Leitsatz (amtlich)
Zur Berücksichtigung einer nach Unanfechtbarkeit eines Bescheides entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung bei einer Neuprüfung aufgrund des RVO § 1300.
Orientierungssatz
Zum Begriff "ständige Rechtsprechung".
Normenkette
RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Urteile des Hessischen Landessozialgericht vom 16. November 1967 und des Sozialgerichts Gießen vom 4. Dezember 1959 sowie die Bescheide der Beklagten vom 21. Juli 1958 und 18. Juli 1966 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger über den Anspruch auf Versichertenrente einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts zu erteilen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der Kläger ist seit 1940 rechtsseitig gelähmt, dies ist die Folge eines Arbeitsunfalls.
Die Bewilligung einer Rente wegen Invalidität hatte die Beklagte dem Kläger erstmals im Jahre 1948 und das zweite Mal im Jahre 1954 abgelehnt, weil die Wartezeit dafür nicht erfüllt sei. Der Kläger hat nämlich nur 33 Beitragsmonate zurückgelegt. 1957 wiederholte er sein Verlangen nach Überprüfung der ablehnenden Verwaltungsentscheidung. Die Beklagte hielt an ihren früheren Stellungnahmen fest (Bescheid vom 21. Juli 1958; Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 1966). Von dem Erfordernis der Mindestversicherungszeit glaubte sie auch nicht mit Rücksicht auf die Fiktion der Wartezeiterfüllung gemäß § 1263a Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF absehen zu können. Auf diese Vorschrift konnte ihres Erachtens nicht zurückgegriffen werden, weil sie nur Versicherungsfälle nach dem 30. April 1942 erfasse.
Die Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) abgewiesen (Urteil des SG Gießen vom 4. Dezember 1959; Urteil des Hessischen LSG vom 16. November 1967). Das LSG hat dazu ausgeführt: Das Bundessozialgericht (BSG) habe zwar inzwischen entschieden, daß die zeitliche Gültigkeitsbegrenzung des § 1263a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF spätestens seit 1949 (§ 4 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes - SVAG -) weggefallen sei (BSG 7, 146; SozR Nr. 13 zu RVO § 1263a aF), gleichwohl sei das Verlangen des Klägers nach Neufeststellung des Anspruchs nicht gerechtfertigt. Die beanstandeten Verwaltungsakte seien auf eine zur Zeit ihres Erlasses vertretbare Rechtsauffassung gestützt worden; eine Rechtsprechung, die sich erst später gebildet habe, könne sich nicht - auch nicht über § 1300 RVO - auf unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte auswirken.
Der Kläger hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er beantragt, die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des BSG zu erteilen. Er tritt dem Berufungsurteil mit dem Vorbringen entgegen, daß es eine unterschiedliche Behandlung gleichliegender Sachverhalte unterstütze. Die Beklagte bestreite nicht, daß sie heute bei erstmaliger Bescheiderteilung in einem einschlägigen Falle der Rechtsprechung des BSG folgen würde. Damit mache die Beklagte diese Rechtsprechung zu ihrer eigenen Rechtsansicht. Diese Rechtsauffassung sei aber unteilbar und könne nicht für die Vergangenheit eine andere sein. Im übrigen gebe § 40 Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) eine Richtschnur, wie auch im Bereich des Rechts der Rentenversicherungen vorzugehen sei. Danach sei ein neuer Bescheid zu erteilen, wenn das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertrete, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen habe.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet.
Das Verlangen des Klägers nach Neufeststellung der abgelehnten Rentenleistung (§ 1300 RVO) ist gerechtfertigt. Unter den gegebenen Umständen muß der Versicherungsträger von der Unrichtigkeit seiner Bescheide überzeugt sein. Die Überzeugungsbildung, die - im allgemeinen - zu verschiedenen Ergebnissen führen kann, kann durch eine höchstrichterliche "gesicherte" Rechtsprechung auf eine bestimmte Richtung hin festgelegt sein (BSG 19, 38, 43; 26, 89, 91). Dabei mag es für den vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob und mit welcher Tragweite bereits ein einzelnes höchstrichterliches Urteil die Entscheidungsfreiheit des Versicherungsträgers einengt oder ob dazu die "feste" Judikatur wenigstens eines Senats erforderlich ist (so BSG aaO) oder ob die Rechtsprechung eine "ständige" in dem Sinne sein muß, daß zumindest zwei Senate in der Beantwortung derselben - jeweils entscheidungserheblichen - Rechtsfrage übereingestimmt haben (so zu § 40 Abs. 2 VerwVG: BSG 15, 17, 19; 15, 137, 139; im übrigen zu den teilweise abweichend verwendeten Bezeichnungen "feste", "gefestigte", "ständige" Rechtsprechung: Schwalm, Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, II 1964 D 8 ff). Die Rechtsansicht, die für die Beklagte Anlaß war, den Anspruch des Klägers scheitern zu lassen, ist in Urteilen sowohl des 4. als auch des 12. Senats des BSG mißbilligt worden (BSG 7, 146 ff; SozR Nr. 13 zu § 1263a RVO aF). Es ist deshalb von der Existenz einer gesicherten und zudem beruhigten Rechtsprechung auszugehen. Letzteres ist deshalb anzunehmen, weil es um die Auslegung einer Rechtsvorschrift geht, die seit der Rentenversicherungsreform (1957) nicht mehr aktuelles Recht ist und seit langem nur noch selten im Zusammenhang mit älteren, vor 1957 eingetretenen Versicherungsfällen anzuwenden ist.
Die Beklagte meint, von dem Erfordernis der Mindestversicherungszeit nicht abgehen zu dürfen. Die Erleichterung, die § 1263a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF für den Fall bietet, daß der Versicherte - so wie der Kläger - infolge eines Arbeitsunfalls invalide geworden ist, kommt ihres Erachtens nicht in Betracht, weil die zeitliche Herrschaft des § 1263a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF auf Versicherungsfälle nach dem 30. April 1942 begrenzt sei. Im Gegensatz dazu hat das BSG in den angeführten Entscheidungen ausgesprochen, daß die genannte Vorschrift auch auf weiter zurückliegende Versicherungsfälle zu erstrecken ist. Die Einschränkung, die das BSG lediglich hat gelten lassen, nämlich daß nicht schon vor dem 1. April 1945 ein das Versicherungsverhältnis abschließender bindender Bescheid ergangen sein dürfe (Art. 17, 26 der 1. Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945), wird im Falle des Klägers nicht erheblich. Nach Auffassung des BSG ist die Gültigkeitsbeschränkung der Norm über die fiktive Wartezeiterfüllung, die allerdings ursprünglich auf den Stichtag des 1. Mai 1942 abgestellt war, spätestens seit dem 1. Juni 1949, und zwar mit dem Inkrafttreten des § 4 SVAG weggefallen. Allerdings ist mit der Rentenversicherungsreform der Stichtag des 1. Mai 1942 wieder eingeführt worden (Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -). Dazu hat das BSG ausgeführt, daß die erneuerte Stichtagklausel auf einem Irrtum des Gesetzgebers über ihre Weiterexistenz beruhen könne. Ein solcher Irrtum vermöge aber nichts an der vorher Rechtswirklichkeit gewordenen Gesetzeslage zu ändern. Vielmehr sei für Versicherungsfälle aus der Zeit vor dem 1. Januar 1957 der frühere § 1263a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF nach wie vor - uneingeschränkt - geltendes Recht geblieben (vgl. Art. 2 § 5 ArVNG; BSG SozR Nr. 7 zu § 1263a RVO aF). Gegen diese Ausführungen sind, soweit ersichtlich, keine neuen durchgreifenden Gegenargumente vorgetragen worden. Auch die Beklagte hat keine bisher unerwähnt gebliebenen Gesichtspunkte geltend gemacht. Der Senat hat keinen Anlaß, diese Rechtsprechung aufzugeben. Das genügt für die Annahme, daß die Abweisung des Rentenbegehrens spätestens in dem Bescheid von 1954 "offensichtlich" unrechtmäßig war, und zwar in dem Sinne, wie dieses "offensichtlich" in BSG 19, 43 verstanden sein will. Dafür ist nicht, wie es wohl der Beklagten vorschwebt, zu fordern, daß die Rechtsauslegung von jedem ernstlich vertretbaren Zweifel frei ist. Es genügt, daß sie sich in gesicherter Judikatur durchgesetzt hat. Eine weitergehende Forderung nähme dem § 1300 RVO einen großen Teil seiner Wirkung.
Mit Rücksicht auf die einheitliche Rechtsprechung des BSG durfte die Beklagte sich dem Verlangen des Klägers nach Neufeststellung der Leistung nicht entziehen. Sie konnte diesem Verlangen nicht mit der Überlegung begegnen, daß die seinerzeit umstrittene Rechtsfrage erst nach Unanfechtbarkeit des ablehnenden Verwaltungsakts höchstrichterlich beantwortet worden ist. In diesem Zusammenhang wird die Meinung vertreten, daß Rechtsänderungen und Rechtsanschauungen, die erst nach bindendem oder rechtskräftigem Abschluß eines Streitverfahrens hervorgetreten oder herrschend geworden sind, nicht die Pflicht des Versicherungsträgers zur Neuprüfung gemäß § 1300 RVO begründen. Auch wenn § 1300 RVO in diesem Sinne zu verstehen sein sollte, was hier nicht abschließend entschieden, sondern unterstellt werden soll, dann sind gleichwohl die früheren Rentenablehnungen an der Rechtsprechung des BSG aus jüngerer Zeit zu messen. Denn auch das BSG geht in den in Rede stehenden Urteilen von der damaligen Rechtslage und derjenigen Rechtsanschauung aus, die damals richtigerweise maßgebend war; nur daß die Urteile des BSG erst später ergingen und von dem Versicherungsträger bei seinen früheren Entschließungen noch nicht beachtet werden konnten. Eine solche Situation ist einer nachträglichen Gesetzesänderung nicht gleichzusetzen. Das hier Gesagte gilt jedenfalls für die erste Festigung einer Auslegung durch das Revisionsgericht. Ob demgegenüber ein nachträglicher Wandel der höchstrichterlichen Judikatur anders zu behandeln wäre, kann dahinstehen. Im besonderen kann unbeantwortet bleiben, ob ein Rechtsprechungswandel sich etwa wegen des in die Judikatur gesetzten Vertrauens nur für die Zukunft auszuwirken vermöchte (vgl. BGHZ 18, 81 ff; BFH, Der Betriebsberater 67, 783; Säcker, NJW 68, 708 m.w.N.) und ob er die Bindung oder Rechtskraft von Verwaltungsakten oder Urteilen überhaupt nicht oder doch nicht mit Rückwirkung beseitigen könnte (vgl. § 40 Abs. 2 VerwVG und BSG 26, 89, 91 f). Für den hier erörterten Fall der ersten Entwicklung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung ist davon auszugehen, daß auch abgeschlossene Streitsachen von ihr berührt werden. Nur dadurch wird der mit § 1300 RVO verfolgte Zweck erreicht, nämlich alle Berechtigten möglichst gleichmäßig und ohne Rücksicht auf die Ungunst unanfechtbarer Fallentscheidungen an den Wohltaten des Gesetzes teilhaben zu lassen.
Zur Erfüllung dieses Zweckes muß der Versicherungsträger in eine nochmalige Sachprüfung eintreten und einen neuen Bescheid erlassen. Dabei darf ihm allerdings ein wohlbegründetes Abweichen von der herrschenden Judikatur nicht verwehrt sein. Eine ständige Rechtsprechung ist nicht um ihrer selbst willen zu beachten, sondern wegen der in ihr zum Ausdruck gelangten Rechtsauffassungen. Der Verwaltung muß es unbenommen sein, vor allem auf bisher nicht gesehene Auswirkungen der Gesetzesauslegung und auf etwaige Schwierigkeiten bei der Verwaltungsarbeit aufmerksam zu machen. Eine starre Bindung der Verwaltung an eine Rechtsprechung, die nicht ausnahmsweise zu Gewohnheitsrecht erstarkt ist, wäre der Fortentwicklung des Rechts abträglich. Im vorliegenden Fall ist jedoch für eine solche Ausnahmesituation nichts vorgetragen oder ersichtlich. Denn über die anstehende Rechtsfrage ist der Meinungsstreit ausgetragen. Wollte man die jetzige Auslegung dieser - so gut wie ausgelaufenen - Vorschrift umstoßen, so würde das Interesse an Rechtsfrieden und Stabilität mißachtet.
Die Vorinstanzen hätten deshalb der Klage stattgeben müssen.
Die angefochtenen Urteile sind aufzuheben. Die Beklagte hat nunmehr den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des BSG zu bescheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2374880 |
BSGE, 141 |