Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 31. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg).
Die Beklagte bewilligte dem 1939 geborenen, verheirateten Kläger, der keine berücksichtigungsfähigen Kinder iS des § 111 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) hat und keiner kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft angehört, mit Bescheid vom 4. Juli 1994 ab 11. August 1994 Alg für 832 Tage in Höhe von 536,40 DM wöchentlich. Der Bewilligung liegt ein gerundetes durchschnittliches Brutto-Arbeitsentgelt von 1390,– DM wöchentlich, die Zugehörigkeit des Klägers zur Leistungsgruppe C – auf der Lohnsteuerkarte des Klägers für das Jahr 1994 war ab dem 1. August 1994 die Lohnsteuerklasse III eingetragen – und die Nettolohnersatzquote von 60 vH zugrunde. Mit Bescheiden vom 14. Dezember 1994 und 2. Januar 1995 gewährte die Beklagte das Alg ab 11. August 1994 in Höhe von 549,60 DM wöchentlich wegen einer Erhöhung des wöchentlichen Arbeitsentgelts auf 1.430,– DM.
Gegen den Bescheid vom 4. Juli 1994 erhob der Kläger am 4. Oktober 1994 „Widerspruch” mit der Begründung, er gehöre keiner Konfession an, deshalb dürfe bei der Bemessung des ihm zustehenden Alg kein Abzug von Kirchensteuer erfolgen. Mit Bescheid vom 9. November 1994 und Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1994 lehnte die Beklagte den Antrag auf Neufeststellung – so hatte sie den Widerspruch ausgelegt – ab, weil die Berechnung des Alg dem Gesetz und der darauf beruhenden Leistungsverordnung 1994 entspreche.
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 25. Mai 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 31. Oktober 1995). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Das SG habe zutreffend entschieden, die Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes bei der Bemessung des Alg entspreche dem Gesetz und sei verfassungskonform. Der Einwand des Klägers, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe 1994 ausgeführt, es bestehe Anlaß für eine Prüfung durch den Gesetzgeber, ob § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG noch verfassungsgemäß sei, könne nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Das BVerfG habe nur bejaht, daß das Gesetz 1982 verfassungsgemäß gewesen sei, allerdings hinzugefügt, die Berücksichtigung von Kirchensteuer sei dann nicht mehr mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar, wenn die Kirchensteuer bei der Berechnung des Nettolohnes auch dann noch als „gewöhnlich” anfallender gesetzlicher Abzug berücksichtigt werde, wenn die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die Kirchensteuer erhebe, nicht mehr für Arbeitnehmer als typisch angesehen werden könne, wenn also nicht mehr eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer solchen Kirche angehöre. Das Bundessozialgericht (BSG) habe nach entsprechender Prüfung unter Berücksichtigung von statistischen Unterlagen bis einschließlich 1994 bezüglich eines streitigen Anspruchs aus dem Jahre 1992 entschieden, es sei nicht feststellbar, daß keine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern mehr den steuererhebenden Kirchen angehöre (SozR 3-4100 § 249e Nr 5). Dies gelte auch für 1995, da keine Anhaltspunkte für eine Veränderung ersichtlich seien.
Mit der durch das LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 14 Grundgesetz (GG) iV mit § 111 AFG. Das BVerfG habe dem Gesetzgeber aufgegeben, ein Prüfungsverfahren durchzuführen, ob auch nach der Wiedervereinigung noch eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer steuererhebenden Kirche angehöre. Die Schlußfolgerung des BSG, § 111 AFG sei insoweit auch nach der Wiedervereinigung verfassungsgemäß, sei vom Beschluß des BVerfG nicht gedeckt. Der Rechtsstreit sei daher nach Art 100 GG auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG und den Gerichtsbescheid des SG aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 9. November 1994 abzuändern, den Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1994 aufzuheben, die weiteren Bescheide der Beklagten vom 4. Juli 1994, 14. Dezember 1994 und 2. Januar 1995 abzuändern sowie die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 11. August 1994 Alg ohne Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verweist im wesentlichen auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet.
Dem Kläger steht kein höheres Alg zu, als die Beklagte ihm mit den vom LSG erwähnten, gemäß § 96 SGG schon Gegenstand des Verfahrens vor dem SG gewordenen Bescheiden vom 14. Dezember 1994 und 2. Januar 1995 ab 11. August 1994 gewährt hat.
Die Höhe des Alg, dessen Anspruchsgrundlagen hier offenbleiben können, richtet sich nach § 111 Abs 1 Nr 2 AFG (idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1993, BGBl I 2353). Danach beträgt das Alg für Arbeitslose, bei denen, wie beim Kläger, kein Kind zu berücksichtigen ist, 60 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts (§ 112 AFG). Bei einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 1.430,– DM (§ 112 AFG), das die Beklagte einem Antrag des Klägers entsprechend nachträglich eingeräumt hat, sind dies nach der AFG-Leistungsverordnung 1994 vom 22. Dezember 1993 (BGBl I 2446) in der – günstigsten –, der Steuerklasse 3 entsprechenden, Leistungsgruppe C die bewilligten 549,60 DM wöchentlich.
Die hiernach zutreffende Berechnung des Alg begegnet im Hinblick auf den vom Kläger ausschließlich gerügten „Kirchensteuerabzug” keinen Bedenken. Die Leistungsverordnung entspricht § 111 Abs 2 AFG. Danach bestimmt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Leistungssätze jeweils für ein Kalenderjahr durch Rechtsverordnung. Dabei hat es als gesetzliche Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, neben der Lohnsteuer ua auch Kirchensteuern zu berücksichtigen, und zwar nach dem im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchensteuer-Hebesatz (§ 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG). Das berechnete Arbeitsentgelt wird danach nicht im Einzelfall um individuelle gesetzliche Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, gemindert und sodann nach Maßgabe der jeweiligen Nettolohnersatzquote ausgerechnet; die Leistungssätze der Leistungsverordnung berücksichtigen vielmehr nach den in § 111 Abs 2 AFG bestimmten gesetzlichen Kriterien je nach Steuerklasse des Arbeitslosen pauschal die gesetzlichen Abzüge, die anfallen würden, wenn der Arbeitnehmer in Höhe des Bemessungsentgelts Arbeitslohn erzielen würde.
Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist die in § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG vorgesehene Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes bei der Bestimmung der Leistungssätze derzeit nicht verfassungswidrig (vgl BSGE 73, 195, 201 f = SozR 3-4100 § 249e Nr 3; SozR 3-4100 § 249e Nr 5; unveröffentlichte Urteile vom 26. Juli 1994 – 11 RAr 103/93 – und 26. Oktober 1994 – 11 RAr 87/93 –). An dieser Rechtsauffassung hält der Senat fest.
Das BVerfG hat 1994 entschieden, es sei mit dem GG vereinbar, daß nach § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehörten, bei der Berechnung des Nettoentgelts, nach dem sich die Höhe des Alg bestimme, ein Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen sei (vgl BVerfGE 90, 226 = SozR 3-4100 § 111 Nr 6). Das BVerfG hat weder Art 3 GG, so das vorlegende Gericht, noch Art 4 GG oder Art 14 GG als verletzt angesehen. Allerdings hat das BVerfG in dieser Entscheidung, die einen Fall aus dem Jahre 1983 betraf, im Rahmen der Prüfung des Art 14 GG darauf hingewiesen, daß es mit dem vom Gesetzgeber in § 111 Abs 2 AFG selbst gewählten Ansatz und dem Gebot der Normenklarheit nicht mehr vereinbar wäre, die Kirchensteuer bei der Berechnung des Nettolohns auch dann noch als „gewöhnlich” anfallenden gesetzlichen Abzug in Ansatz zu bringen, wenn die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die Kirchensteuer erhebe, nicht mehr für Arbeitnehmer als typisch angesehen werden könne. Zu einer Überprüfung durch den Gesetzgeber, ob die Kirchensteuer auch künftig noch als gewöhnlich anfallender Abzug anzusehen sei, dürfte Anlaß bestehen, weil ein großer Teil der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern keiner Kirche angehöre (BVerfGE 90, 226, 238).
Der Entscheidung ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht zu entnehmen, daß § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG bereits in der Zeit seit dem 3. Oktober 1990 bis zum Beschluß des BVerfG verfassungswidrig geworden ist. Ausgehend von der Erkenntnis, daß der Gesetzgeber mit der Qualifizierung der Kirchensteuer als einem bei Arbeitnehmern „gewöhnlich” anfallenden Abzug eine an statistische Erkenntnisse anknüpfende Regelung geschaffen hat, hat das BVerfG lediglich vorsorglich für die Zukunft darauf aufmerksam gemacht, daß der Gesetzgeber die weitere Entwicklung beobachten müsse, um wesentlichen Veränderungen rechtzeitig Rechnung tragen zu können, und hierfür jetzt Veranlassung gesehen. Nur ob die Kirchensteuer auch „künftig” noch als gewöhnlich anfallender Abzug anzusehen ist, hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 23. März 1994 Veranlassung zu einer Überprüfung durch den Gesetzgeber gesehen.
Der Senat hat den Hinweis des BVerfG als Prüfungsauftrag an den Gesetzgeber verstanden und, da es an beweiskräftigen Statistiken und Zahlen fehlt, denen zufolge die nach der Entscheidung des BVerfG jedenfalls 1983 verfassungsgemäße Vorschrift nachweisbar zu einem bestimmten Zeitpunkt verfassungswidrig geworden ist, für Zeiten vor 1994 eine Verfassungswidrigkeit nicht erkennen können (1991: Urteil vom 26. Juli 1994 – 11 RAr 103/93 – nicht veröffentlicht; 1992: SozR 3-4100 § 249e Nr 5). Für das Jahr 1994, über das aufgrund der Verwaltungsakte, die das LSG – von der Revision unbeanstandet – allein als Gegenstand des Verfahrens angesehen hat, hier ausschließlich zu entscheiden ist, gilt nichts anderes.
Aus den vom Senat (aaO) angeführten Gründen und dem vom Kläger in der Revisionsbegründung erwähnten und der Beklagten bekannten Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 9. November 1995 ergibt sich, daß die Zahl der kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer auch nach aktuellem Stand bisher nicht erhoben wird und die aus vorhandenem Datenmaterial mittelbar zu schätzenden Zahlen so große Ungenauigkeiten aufweisen, daß eine verläßliche Aussage nicht möglich erscheint. Ob deshalb, wie der Kläger meint, schon Zweifel daran bestehen, daß heute nicht mehr von einer deutlichen Mehrheit von Arbeitnehmern gesprochen werden kann, die einer kirchensteuerpflichtigen Kirchengemeinde angehören, kann dahinstehen. Solche Zweifel mögen, worüber hier nicht zu befinden ist, nach der Entscheidung des BVerfG dem Gesetzgeber verbieten, eine entsprechende Vorschrift neu zu beschließen (vgl aber § 136 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB III – Entwurf der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., jetzt BT-Drucks 13/4941 S 44), solange er die Zweifel nicht mit aussagekräftigen Daten ausräumen kann. Die bislang verfassungsgemäße Vorschrift des § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG kann jedenfalls bis zum Ablauf einer angemessenen Prüfzeit nicht allein deshalb, weil zweifelhaft geworden ist, ob die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die Kirchensteuer erhebt, für Arbeitnehmer noch typisch ist, als verfassungswidrig verworfen werden, sondern nur dann, wenn dies ersichtlich nicht mehr der Fall ist. Denn der Vorwurf, er habe einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse verfassungswidrig nicht entsprochen, kann dem Gesetzgeber nur gemacht werden, wenn dies offen zutage liegt. Zweifel oder Bedenken an der Verfassungsgemäßheit allein rechtfertigen nicht, das BVerfG gemäß Art 100 GG anzurufen. Aufgrund der bisher bekannten Daten kann aber lediglich auf eine Tendenz zum Rückgang der Zahl der kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer geschlossen werden, nicht jedoch darauf, daß evidentermaßen keine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern mehr Kirchen angehört, die Kirchensteuer erheben. Es ist nach wie vor nicht offensichtlich, daß keine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern steuererhebenden Kirchen angehört.
Auch kann dem Gesetzgeber 1994 angesichts der Datenlage nicht vorgehalten werden, von der Prüfung abgesehen zu haben, zu der er erst im Frühjahr 1994 vom BVerfG aufgerufen worden ist. Ob letzteres auch dann gilt, wenn entgegen der in dem Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 9. November 1995 mitgeteilten Absicht, den gesetzgebenden Organen im Zusammenhang mit anderen Neuregelungen die Aufhebung des § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG zum 1. Januar 1997 vorzuschlagen, weder diese Streichung erfolgt noch die zur Gewinnung aussagekräftiger Daten erforderliche Sondererhebung in Gang gesetzt wird, ist hier nicht zu entscheiden.
Der Senat hält deshalb auch für die hier zu beurteilende Zeit daran fest, daß § 111 Abs 2 Nr 2 AFG mit Art 14 GG vereinbar ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen