Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz. mangelhafte Bereifung. Zurücklegen des Weges

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Einnahme von Schlankheitstabletten, die eine große Müdigkeit hervorrufen, begründet nicht ohne weiteres eine Vermutung, daß ein Unfall auf unternehmensfremde Umstände zurückzuführen sei.

2. Sind keine unternehmensfremden Umstände erkennbar, dann ist vom Vorliegen eines Arbeitsunfalles auszugehen, wenn der Versicherte auf einer versicherten Wegstrecke einen Unfall erleidet, auch wenn er ohne fremde Beeinflussung von gerader Straße abkommt und gegen einen Baum fährt.

 

Orientierungssatz

Hat sich der Unfall wesentlich durch die im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Zurücklegung des Weges (dem Sichfortbewegen) von dem Ort der Tätigkeit ereignet (vgl BSG 1977-07-28 2 RU 15/76 = SozR 2200 § 550 Nr 35), dann ist es für die Frage des Unfallversicherungsschutzes unerheblich, ob als eigentliche Unfallursache die mangelhafte Bereifung des Unfallfahrzeuges oder eine Verkehrsgefahr in Betracht kommt.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 09.05.1979; Aktenzeichen L 4 Kr 44/78)

SG Hannover (Entscheidung vom 22.05.1978; Aktenzeichen S 11 Kr 5/78)

 

Tatbestand

Der bei der Beklagten für den Fall der Krankheit versicherte Beigeladene hatte am 31. August 1972 auf dem Wege von seinem Beschäftigungsunternehmen nach Hause mit dem Kraftwagen einen Verkehrsunfall erlitten. Die Klägerin übernahm die Heilbehandlung und zahlte Verletztengeld. Durch Bescheid vom 8. Februar 1974 lehnte sie jedoch Entschädigungsansprüche ab, weil der Beigeladene offenbar infolge des Genusses von Schlankheitstabletten am Steuer seines Autos eingeschlafen und von der Fahrbahn abgekommen sei. Die nicht betriebsbedingte Übermüdung sei die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen, so daß ein ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht bestanden habe.

Mit Schreiben vom 25. November 1975 begehrte die Klägerin von der Beklagten, ihr gemäß § 1509a Reichsversicherungsordnung (RVO) die aus Anlaß des Unfalls des Beigeladenen gemachten Aufwendungen in Höhe von insgesamt 21.903,64 DM zu ersetzen. Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Beklagte zur Zahlung dieses Betrages verurteilt (Urteil vom 22. Mai 1978). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Mai 1979). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Streitentscheidend sei die Beweislastverteilung, weil trotz Abwägung aller erreichbaren Beweismittel die Ursachen des Unfalls nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen seien. Es sei nicht wahrscheinlich, daß der Beigeladene infolge des Genusses von Schlankheitstabletten durch Übermüdung oder aus anderen Gründen verkehrsuntüchtig gewesen sei. Auch sei nicht zu beweisen, daß die mangelhafte Bereifung des Unfallfahrzeuges als Unfallursache in Betracht komme. Da eine persönlichkeitsbedingte Verkehrsuntüchtigkeit des Beigeladenen nicht zu beweisen und somit als wesentliche Unfallursache nicht wahrscheinlich sei, trage dafür die Klägerin die objektive Beweislast, weil sie sich darauf zu ihren Gunsten berufe (BSGE 6, 70, 72; 43, 110; SozR 2200 § 548 Nr 27). Nur wenn die Verkehrsuntüchtigkeit des Versicherten im Einzelfall bewiesen sei, gehe die Ungewißheit, ob daneben auch betriebliche Umstände an der Entstehung des Unfalls wesentlich mitgewirkt haben, zu Lasten des Versicherten bzw zu Lasten der Hinterbliebenen (BSGE 35, 216). Was nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Verhältnis Unfallversicherungsträger - Versicherter gelte, könne als Beweisregel im Verhältnis Unfallversicherungsträger - Krankenkasse nach § 1509a RVO nicht anders ausfallen, zumal da diese Vorschrift fordere, es müsse sich nachträglich herausstellen, daß die Krankheit nicht Folge eines Arbeitsunfalls sei. Das Vorliegen eines Arbeitsunfalls müsse also nachträglich betrachtet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sein, um den Ersatzanspruch entstehen zu lassen. Der Unfallversicherungsträger solle nur dann seine Vorleistungen ersetzt erhalten, wenn er den Unfall nicht - dh nach den im Verhältnis zum Versicherten geltenden Beweisregeln - zu entschädigen habe (BSG SozR 2200 § 1509a RVO Nr 1).

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die Ansicht des LSG, bei einem Ersatzanspruch nach § 1509a RVO müsse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein, daß kein Arbeitsunfall vorliege, sei zu eng. Im Verhältnis des Unfallversicherungsträgers sowohl gegenüber dem Verletzten als auch gegenüber dem Krankenversicherungsträger gelte in der Frage der haftungsbegründenden Kausalität die gleiche Wahrscheinlichkeit. Keinesfalls sei durch § 1509a RVO eine strengere Beweisregelung statuiert worden. Da im vorliegenden Fall der erforderliche positive Beweis für die haftungsbegründende Kausalität nicht geführt worden sei, habe sie Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 9. Mai 1979

aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen

das Urteil des SG Hannover vom 22. Mai 1978

zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das LSG zurückzuverweisen.

Sie trägt vor, daß bei dem Beigeladenen zwar ein krankheitsbedingter Leistungsabfall durch Einnahme von Schlankheitstabletten und möglicherweise auch durch die Folgen eines früheren Arbeitsunfalls bestanden habe, der Beigeladene jedoch nicht fahruntüchtig gewesen sei. Aber selbst wenn Fahruntüchtigkeit vorgelegen haben sollte, sei nicht erwiesen, daß die Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Zudem sei das etwaige Fehlen der haftungsbegründenden Kausalität für die Revision abgeschnitten, weil dem Arbeitgeber der Leistungsabfall des Beigeladenen bekanntgewesen sei, dieser aber entgegen seiner Fürsorgepflicht eine Gefährdung des Beigeladenen nicht durch entsprechende Maßnahmen abgewendet habe. Der Ersatzanspruch sei aber auch unbegründet, weil sich im vorliegenden Fall nicht nachträglich herausgestellt habe, daß kein Arbeitsunfall vorliege. Obwohl der Klägerin der Sachverhalt von Anfang an bekanntgewesen sei, habe sie sich vom Tage des Ereignisses am 31. August 1972 bis zum 25. Januar 1974 mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruches Zeit gelassen. Schließlich sei der Ersatzanspruch bei Klageerhebung nach § 223 RVO bereits verjährt gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Das LSG hat den Ersatzanspruch der Klägerin im Ergebnis zu Recht verneint.

Hat der Träger der Unfallversicherung Leistungen gewährt und stellt sich nachträglich heraus, daß die Krankheit nicht Folge eines Arbeitsunfalls ist, so hat die Krankenkasse nach § 1509a RVO zu ersetzen, was sie nach dem Recht der Krankenversicherung hätte leisten müssen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind jedoch im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Krankheit des Beigeladenen, die Anlaß zu Leistungen in Höhe von 21.903,64 DM war, ist Folge des Arbeitsunfalls vom 31. August 1972 gewesen.

Nach § 550 Satz 1 RVO in der hier noch anzuwendenden Fassung vor dem Inkrafttreten des § 15 Nr 1 des 17. Rentenanpassungsgesetzes vom 1. April 1974 (BGBl I 821) gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit den in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Wie das LSG festgestellt hat, war der Kläger bei einer Maschinenfabrik als Schweißer beschäftigt. Er gehörte aufgrund dieses Arbeitsverhältnisses zu den nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gegen Arbeitsunfall versicherten Personen. Der Unfall hat sich auf dem im unmittelbaren Anschluß an das Ende der Arbeitsschicht des Beigeladenen angetretenen direkten Weg zu dessen Wohnung ereignet. Unternehmensfremde Umstände, die den Unfall verursacht haben könnten, hat das LSG nicht festgestellt. Eine nicht unternehmensbedingte Übermüdung, die von der Klägerin als Grund für die Ablehnung des Entschädigungsanspruches gegenüber dem Beigeladenen durch Bescheid vom 8. Februar 1974 angenommen worden war, hat das LSG nicht als erwiesen angesehen. Aufgrund der vorliegenden ärztlichen Äußerungen hat es eine Übermüdung des Beigeladenen als unwahrscheinlich bezeichnet und ferner zum Ausdruck gebracht, daß auch die nach dem Unfall festgestellten Blutdruck- und Kreislaufwerte des Beigeladenen eine Verkehrsuntüchtigkeit nicht bewirkt haben könnten. Nach Meinung des LSG reichte das Abkommen von grader Straße und das Fahren gegen einen Straßenbaum gleichfalls nicht zum Nachweis einer Verkehrsuntüchtigkeit aus. Da den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfall und versicherter Tätigkeit negativ beeinflussende Umstände vom LSG nicht festgestellt sind und die Klägerin insoweit keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben hat (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), hat sich der Unfall wesentlich durch die im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Zurücklegung des Weges (dem Sichfortbewegen) von dem Ort der Tätigkeit ereignet (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nr 35). Ob als eigentliche Unfallursache die mangelhafte Bereifung des Unfallfahrzeuges oder eine Verkehrsgefahr in Betracht kommt, ist unerheblich. Der Unfall vom 31. August 1972 war somit ein Arbeitsunfall (§§ 539 Abs 1 Nr 1 iVm § 550 Satz 1 RVO).

Hat es sich aber um einen Arbeitsunfall gehandelt, für dessen Entschädigung, was hier nicht zweifelhaft sein kann, die Klägerin zuständig ist, und war die Krankheit des Beigeladenen, die die Klägerin zu Leistungen veranlaßt hat, was ebenfalls nicht zweifelhaft ist, Folge dieses Arbeitsunfalls, bedarf es keiner Entscheidung mehr über eine Beweislastverteilung. Eine Ungewißheit in bezug auf die haftungsbegründende Kausalität liegt hier ebensowenig vor wie in bezug auf die haftungsausfüllende Kausalität.

Die Revision der Klägerin mußte daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661019

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