Leitsatz (redaktionell)

Nach allgemeiner Lebenserfahrung und nach medizinischen Erfahrungssätzen sind in aller Regel ärztliche Gutachten, bei denen alte Krankenunterlagen verwertet worden sind, überzeugender als solche Gutachten, die ohne Kenntnis der früheren Befunde erstattet werden.

Nach allgemeinen Erfahrungen ist es für einen erfahrenen Terminsachverständigen unmöglich, in einer kurzen Zeit von nur 10 Minuten sich ein zutreffendes Bild über die Unfallfolgen und die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu machen.

Einem Unfallversicherungsträger ist es infolge solcher nicht eindeutigen gutachtlichen Feststellungen nur schwer möglich, eine wesentliche Änderung - ganz gleich ob iS der Besserung oder der Verschlimmerung - festzustellen.

 

Normenkette

RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. März 1966 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Durch Bescheid vom 17. August 1964 hatte die Beklagte festgestellt, der Unfall des Klägers vom 1. März 1964 sei kein landwirtschaftlicher Arbeitsunfall gewesen. Die Klage des Klägers ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 7. September 1965). Auf die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des Sozialgerichts geändert und den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Auf Antrag der beigeladenen Kreiskrankenkasse für den Kreis O hat das LSG festgestellt, daß der Unfall vom 1. März 1964 ein Arbeitsunfall sei. Außerdem hat das LSG die Beklagte verurteilt, dem Kläger mit einem neuen Bescheid die Verletztenrente vom 17. März 1965 an nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v.H. und vom 1. März 1966 an nach einer MdE von 30 v.H. zu gewähren. Im übrigen hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. In den Urteilsgründen hat das LSG ausgeführt: Auf Grund der Zeugenaussagen stehe fest, daß der Kläger am 1. März 1964 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Hinsichtlich der Unfallfolgen sei der Senat den Feststellungen des medizinischen Sachverständigen gefolgt.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Die Beklagte hat dennoch dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 16. März 1966 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte bestreitet nicht mehr das Vorliegen eines landwirtschaftlichen Arbeitsunfalls. Sie rügt jedoch mit näherer Begründung die Verletzung des rechtlichen Gehörs dadurch, daß sie keine Gelegenheit gehabt habe, zu dem Gutachten des Terminarztes Stellung zu nehmen. Insbesondere macht die Revision geltend, das LSG habe auf Grund des Gutachtens des Terminarztes nicht die Höhe der MdE festsetzen dürfen. Es fehle an Feststellungen über die Unfallfolgen vor allem für die zurückliegende Zeit.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 16. März 1966 als unzulässig zu verwerfen.

Er sieht einen Verfahrensmangel als nicht gegeben an.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die nicht zugelassene und nur auf Verfahrensmängel gestützte Revision wäre nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150).

Für die Statthaftigkeit der Revision genügt es, wenn eine dieser Rügen durchgreift; auf weitere Rügen, die ebenfalls zur Statthaftigkeit der Revision führen könnten, braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden (BSG in SozR Nr. 122 zu § 162 SGG).

Die Beklagte bemängelt vor allem, das LSG habe die MdE für eine Zeit (nämlich vom 17. März 1965 an) festgesetzt, für die es an jeglichen Feststellungen über die damals bestehenden Unfallfolgen gefehlt habe, obwohl die Aufklärung des Sachverhalts insoweit möglich gewesen sei.

Mit diesem Vorbringen rügt sie eine Verletzung des § 103 SGG. Diese Rüge greift durch. Das LSG hätte sich auch von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus im Hinblick auf die Entscheidung über die Rente für diese Zeit gedrängt fühlen müssen, die unterlassenen Ermittlungen durchzuführen. Der Termingutachter hat am 16. März 1966 die MdE des Klägers für die Zeit vom 17. März 1965 an geschätzt. Dabei konnte er sich lediglich auf einen Zwischenbericht des Kreiskrankenhauses Oldenburg/Holstein vom 6. Mai 1964 stützen. Dieser Bericht lag also wiederum ein Jahr zurück, und aus diesem Bericht ging auch für das LSG ersichtlich hervor, daß der akute Heilungsprozeß noch nicht einmal vorläufig abgeschlossen war. In dem Bericht ist nämlich u.a. ausgeführt worden, daß sich der Patient weiter in ambulanter Behandlung befinde, der Knochen am vierten Finger noch nicht vollkommen mit Haut bedeckt sei und die Röntgenuntersuchung zeige, es bestehe noch kein genügender Durchbau des Knochens, um die Küntscher-Nägel zu entfernen; auch bestünden noch erhebliche Zirkulationsstörungen. Das LSG hätte sich deshalb gedrängt fühlen müssen, einen weiteren Bericht über den Verlauf der Unfallfolgen und über den Befund bei Abschluß der Behandlung einzuholen, zumal da nach allgemeiner Lebenserfahrung und nach medizinischen Erfahrungssätzen in aller Regel ärztliche Gutachten, bei denen alte Krankenunterlagen verwertet worden sind, überzeugender sind als solche Gutachten, die ohne Kenntnis der früheren Befunde erstattet wurden (vgl. BSG vom 23.Juni 1960 - 11 RV 1272/59 in DVZ 1961, 261; zum Terminsarzt siehe auch Beschluß des Senats vom 18.April 1966 - 2 RU 253/61).

Die Revision rügt weiter die Lückenhaftigkeit des Gutachtens des Sitzungsarztes. Damit wird die Verletzung des § 128 SGG gerügt. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für seine Entscheidung leitend gewesen sind. Eine Verletzung dieser Vorschrift liegt vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten, insbesondere gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat (BSG 2, 236). Diese gesetzlichen Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung sind zwar nicht schon überschritten, wenn das Gericht aus wohlerwogenen Gründen einem Gutachter folgt. Abgesehen davon, daß das LSG keine wohlerwogenen Gründe dargelegt hat, lägen solche auch dann nicht vor, wenn das Gericht wußte oder erkennen mußte, daß das Gutachten auf Grund unzulänglicher Vorbereitung und ohne umfassende Berücksichtigung aller für eine abschließende Beurteilung wesentlichen Umstände zustande gekommen ist. Bereits in SozR Nr. 42 zu § 128 SGG hat das Bundessozialgericht entschieden, daß das Gutachten eines Terminarztes, das auf die während einer Gerichtsverhandlung unterbreiteten Unterlagen gestützt ist und deshalb auch nur auf den in einem solchen Fall zeitlich und örtlich möglichen Untersuchungsmethoden beruht, in der Regel kein überzeugendes Bild von den Gesundheitsstörungen und ihren Ursachen vermitteln kann (vgl. auch Urteil des 10. Senats vom 17. Januar 1967 - 10 RV 895/63 -).

Auf ein solches Gutachten aber hat das LSG im vorliegenden Fall die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Rente in verschieden hoher MdE gestützt. Der mit dem Rechtsstreit bisher nicht befaßte ärztliche Sachverständige und Facharzt für Chirurgie Dr. K hat den Kläger nach der Niederschrift über die Sitzung des LSG vom 16. März 1966 an diesem Tage zum ersten Mal untersucht, und zwar nur für die Dauer von 10 Minuten. Nach allgemeinen Erfahrungen ist es aber auch für einen erfahrenen Sachverständigen unmöglich, in einer so kurzen Zeit sich ein zutreffendes Bild über die Unfallfolgen und die Höhe der MdE zu machen, und zwar um so mehr, als er weder Umfangsmaße noch den wirklichen Grad einer Beuge- bzw. Streckhemmung gemessen hat. Der Mangel der Beweiswürdigung durch das LSG liegt hier darin, daß das LSG in Kenntnis der Unzulänglichkeit des Zustandekommens des Gutachtens sich diesem - im übrigen ohne eigene Würdigung - angeschlossen und die Fehlerquellen in Kauf genommen hat, die diesem Gutachten anhaften und bei Einräumung genügender Zeit zur Vorbereitung des Gutachtens leicht zu vermeiden gewesen wären. Hinzu kommt, daß das Gutachten auch deswegen kein überzeugendes Bild von den Unfallfolgen vermitteln konnte, weil es nicht an neuere Unterlagen über frühere eingehende Untersuchungen, Gutachten, Krankenpapiere angeknüpft hat (vgl. BSG in SozR Nr. 42 zu § 128 SGG). Schließlich ist es der Beklagten infolge der nicht eindeutigen Feststellungen in diesem Gutachten nur schwer möglich, eine wesentliche Änderung - ganz gleich ob i.S. der Besserung oder der Verschlimmerung - festzustellen.

Die nicht zugelassene Revision ist somit schon wegen der zutreffend gerügten Verletzung der §§ 103, 128 SGG statthaft, so daß auf weitere Verfahrensrügen nicht mehr eingegangen zu werden braucht.

Sie ist auch begründet, weil das angefochtene Urteil auf dieser Verletzung beruht; denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die Unzulänglichkeit des im Termin erstatteten Gutachtens beachtet und auf Grund seiner sachgerechten Würdigung der anderen Gutachten oder gar auf Grund eines neuen Gutachtens die Feststellung darüber getroffen hätte, welche Unfallfolgen bei dem Kläger tatsächlich vorliegen und wie hoch die MdE ist. Da hierzu verfahrensrechtlich einwandfreie Feststellungen nicht vorliegen, konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Aus diesem Grunde mußte das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dieses wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284994

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