Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung des Bezuges von Arbeitslosengeld als Ausfallzeit bei einem Nebenerwerbslandwirt
Leitsatz (amtlich)
§ 1259 Abs 1 S 5 RVO ist auf den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 S 1 Nr 3a RVO nicht anwendbar.
Die Tätigkeit als "Nebenerwerbslandwirt" während des Bezugs von Arbeitslosengeld schließt deshalb die Berücksichtigung einer Ausfallzeit nicht aus.
Normenkette
RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 3a; RVO § 1259 Abs 1 S 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Altersruhegeldes streitig, das die Beklagte dem Kläger gewährt.
Der Kläger entrichtete als Hilfsarbeiter in der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter für 234 Monate Pflichtbeiträge. Vom 1. Oktober 1986 bis 31. August 1988 bezog er Arbeitslosengeld (Alg). Seine schon früher betriebene Nebenerwerbslandwirtschaft führte er auch während dieser Zeit selbständig fort.
Die Beklagte gewährte ihm nach Vollendung des 60. Lebensjahres antragsgemäß mit Bescheid vom 14. Juli 1988 Altersruhegeld nach § 1248 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie berücksichtigte dabei die Zeit vom 1. Oktober 1986 bis 31. August 1988 nicht als Ausfallzeit, da der Kläger selbständig tätig gewesen sei.
Auf die dagegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) mit Entscheidung vom 4. April 1989 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 14. Juli 1988, die Zeit vom 1. Oktober 1986 bis 31. August 1988 als Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO seien zu Gunsten des Klägers erfüllt. Dessen Tätigkeit als Nebenerwerbslandwirt während des Alg-Bezuges stehe dem nicht entgegen. Die für selbständige Tätigkeiten in § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO normierte Ausnahme, daß dann keine Arbeitslosigkeit iS der Nr 3 der Vorschrift vorliegt, beziehe sich schon dem Wortlaut nach nicht auf den Ausfallzeittatbestand des Bezuges von Alg gemäß § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO. Die Ausnahmeregelung sei auch nicht entsprechend auf die Ausfallzeit des Alg-Bezuges anwendbar.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision unter schriftlicher Zustimmung des Klägers angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 4. April 1989 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 14. Juli 1988 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch das SG statthafte, mit schriftlicher Zustimmung des Gegners form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. Oktober 1986 bis 31. August 1988 als Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Der Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 1988 war insoweit rechtswidrig, als er diese Zeit des Alg-Bezuges nicht bei der Berechnung des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes berücksichtigte.
Bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS der §§ 1253, 1254, 1258 RVO werden als Ausfallzeiten gemäß § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO auch Zeiten des Bezuges von Alg, Arbeitslosenhilfe (Alhi), Unterhaltsgeld oder Übergangsgeld der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nach dem 31. Dezember 1982 berücksichtigt, es sei denn, die BA zahlt für den Bezieher Beiträge an eine Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder an ein Versicherungsunternehmen oder an den Versicherten selbst. Nach den gemäß § 161 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht mit Verfahrensrügen angreifbaren und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des SG hat der Kläger in der Zeit vom 1. Oktober 1986 bis 31. August 1988 vom Arbeitsamt Alg bezogen. Er hat damit die Merkmale des Ausfallzeittatbestandes des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO erfüllt; die in der Vorschrift genannte Ausnahme ist nicht gegeben.
Entgegen der Auffassung der Revision folgt aus § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO kein anderes Ergebnis. Die Vorschrift ist schon ihrem Wortlaut nach nicht auf den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO anwendbar. Sie bezieht sich zum einen gemäß ihrem ersten Wort nur auf den Begriff der Arbeitslosigkeit und damit lediglich auf eine Voraussetzung für die Gewährung von Alg, nicht jedoch auf den in § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO allein normierten Sachverhalt des "Bezuges von Arbeitslosengeld". Zum anderen ist sie nach der ausdrücklichen gesetzlichen Formulierung nur auf den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3 RVO gerichtet, ist also sprachlich bloß als Ergänzung zu einem spezifischen Ausfallzeittatbestand aus dem Gesamtkatalog des § 1259 Abs 1 RVO gefaßt.
Für eine Auslegung der Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut sind keine hinreichenden Gründe gegeben. Im Schrifttum findet sich zwar auch die gegenteilige Auffassung vertreten (s zB VDR-Kommentar zur RVO, RdNr 28 zu § 1259; Lilge/Udsching in RVO-Gesamtkommentar Anm 10 zu § 1259 RVO). Für die Erklärung, daß der in § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO formulierte Grundsatz trotz des Wortlautes auch für die Nr 3a der Vorschrift gelten müsse, wird jedoch keine überzeugende Begründung gegeben. Für eine Beschränkung des Regelungsgehaltes der Vorschrift auf den vom Wortsinn gedeckten Umfang sprechen Entstehungsgeschichte und Zweck der Norm. Satz 5 wurde dem Abs 1 des § 1259 RVO bereits durch Art 1 § 1 Nr 13 des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) angefügt. Nr 3a wurde in Abs 1 Satz 1 der Vorschrift dagegen erst durch Art 19 Nr 32 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 (HBegleitG 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S 1857) mit Wirkung zum 1. Januar 1983 eingefügt. Zugleich wurden in § 1259 Abs 1 Satz 2 RVO die Worte "und 3" durch die Worte "bis 3a" ersetzt. Aus dieser Anpassung einer bisher auf den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3 RVO bezogenen Vorschrift an den neu aufgenommenen Ausfallzeittatbestand ist aus dem Gesichtspunkt der Gesetzessystematik zu folgern, daß der Regelungsgehalt des § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO, der nicht auf den neu aufgenommenen Ausfallzeittatbestand der Nr 3a ausgedehnt wurde, in seiner bisherigen Bedeutung erhalten geblieben ist, dh nach wie vor allein den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3 RVO betrifft.
Eine in diesem Sinn verstandene Eigenständigkeit von § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO gegenüber der Regelung in § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO entspricht auch dem mit dem neuen Ausfallzeittatbestand verfolgten Zweck. Durch Art 19 Nr 25 HBegleitG 1983 wurde die bisher geltende Regelung des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 10 RVO, wonach der Bezug von Alg eine Versicherungspflicht begründete, aufgehoben. Zum Ausgleich dafür wurde im gleichen Zuge mit der Neueinführung der Regelung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO erreicht, daß die Bezugszeiten von Alg, Alhi, Unterhaltsgeld oder Übergangsgeld durch die BA ab 1. Januar 1983 Ausfallzeiten sind. Wie in der Begründung des Regierungsentwurfes des HBegleitG 1983 (BT-Drucks 9/2140 S 103) ausgeführt wird, wäre es nicht zu rechtfertigen gewesen, wenn diese Bezugszeiten Beitragszeiten geblieben wären. Denn eine Bewertung dieser Zeiten auf der Grundlage der Lohnersatzleistung hätte bedeutet, daß Zeiten des Bezuges von Alg mit rd 48vH, Zeiten des Bezuges von Alhi mit rd 41 vH des vorher bezogenen Arbeitsentgelts bewertet worden wären. Bei einer Kürzung der Alhi wegen anderer Einkünfte wäre die Bewertung sogar noch niedriger ausgefallen; ein völliger Wegfall der Alhi hätte jedoch zur Bewertung dieser Zeit als Ausfallzeit geführt und bewirkt, daß sie erheblich besser bewertet worden wäre. Damit hätte sich letztlich die Beitragszahlung der BA zu Lasten der Arbeitslosen ausgewirkt, wenn nicht diese Bezugszeiten wieder als Ausfallzeiten berücksichtigt werden könnten. Der neu eingefügte Ausfallzeittatbestand der Nr 3a setzte also in der sozialen Ausgangslage an einem Sachverhalt an, der seiner Eigenart und rechtlichen Regelung nach für selbständig Erwerbstätige gar nicht in Betracht kam und daher für eine auf diese Personengruppe bezogene Regelung von vornherein nicht zugänglich war. Denn selbständige erwerbswirtschaftliche Tätigkeit und Bezug von Alg schließen sich von der Natur der Sache her gegenseitig aus und bedürfen keiner Regelung wie der des § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO, die im Ergebnis dem Arbeitsamt bescheinigen würde, daß es zu Unrecht Alg gewährt hatte, weil es dies gegenüber einem selbständig Tätigen getan hat.
Entgegen der Auffassung der Revision scheidet auch eine analoge Anwendung von § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO auf den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 Satz 3 Nr 3a RVO aus. Die Revision glaubt zwar, sich hierzu auf das Urteil des 5a Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. August 1986 (SozR 2600 § 57 RKG Nr 3) berufen zu können. Diese Entscheidung ist jedoch für die vorliegende Problematik nicht verwertbar. Sie betraf nicht einen Fall, in dem der Kläger Alg bezogen hatte. Der Kläger war lediglich als Arbeitsuchender gemeldet gewesen. Dieser Fallgestaltung gemäß entschied der Senat seinerzeit auch lediglich die Frage, ob eine Übertragung der Regelung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3 RVO iVm § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO auf die knappschaftliche Rentenversicherung möglich sei. Davon abgesehen fehlt es bei der im jetzigen Rechtsstreit zu entscheidenden Rechtsfrage bereits an der ersten Voraussetzung einer Analogie, daß eine Gesetzeslücke vorliegt. Wie im Urteil vom 6. August 1986 aaO ausgeführt wird, ist der Richter zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke dort berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden, oder das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, daß sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach dem Erlaß des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (s auch BSGE 39, 143, 146 = SozR 2200 § 1251 Nr 11; BSGE 58, 110, 114 f = SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 6). Aus dem bisher zur Entstehungsgeschichte und zum Zweck des Ausfallzeittatbestandes des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO Ausgeführten ergibt sich, daß keiner dieser Fälle einer Gesetzeslücke vorliegt. Die Möglichkeit einer analogen Anwendung von § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO ist schon aus diesem Grund ausgeschlossen.
Schließlich rechtfertigt entgegen der Auffassung der Beklagten auch die Neuregelung in Art 1 § 252 Abs 5 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) - BGBl I S 2261 - keine andere Entscheidung. Abgesehen davon, daß diese Vorschrift erst am 1. Januar 1992 in Kraft tritt (Art 85 Abs 1 RRG 1992), betrifft sie - ebenso wie § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO - lediglich das Zusammentreffen von Arbeitslosigkeit und selbständiger Tätigkeit und kann deshalb nicht als Interpretation des schon geltenden Rechts bezüglich des davon abweichenden Regelungsgehalts des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3a RVO gesehen werden.
Nach alledem mußte die Sprungrevision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen