Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Entziehung einer erschlichenen Dauerrente bei unveränderten tatsächlichen Verhältnissen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des RVO § 622 Abs 1 ist nicht schon in einer abweichenden Beurteilung gleichgebliebener Verhältnisse zu erblicken. Ein von Anfang an unrichtiger Bescheid kann in der Unfallversicherung zuungunsten des Versicherten nur zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des RVO § 1744 vorliegen.

 

Normenkette

RVO §§ 1744, 622 Fassung: 1963-04-30; BGB §§ 242, 826; RVO § 622 Abs. 1

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 1972 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, dem Kläger die Unfallrente zu entziehen.

Der 1933 geborene Kläger, von Beruf Schlosser, erlitt am 8. Februar 1966 einen Arbeitsunfall. Dabei wurde das linke Auge verletzt. Der Kläger wurde wiederholt stationär behandelt, zuletzt wurde im November 1967 eine Epitheleinwachsung in die Vorderkammer operativ entfernt. Der postoperative Verlauf war komplikationslos. In seinem Rentengutachten vom 24. Juli 1968 stellte Dr. von F von der Augenklinik der Städtischen Krankenanstalten B, nach ambulanter Untersuchung, ein Sehvermögen links von 0,05 mühsam, kein Nahvisus fest. Die Angaben des Klägers bei der Prüfung der Sehleistung entsprächen dem objektiven Befund. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte der Gutachter auf 20 v.H., voraussichtlich auf Dauer.

Mit ihrem Bescheid vom 25. September 1968 erkannte die Beklagte eine "stark herabgesetzte Sehkraft des linken Auges" als Unfallfolge an und gewährte dem Kläger eine Dauerrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente.

Bei Nachuntersuchungen am 15. Januar und 15. April 1970 in der Augenklinik B (Prof. Dr. D und Dr. B) ergab sich eine auffällige Diskrepanz zwischen dem objektiven Befund und den Angaben des Klägers bei der Prüfung der Sehleistung. Dr. N und Dr. H von der Universitäts-Augenklinik H erstatteten darauf nach zweimaliger ambulanter Untersuchung am 17. und 20. November 1970 ein weiteres Gutachten. Nach den Angaben des Klägers bestand eine Sehschärfe auf dem linken Auge von 0,5/50, die durch Gläser nicht zu bessern war. Ein Nahvisus bestand nicht. Nach der objektiven Sehschärfenbestimmung mittels des optokinetischen Nystagmus sowie nach dem objektiven Befund stellten auch diese Gutachter ein auffälliges Mißverhältnis zu den Angaben des Klägers fest. Die objektiv feststellbare unfallbedingte MdE betrage höchstens 10 v.H.. Die Frage nach einer wesentlichen Besserung gegenüber den von Dr. von F erhobenen Befunden verneinten die Gutachter. Die Beklagte entzog dem Kläger daraufhin die Rente mit Ablauf des Monats Februar 1971 (Bescheid vom 26. Januar 1971) mit der Begründung: Die Sehkraft des linken Auges habe sich wesentlich gebessert und die Erwerbsfähigkeit sei durch die Folgen des Arbeitsunfalles nicht mehr in rentenberechtigendem Grad um wenigstens 20 v.H. gemindert.

Im Klageverfahren holte das Sozialgericht (SG) weitere Gutachten von Dr. N und Dr. H nach Aktenlage vom 1. Dezember 1971 und 26. April 1972 ein. Die Gutachter führten aus, der morphologische Augenbefund habe sich seit dem 24. Juli 1968 nicht geändert, so daß mit großer Wahrscheinlichkeit keine Besserung der Sehschärfe auf dem linken Auge eingetreten sei. Der mit objektiven Untersuchungsmethoden erhobene Befund zeige jedoch eine wesentlich bessere Sehschärfe als sie der Kläger angebe; sie bedinge eine MdE von höchstens 10 v.H.. Im einzelnen könnten die Gutachter zur Frage der Besserung nicht Stellung nehmen, weil sie die Untersuchung im Jahre 1968 nicht vorgenommen hätten.

Das SG hat den Bescheid vom 26. Januar 1971 aufgehoben, weil die Unfallfolgen sich seit der Feststellung der Dauerrente nicht wesentlich gebessert hätten (Urteil vom 5. September 1972). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 1972). Es hat zur Begründung ebenfalls ausgeführt, in den für die Feststellung der Dauerrente maßgebenden Verhältnissen sei keine wesentliche Änderung eingetreten. Der erforderliche Nachweis sei beim Vergleich der der Rentenbewilligung zugrunde liegenden objektiven Befunde mit den späteren objektiven Befunden nicht geführt. Der Senat sei zwar überzeugt, daß der Kläger nach den Gutachten von Prof. Dr. D/Dr. B und Dr. N/ Dr. H mit dem linken Auge besser sehen könne als er es angebe. Die Beeinträchtigung des Sehvermögens rechtfertige danach lediglich eine MdE um 10 v.H.. Es bestünden erhebliche Zweifel daran, ob Dr. von F den Befund im Juli 1968 tatsächlich objektiv richtig bewertet habe. Nach den Ausführungen von Dr. N und Dr. H habe die von ihnen festgestellte Sehminderung wahrscheinlich auch schon im September 1968 in gleichem Ausmaß vorgelegen, weil auch damals die Angaben des Klägers zur Sehschärfe in Diskrepanz zu dem erhobenen Augenbefund gestanden hätten. Auch unter Berücksichtigung des komplikationslosen Operationsverlaufes im Jahre 1967 und dem Befundbericht von Dr. St vom 13. März 1968 sowie der Angaben des Klägers im Universitätskrankenhaus Hamburg lasse sich eine wesentliche Besserung der Sehleistung nach Erteilung des Dauerrentenbescheides nicht nachweisen.

Eine dahingehende Prüfung, ob der Entziehungsbescheid etwa gemäß § 1744 Abs. 1 Nr. 3 oder 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) oder aus dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung (§ 826 BGB) gerechtfertigt sei, sei in diesem Verfahren nicht möglich. Die Beklagte habe den angefochtenen Entziehungsbescheid ausdrücklich auf § 622 RVO gestützt und daran auch im Laufe des Rechtsstreits festgehalten. Wenn die Rentenentziehung nunmehr auf § 1744 RVO oder 826 BGB gestützt werden sollte, so müßte dem angefochtenen Bescheid nicht nur eine andere Rechtsnorm, sondern ein völlig anderer, und zwar gegenteiliger Sachverhalt zugrunde gelegt werden. Das sei nicht zulässig, weil der Bescheid dadurch in seinem Wesen, insbesondere in seinen Voraussetzungen, seinem Inhalt und seiner Wirkung verändert und die Rechtsverteidigung des Klägers beeinträchtigt werde.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel in rechter Form und Frist eingelegt. Sie führt zur Begründung u.a. aus: Es gehe nicht an, daß Bescheide der Versicherungsträger und Urteile der Sozialgerichte, wenn sie bindend bzw. rechtskräftig geworden seien auch dann in ihrer Bestandskraft geschützt blieben, wenn sich nachträglich herausstelle, daß sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen und deshalb unrichtig seien. Ebenso wie der Versicherungsträger nach § 627 RVO nF verpflichtet sei, eine Leistung neu festzustellen oder wiederzugewähren, müsse er auch die Möglichkeit haben, eine zu Unrecht gewährte Leistung zu Ungunsten des Versicherten neu festzustellen oder zu entziehen. Ein Festhalten an unrichtigen Bescheiden bzw. Urteilen aus dem überspitzten Gedanken der Bindung bzw. der Rechtskraft heraus stoße allgemein auf Unverständnis. So stütze auch der Kläger seinen Anspruch auf Weitergewährung der Rente nicht etwa darauf, daß der Bewilligungsbescheid bindend geworden sei, sondern darauf, daß ihm diese Rente zu Recht gewährt worden sei und die späteren ärztlichen Beurteilungen den tatsächlichen Grad der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit nicht richtig bewerteten.

§ 622 Abs. 1 RVO nF zwinge nicht dazu, den bei der Bewilligung der Rente tatsächlich vorliegenden Befund mit den später getroffenen Feststellungen zu vergleichen und eine Änderung der Verhältnisse zu verneinen, wenn diese Befunde und ihre Bewertung sich entsprächen, sondern erlaube auch dann die Feststellung einer wesentlichen Änderung, wenn die tatsächlichen Verhältnisse bei der Bewilligung der Rente objektiv unrichtig bewertet worden seien. Dann sei der jetzige Befund dem früher fälschlich zugestandenen gegenüberzustellen. Beruhe die Fehlbeurteilung auf bewußt falschen Angaben des Versicherten, so könne er sich nach den, auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsätzen von Treu und Glauben nicht auf die Bindung des darauf ergangenen Verwaltungsaktes berufen. Auf § 1744 (Abs. 2) RVO habe sich die Beklagte auch noch im Berufungsverfahren berufen dürfen; doch lägen dessen Voraussetzungen nicht vor.

Im übrigen habe aber das LSG gegen Denkgesetze verstoßen oder mindestens den vorliegenden Sachverhalt nicht erschöpfend gewertet, wenn es als nicht erwiesen erachtet habe, daß sich das Sehvermögen des Klägers auf dem linken Auge seit der Erteilung des Dauerrentenbescheides wesentlich gebessert habe. Die Richtigkeit der Bewertung der Unfallfolgen durch Dr. von F sei durch die später erstatteten Gutachten nicht erschüttert. Sie könnten nicht lediglich dadurch in Zweifel gezogen werden, daß der Kläger bei den verschiedenen Untersuchungen abweichende Angaben gemacht habe. Das LSG habe offenbar übersehen, daß der Kläger noch im Jahre 1968 operiert worden sei.

Lasse sich nicht beweisen, daß eine Änderung in den Verhältnissen nicht eingetreten sei, so sei der Beweis des Gegenteils ebenso nicht möglich. Da der Kläger aber behaupte, 1968 durch die Unfallfolgen in seiner Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. gemindert gewesen zu sein, gehe das Fehlen des Nachweises, daß eine Besserung nicht eingetreten sei, zu seinen Lasten.

Schließlich rügt die Beklagte eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil das LSG nicht geprüft habe, ob eine Besserung des Leistungsvermögens des Klägers 1970/71 dadurch eingetreten sei, daß er sich an den Zustand der Verletzungsfolgen gewöhnt habe und daher trotz unverändertem morphologischen Befund seine Erwerbsfähigkeit nicht mehr um 20 v.H. gemindert sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts sowie des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuverweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Wesentliche Verfahrensmängel lägen nicht vor.

Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision ist unbegründet.

Der angefochtene Entziehungsbescheid der Beklagten vom 26. Januar 1971 ist rechtswidrig. Die Beklagte war nicht berechtigt, mit dem angefochtenen, auf § 622 RVO gestützten Bescheid dem Kläger die Unfallrente, die sie ihm mit Bescheid vom 25. September 1968 gewährt hatte, zu entziehen.

Die Neufeststellung einer Dauerrente ist zu treffen, wenn in den Verhältnissen die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist (§ 622 Abs. 1 RVO). Die Verletztenrente des Klägers könnte danach nur entzogen werden, wenn sich die Verhältnisse, die beim Erlaß des Dauerrentenbescheides vom 25. September 1968 vorgelegen haben, wesentlich geändert hätten. Fehlt der erforderliche Nachweis einer solchen Änderung der Verhältnisse (BSG in SozR Nr. 10 zu § 608 RVO aF), so ist die Neufeststellung (Entziehung) nicht zulässig. Eine derartige Änderung ist nicht in einer abweichenden Beurteilung gleichgebliebener Verhältnisse zu erblicken. Eine Neufeststellung ist nach der ständigen Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) selbst dann im Interesse der Rechtssicherheit und des Prinzips der Rechtskraft ausgeschlossen, wenn es sich um Fälle handelt, in denen eine völlige Änderung der medizinischen Beurteilung in der ärztlichen Wissenschaft eingetreten ist (vgl. BSG 6, 25, 27). Wie der 5. Senat des BSG in dieser Entscheidung zu § 1293 RVO aF ausgeführt hat, kommt es bei dem Vergleich der der Rentenbewilligung zugrunde liegenden mit späteren Befunden nicht auf die subjektiven Auffassungen und Beurteilungen der Sachverständigen und Gerichte an, sondern allein auf die wirklichen, d.h. objektiven Befunde (aaO S. 28; ebenso BSG 7, 8; 10, 72, 75; 13, 89, 90 jeweils zu § 62 Abs. 1 BVG). Dieselben Grundsätze gelten auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl., S. 582, 582 a).

Bei der Neufeststellung des Rechtsverhältnisses ist also von dem ursprünglich bindend gewordenen Bescheid auszugehen, und zwar nicht nur hinsichtlich der anerkannten Schädigungsfolgen, sondern auch hinsichtlich der Höhe der MdE (SozR Nr. 23 zu § 62 BVG; (vgl. auch BSG 5, 96, 100; SozR Nr. 1 zu § 570 RVO; Urteil des erkennenden Senats vom 21.3.1974 - 8/2 RU 55/72 -; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 2 Buchst. c und Buchst. e) aa zu § 622 RVO).

Wie § 77 SGG ausdrücklich bestimmt, kann die bindende Wirkung von Verwaltungsakten nur durchbrochen werden, soweit das vom Gesetz ausdrücklich zugelassen ist. In der gesetzlichen UV ist jedoch, abgesehen von der Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 1744 RVO eine Neufeststellung zuungunsten des Berechtigten nur bei einer Änderung der maßgebenden Verhältnisse zulässig (§ 622 Abs. 1 RVO).

Von Anfang an unrichtige Bescheide können anders als im Recht der Kriegsopferversorgung (§§ 41, 42 Verwaltungsverfahrensgesetz in der UV zuungunsten des Versicherten nur zurückgenommen oder berichtigt werden, wenn die Voraussetzungen des § 1744 RVO vorliegen. Im Recht der Sozialversicherung sind Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten abschließend geregelt. Danach ist die Rücknahme eines Verwaltungsaktes ohne Änderung der Verhältnisse nur zugunsten des Versicherten vorgesehen (§§ 627, 1300 RVO), woraus nur geschlossen werden kann, daß die Bindung der Verwaltung an ihren Akt zuungunsten des Versicherten grundsätzlich nicht durchbrochen werden darf (BSG 11, 226, 229, 230; 14, 10, 13 ff; 18, 84, 90 ff). Diese, der früheren Rechtsprechung entsprechende, allgemein vertretene Auffassung hat auch durch § 77 SGG keine Änderung erfahren. Nach wie vor bietet lediglich § 1744 RVO die Möglichkeit einer nachträglichen Änderung eines bindenden Bescheides zuungunsten des Versicherten. Diese Vorschrift ist durch § 220 Nr. 18 des SGG ... neu gefaßt worden, woraus sich klar ergibt, daß sie trotz der veränderten verfahrensmäßigen Bedeutung der Rentenbescheide und trotz der neuen Regelung der Bindung nicht mehr anfechtbarer Verwaltungsakte fortbesteht (BSG 18, 90 und dortige Zitate). Wie der 3. Senat in seinem Urteil vom 31. Januar 1961 (BSG 14, 10, 16) hierzu ausgeführt hat, ergehen nach wie vor die Rentenbescheide in einem eingehend geregelten förmlichen Verwaltungsverfahren (vgl. §§ 1545 ff, besonders 1568 ff RVO) und ihre Rechtmäßigkeit kann nach wie vor gerichtlich nachgeprüft werden. Ihre Bestandskraft ist der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen daher jedenfalls wesensverwandt (BSG 18, 84, 89 mit weiteren Hinweisen). Wenn sonach im Gesetz die Rücknahme eines fehlerhaften bindenden Bescheides ohne Änderung der Verhältnisse nur zugunsten des Berechtigten, nicht aber zu seinen Ungunsten vorgesehen ist, so bedeutet dies, daß die Verwaltung einen bindend gewordenen Verwaltungsakt zum Nachteil des Versicherten nicht ändern darf, es sei denn, das Gesetz bestimme etwas anderes. Ist somit im Recht der Rentenversicherung und der UV ebenso wie im Versorgungsrecht die Rücknahme fehlerhafter, eine Leistung bewilligender Rentenbescheide gesetzlich ausdrücklich geregelt und betroffen diese gesetzlichen Regelungen auch von Anfang an fehlerhafte rechtsirrtümlich bewilligte Renten (§ 1744 RVO), so kann die Rücknahme eines solchen Rentenbescheides auch nicht auf die anerkannten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gestützt werden, selbst wenn diese als Rechtsnormen, d.h. "Gesetz" i.S. von § 77 SGG, zu betrachten wären. Solche allgemeinen Normen müssen gegenüber den speziellen Regelungen des Sozialversicherungsrechts zurücktreten. Als etwaiges geltendes Gewohnheitsrecht können solche anerkannten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechtes die besonderen Regelungen des Sozialversicherungsrechtes schon deshalb nicht zurückdrängen, weil ihre Anwendung gerade im Bereich des Sozialversicherungsrechts stark umstritten ist, so daß hier von der Bildung von Gewohnheitsrecht nicht die Rede sein kann (vgl. BSG 14,17). Bei den besonderen, gegenüber den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechtes eingeengten Regelungen über die Rücknahme von Anfang an unrichtiger Verwaltungsakte in der Sozialversicherung hat der Gesetzgeber den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, als wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips, den Vorrang vor dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung eingeräumt (BSG 14,17 und dortige Zitate). Ihretwegen soll, wie es dem Recht der Sozialversicherung seit Jahrzehnten entsprochen hat, eine im Einzelfall von vornherein unrichtige Entscheidung der Verwaltung grundsätzlich als unabänderlich in Kauf genommen werden, sofern nicht einer der besonderen Rücknahmegründe des § 1744 RVO vorliegt. Der Auffassung, daß in der modernen Massenverwaltung und bei den oft unklaren und lückenhaften Gesetzen der Verwaltung gewisse Korrekturmöglichkeiten zugestanden werden müßten, hat sich der Gesetzgeber im geltenden Recht für das Gebiet der Leistungsgewährung in der UV der Rentenversicherung und auch im Recht der Altershilfe für Landwirte nicht angeschlossen (BSG 14, 18).

Ob diese, von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze uneingeschränkt auch in Fällen zu gelten haben, in denen der Versicherte den fehlerhaften Verwaltungsakt arglistig erschlichen hat und eine Rücknahme (Berichtigung) nach den auch im öffentlichen Recht herrschenden Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) in Verbindung mit dem Verbot der unzulässigen Rechtsausübung (§ 826 BGB) möglich ist (obwohl die Voraussetzungen des § 1744 RVO, insbesondere dessen Abs. 2, nicht vorliegen), weil ein schutzwürdiges Vertrauen in einen derartigen Verwaltungsakt nicht bestehen kann und es auf der Hand liegt, daß derjenige sich nicht auf einen Vertrauensschutz berufen kann, der in Kenntnis der wahren Rechtslage bewußt die Gewährung der ihm nicht zustehenden Leistung herbeigeführt hat (so BSG in SozR Nr. 16 zu § 1301 RVO Aa17Rs) und ob es demnach ausgeschlossen erscheint, daß der Gesetzgeber demjenigen eine unrechtmäßige Leistung belassen will, der sie in Kenntnis der wahren Rechtslage arglistig erschlichen hat (vgl. BSG 14, 10, 17 und BSG in SozR Nrn 4 und 5 zu § 628 RVO), kann im vorliegenden Fall ebensowenig untersucht werden wie die Frage, ob die Rentenentziehung nach § 1744 RVO, dessen Voraussetzungen die Revision selbst nicht annimmt, gerechtfertigt wäre. Denn einerseits fehlt es an tatsächlichen Feststellungen in dieser Hinsicht und andererseits würde der Bescheid, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, damit in seinem Wesen, d.h. in seinen Voraussetzungen, seinem Inhalt und u.U. auch in seiner Wirkung verändert und der Kläger in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden (BSG 3,209, 216; 7, 8, 12; 11, 236, 239; BSG in SozR Nr. 25 zu § 41 VerwVG). Während die Beklagte ihren Entziehungsbescheid damit begründet hat, die für die Bewilligung maßgebenden Verhältnisse hätten sich geändert, weil eine Besserung eingetreten sei, würde eine Berichtigung mit einer solchen Begründung voraussetzen, daß der Bewilligungsbescheid schon bei seinem Erlaß unrichtig war, also gerade keine Besserung eingetreten ist und der Kläger diese unrechtmäßige Rentenbewilligung vorsätzlich herbeigeführt hätte. Insoweit würde also gerade der entgegengesetzte Sachverhalt vorausgesetzt, wie ihn die Beklagte zur Begründung ihres Entziehungsbescheides herangezogen hat. Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Kriegsopferversorgung (BSG 7, 8) und die Rentenversicherung (BSG 3, 209, 216), sondern auch für die gesetzliche UV. In allen diesen Rechtsgebieten ist die Rechts- und Interessenlage der Beteiligten insoweit die gleiche. Will der Träger der UV somit von einem solchen, ganz anders gelagerten Sachverhalt ausgehen, so muß er zuvor entsprechende Feststellungen treffen. Gegebenenfalls hätte er in Grenzfällen - ebenso wie z.B. die Versorgungsverwaltung - die Möglichkeit der Neufeststellung (Entziehung) mit Hilfe eines sogenannten Wahlfeststellungsbescheides (vgl. BSG in SozR Nr. 33 zu § 62 BVG). Dabei müßte aber die Überzeugung des Trägers der UV, daß der Rentenempfänger sich die Rente durch bewußt unrichtige Angaben erschlichen habe, durch hinreichende objektive Anhaltspunkte belegt werden. Nur insoweit könnte in einem Fall der vorliegenden Art dem Anliegen der Revision nach Maßgabe der vorerwähnten Rechtsprechung zu §§ 242, 826 BGB Rechnung getragen werden. Eine Fehleinschätzung des unfallbedingten Grades der MdE bei der Bewilligung der Dauerrente, wie sie nach den vom LSG getroffenen Feststellungen möglich erscheint, rechtfertigt jedoch allein auch dann nicht die Entziehung der dem Kläger bewilligten Dauerrente, wenn der Verletzte bei der ursprünglichen Untersuchung und Begutachtung Angaben zur Sehleistung gemacht hat, jedenfalls sofern dies nicht in bewußter Irreführung geschehen ist.

Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch. Wenn das LSG eine zur Rentenentziehung berechtigende wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht festgestellt hat, so hat es dabei weder gegen Denkgesetze verstoßen noch das ihm bei der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens eingeräumte freie richterliche Ermessen überschritten (§ 128 Abs. 1 SGG). Bei dem für die Feststellung einer wesentlichen Änderung notwendigen Vergleich der für die Bewilligung der Rente maßgebenden mit den später erhobenen Befunden ist es ausdrücklich davon ausgegangen, daß der Kläger besser sehen kann als er angibt und die unfallbedingte Herabsetzung des Sehvermögens des linken Auges nach der Tabelle der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft eine MdE von 10 v.H. bedingt. Die Frage, ob insoweit gegenüber den Befunden, wie sie Dr. von F seinem Gutachten vom 24. Juli 1968 zugrunde gelegt und aufgrund deren die Beklagte ihren Bescheid vom 25. September 1968 erteilt hatte, eine wesentliche, d.h. eine Änderung von mindestens 10 v.H. eingetreten war, konnte nur mit Hilfe fachärztlicher Begutachtungen festgestellt werden. Dazu hat sich das LSG auf die Untersuchungsbefunde und sachverständigen Beurteilungen der Augenärzte Privatdozenten Dr. N und Dr. H von der Universitäts-Augenklinik Hamburg bezogen. Aus diesem Gutachten konnte das LSG bedenkenfrei folgern, daß eine Änderung der Verhältnisse i.S. von § 622 Abs. 1 RVO nicht nachzuweisen sei. Schon in ihren Gutachten vom 3. Januar 1971 für die Beklagte (Bl. 226, 227 der Rentenakten) hatten die Gutachter ein wesentlich besseres Sehvermögen festgestellt als Dr. von F, jedoch eine wesentliche Besserung gegenüber den von diesem erhobenen Befunden verneint. Die Sachverständigen kamen in ihren für das SG am 1. Dezember 1971 (Bl. 14/20 der SG-Akte) und 26. April 1972 (Bl. 37/38 SG-Akte) im wesentlichen zu dem gleichen Ergebnis; sie erklärten, - nachdem sie von dem SG ausführlich auf die rechtliche Problematik des Falles hingewiesen worden waren, - der morphologische Augenbefund habe sich seit dem 24. Juli 1968 (Gutachten Dr. von F) bis zum heutigen Datum nicht geändert, so daß eine Besserung nicht festgestellt werden könne und nach ärztlicher Erfahrung auch nicht zu erwarten sei; andererseits habe aber die 1971 festgestellte Sehminderung in gleichem Ausmaß wahrscheinlich auch schon bei der Feststellung der Dauerrente im September 1968 vorgelegen; die im ersten Rentengutachten gemachten Angaben zur Sehschärfe ständen in Diskrepanz zu dem morphologischen Augenbefund und den Unfallfolgen, wie sie sich aus der Beschreibung der Strukturen ergebe; mit Hilfe objektiver Untersuchungsmethoden sie jedoch eine wesentlich bessere Sehschärfe als seinerzeit angegeben festzustellen, die eine Einschätzung der Unfallfolgen auf höchstens 10 v.H. erlaube. Daraus ergeben sich keine Anhaltspunkte oder gar Widersprüche, aus denen das LSG hätte folgern müssen, daß das Sehvermögen des Klägers im September 1968 wesentlich schlechter gewesen sei als bei den späteren Untersuchungen. Die Diskrepanz der Bewertungen ergibt sich erkennbar daraus, daß Dr. N/Dr. H Untersuchungsmethoden angewendet haben, die eine bessere Beurteilung des objektiven Befundes erlauben als das Dr. von F getan hat; daß dabei die Angaben des Klägers eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, liegt auf der Hand. Wenn die Sachverständigen abschließend in ihrem Gutachten vom 26. April 1972 geklärt haben, die am 3. Januar 1971 von ihnen festgestellte Sehminderung habe möglicherweise auch schon im September 1968 vorgelegen, weil im genannten Zeitraum keine Befundänderungen eingetreten seien, sie aber im einzelnen zu dieser Frage nicht Stellung nehmen könnten, weil sie die Untersuchung 1968 nicht vorgenommen hätten, mußte das LSG daraus nicht, wie die Revision meint, entgegen den übrigen Ausführungen der Gutachter schließen, daß 1968 tatsächlich eine einer MdE um 20 v.H. entsprechende Herabsetzung des Sehvermögens des linken Auges des Klägers bestanden habe. Die Ausführungen der Sachverständigen in ihrer Gesamtheit ergeben vielmehr, daß diese davon ausgehen, eine Änderung des morphologischen Befundes sei seit 1968 nicht eingetreten, wobei letztlich ungewiß blieb, aus welchen Gründen 1968 eine höhere MdE als 10 v.H. angenommen worden war. Das LSG konnte damit den von ihm geforderten Nachweis einer wesentlichen Änderung ohne Verfahrensverstoß als nicht erbracht ansehen, der nach seiner Rechtsauffassung durch die Möglichkeit, daß 1968 der MdE-Grad nicht der tatsächlichen Erwerbsminderung entsprochen habe, nicht ersetzt werden konnte (vgl. Urteil S. 6).

Schließlich hat das LSG seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) auch nicht dadurch verletzt, daß es unterlassen hat zu prüfen, ob eine Änderung der Verhältnisse i.S. einer wesentlichen Besserung dadurch eingetreten sei, daß der Kläger sich an die Unfallfolgen gewöhnt habe. Der festgestellte Sachverhalt bot dem LSG zur Prüfung dieser Frage und zur Erhebung weiterer Beweise keinen Anlaß. Die unfallbedingte Erwerbsminderung des Klägers ist von der Beklagten nach objektiven Maßstäben, d.h. ohne Berücksichtigung besonderer Auswirkungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit oder in der Person des Klägers liegender Umstände, nach der Tabelle der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft bewertet worden, wie sie allgemein bei der Bemessung der MdE infolge Augenverletzungen in der UV verwendet wird. Nach denselben Maßstäben haben auch die späteren Gutachter die MdE beurteilt. Dabei ist für Erwägungen, wie sie die Revision angestellt sehen will, kein Raum, etwa daß die Beeinträchtigung der Sehkraft von den Verletzten zunächst stärker empfunden wird oder sich nach einer gewissen Zeit trotz gleichgebliebenen Befundes wesentlich geringer auf die Leistungsfähigkeit auswirkt. Im reinen Zeitablauf kann allein keine wesentliche Besserung i.S. von § 622 Abs. 1 RVO gesehen werden (Lauterbach aaO § 622 RVO Anm. 2 Buchst. c ff, Seite 625: Brackmann aaO Seite 582 b mit weiteren Hinweisen). Zwar sind die Richtlinien für die Bewertung von Körperschäden in der UV für Versicherungsträger und Gerichte nicht bindend. Werden sie jedoch angewendet, ohne die Umstände des Einzelfalles näher zu berücksichtigen, so kann eine Änderung der Verhältnisse auch nur dann angenommen werden, wenn entweder konkrete Anhaltspunkte für eine Anpassung oder Gewöhnung vorliegen (Brackmann aaO) oder der objektive Befund sich soweit geändert hat, daß er unter Zugrundelegung der gleichen Richtlinien eine abweichende Bewertung rechtfertigt. Das ist aber, wie ausgeführt, hier nicht der Fall.

Schließlich greift auch die Rüge der Revision nicht durch, das LSG habe zu Unrecht angenommen, die letzte Augenoperation sei im November 1967 erfolgt und komplikationslos verlaufen, tatsächlich sei diese - wie das LSG übersehen habe - im Jahre 1968 in der Augenklinik H erfolgt (Rev.Akten Bl. 27, 28,29), wie sich aus Bl. 176 R der Verwaltungsakten ergebe. Es trifft zwar zu, daß es im Gutachten des Dr. von F vom 24. Juli 1968 heißt: "Operative Beseitigung einer Epitheleinwachsung in Augenklinik H 1968". Abgesehen davon aber, daß Dr. von F im Gutachten vom 24. Juli 1968 keinen Zustand nach vorangegangener Operation, sondern einen Dauerzustand angenommen hat (MdE von 20 v.H. für "voraussichtlich immer") und es im Schreiben der H Augenklinik vom 23. Februar 1968 heißt, daß der postoperative Verlauf der Entfernung der Epitheleinwachsung "komplikationslos" war, hat die Revision - ebenso wie Dr. von F - dieses letztere Schreiben offenbar mißverstanden. Dort heißt es zwar unter dem Datum der Mitteilung vom 23. Februar 1968, daß der Patient "nunmehr" zwecks Entfernung einer Epitheleinwachsung "zu uns überwiesen" worden sei. Das "nunmehr" bedeutete aber, wie sich aus Bl. 122 der Unfallakten ergibt: "14.11.1967". Demgemäß hat auch der behandelnde Augenarzt Dr. St, in dessen Behandlung der Kläger nach dem genannten Schreiben der Augenklinik vom 23. Februar 1968 überwiesen worden war, der Beklagten am 13. März 1968 (Bl. 136 der Unfallakten) mitgeteilt, daß der Kläger sich zur Operation in Hamburg-Eppendorf "vom 14.11. - 30.11.67 befand", er sei seit 9.2.1968 "nicht mehr in ambulanter Behandlung". Das LSG mußte daher nicht annehmen, daß die Gutachter Dr. N/Dr. H, die von "der Entlassung nach dem operativen Eingriff, also am 30.11.1967", berichteten, die Unterlagen ihrer eigenen Klinik mißdeutet hätten.

Die Revision mußte nach alledem zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646811

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