches für das Installationsunternehmen tätig geworden sei. Der Zusammenhang mit dem Unternehmen i. S. des § 537 Nr. 10 RVO aF sei gegeben gewesen, da der Kläger zur Abwendung einer drohenden Explosionsgefahr eingegriffen habe, die bei der Ausübung einer Betriebsarbeit eingetreten sei. Der Kläger sei somit einer typischen Betriebsgefahr des Installationsunternehmens erlegen. Der Annahme des Versicherungsschutzes nach § 537 Nr. 10 RVO aF stehe nicht entgegen, daß durch die drohende Explosion auch ein Kind des Klägers in Gefahr geraten sei und der Kläger bei dem Versuch, diese Gefahr abzuwenden, auch eigene Interessen verfolgt habe. Wohl seien die Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 a RVO aF gleichzeitig gegeben gewesen. Die Hilfeleistung habe der Abwendung einer gemeinen Gefahr gegolten; außerdem habe der Kläger seinem Sohn gegenüber eine sittliche Pflicht erfüllt, ohne zu dessen Rettung besonders rechtlich verpflichtet gewesen zu sein (BSG 5, 266). Gleichwohl sei das beigeladene Land Baden-Württemberg nicht leistungspflichtig, da § 537 Nr. 5 a RVO aF nur hilfsweise, d. h. nur in Betracht komme, wenn die Hilfeleistung nicht bereits einem versicherten Betrieb zuzurechnen sei. Die Subsidiarität des § 537 Nr. 5 a RVO aF gegenüber Nr. 10 dieser Vorschrift leite sich in Fällen der vorliegenden Art daraus her, daß der Versicherte mit seiner Hilfeleistung zur Abwehr einer gemeinen Gefahr zugleich für den bedienten Betrieb wirtschaftlich bedeutsam tätig werde und Körperschädigungen wegen der Verrichtung betriebsdienlicher Arbeiten erleide. Die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils seien mit Rücksicht auf die Schwere des Körperschadens des Klägers gegeben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 17. Februar 1967 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. Februar 1967 Revision eingelegt und sie am 21. März 1967 im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß für den Kläger der Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 10 RVO aF gegeben sei. Der Kläger habe mit der zum Unfall führenden Tätigkeit einer akuten Explosionsgefahr begegnen wollen. Bei lebensnaher Betrachtung des Geschehensablaufs könne nur angenommen werden, daß der Kläger bei einem drohenden Unglücksfall habe Hilfe leisten wollen. Deshalb komme für ihn der Versicherungsschutz nur nach § 537 Nr. 5 a RVO aF in Betracht.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger und das beigeladene Land beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Der Ansicht des LSG, die Beklagte sei für die Folgen des Unfalls, der den Kläger am 7. Januar 1961 betroffen hat, entschädigungspflichtig, ist der erkennende Senat nicht beigetreten. Er vertritt die Auffassung, daß der Versicherungsschutz des Klägers nicht aus § 537 Nr. 10 RVO aF in Verbindung mit Nr. 1 dieser Vorschrift, sondern aus Nr. 5 a des § 537 RVO aF herzuleiten ist, so daß statt der Beklagten das beigeladene Land nach § 627 Abs. 1 RVO aF Träger der Versicherung für den Unfall des Klägers ist.
Der zu dem Unfall führende Geschehensablauf ist nach den vom LSG getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) durch Umstände gekennzeichnet, welche diese Auffassung rechtfertigen. Der Kläger sprang zur Hilfeleistung zwei Installateurgesellen in dem Augenblick bei, als bei deren Arbeit an dem Propangasherd in der Küche des Klägers infolge unsachgemäßer Behandlung des Ventilverschlusses an der Gasflasche eine Explosion durch Entzündung des ausströmenden Gases an dem Feuer eines Kohleherdes unmittelbar drohte. Der Kläger wollte helfen, den Verbindungsschlauch von der Gasflasche zu lösen und diese raschestmöglich aus dem Gefahrenbereich zu schaffen. Bei dieser Tätigkeit, durch welche die Explosion nicht abgewendet werden konnte, stand der Kläger unter Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 5 a RVO aF. Dies wird von keinem Beteiligten in Zweifel gezogen und von der Revision zutreffend mit der Darstellung unterstrichen, daß bei lebensnaher Betrachtungsweise des Unfallgeschehens die Mithilfe des Klägers bei dem gemeinsamen Versuch, die Explosion zu verhindern, als ein durch die plötzlich entstandene Gefahr bedingtes spontanes Handeln zu werten sei. Bei der Größe der vor allem Leben und Gesundheit der in der Küche anwesenden Personen bedrohenden Gefahr liegt die Annahme nahe, daß der Kläger bei dem Antrieb zu der Hilfeleistung von keiner anderen Vorstellung beherrscht war, als diese Gefahr noch rechtzeitig abzuwenden, zumal da von ihr auch sein Kind betroffen war. Die Frage, ob hinsichtlich des Kindes der Tatbestand der Lebensrettung nach § 537 Nr. 5 a RVO aF deshalb in Zweifel gezogen werden könnte, weil dem Kläger als Vater eine besondere rechtliche Verpflichtung obgelegen hätte, kann offenbleiben, da die Tat auf jeden Fall als Hilfeleistung bei einem Unglücksfall im Sinne der angeführten Vorschrift zu werten ist und insoweit der Kläger, wie von keiner Seite in Zweifel gezogen wird, nicht auf Grund einer rechtlichen Verpflichtung handelte. Hiernach stellt die unfallbringende Tätigkeit des Klägers eine Hilfeleistung dar, die ihrer Art nach für den in § 537 Nr. 5 a RVO aF unter Versicherungsschutz stehenden Tatbestand typisch ist.
In dem Augenblick, als sich der Kläger an der Beseitigung der akuten Explosionsgefahr beteiligte, stand allerdings ein Interesse des Installationsunternehmens mit auf dem Spiele. Nach den Feststellungen des LSG ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Kläger den beiden Installateurgesellen helfen wollte, weil sie es nicht allein fertiggebracht hätten, die plötzlich entstandene Gefahrensituation zu meistern. Die Beantwortung der Frage, ob Versicherungsschutz nach § 5 a oder Nr. 10 des § 537 RVO aF gegeben ist, setzt eine Prüfung voraus, welche Umstände rechtlich ins Gewicht fallen. Die Ausführungen des angefochtenen Urteils lassen nicht erkennen, daß das LSG die Rechtslage unter diesem Gesichtspunkt geprüft hat. Nach Auffassung des erkennenden Senats sind die für den Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 10 RVO aF in Betracht zu ziehenden Umstände gegenüber denjenigen, welche die Anwendung der Nr. 5 a dieser Vorschrift rechtfertigen, von so untergeordneter Bedeutung, daß sie als rechtlich unerheblich außer Betracht zu bleiben haben. Sicherlich war die Hilfeleistung des Klägers geeignet, zusammen mit den Anstrengungen der beiden Installateurgesellen eine Explosionsgefahr zu bannen, welche durch die Betriebsarbeit eines dieser beiden Beschäftigten verursacht worden war. Angesichts der Größe der Gefahr, der sich der Kläger plötzlich als einem elementaren Geschehen gegenübersah, ist indessen nicht anzunehmen, daß für seinen Entschluß, in der geschehenen Weise Hilfe zu leisten, Beziehungen betrieblicher Art eine Rolle spielten. Bei einem Geschehensablauf der vorliegenden Art entspricht es vielmehr der natürlichen Anschauung, daß der Hilfeleistende nur in der Vorstellung tätig wird, einer allgemeinen Pflicht zu genügen (§ 230 c des Strafgesetzbuches). Es ist daher anzunehmen, daß der Kläger aus diesem Grunde und nicht, weil er dem Installationsunternehmen dienen wollte, sich der gefährlichen Aufgabe, beim Wegbringen der Gasflasche zu helfen, gestellt hat. Mit dieser Betrachtungsweise folgt der erkennende Senat Erwägungen, die er in ähnlich gelagerten Fällen bereits zur Geltung gebracht hat (vgl. Urteil vom 26.9.1961 in SozR Nr. 23 zu § 537 RVO aF; Urteil vom 29.5.1964 in BSG 21, 101; Urteil vom 15.12.1966 - 2 RU 66/65 -).
Das hiernach zur Entschädigungsleistung an den Kläger verpflichtete beigeladene Land darf nach § 75 Abs. 5 SGG in diesem Verfahren verurteilt werden, obwohl es nicht Beklagte ist. Der Kläger hat zwar in erster Linie die Verurteilung der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) beantragt; er hat jedoch, wie sein Vorbringen in der Revisionsinstanz eindeutig erkennen läßt, die Verurteilung des beigeladenen Versicherungsträgers nicht ausdrücklich abgelehnt. Deshalb steht dessen Verurteilung auch nicht § 123 SGG entgegen, nach dem das Gericht nur über die erhobenen Ansprüche zu entscheiden hat.
Entsprechend der vorstehend dargelegten Rechtslage waren die Urteile der Vorinstanzen insoweit aufzuheben, als die beklagte BG zur Entschädigungsleistung und Kostenerstattung verurteilt worden ist, und statt der Beklagten das beigeladene Land zu verurteilen. Die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils hat das LSG nach § 130 SGG zu Recht bejaht. Es ist unzweifelhaft, daß ein Entschädigungsanspruch des Klägers in einer Mindesthöhe besteht (SozR Nr. 3 und 4 zu § 130 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen