Leitsatz (amtlich)
SGG § 145 Nr 4 gilt auch für die erste Feststellung der Dauerrente (RVO § 1585 Abs 2).
Normenkette
RVO § 1585 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15; SGG § 145 Nr. 4 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Oktober 1954 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der 1891 geborene Kläger verletzte sich am 24. Januar 1950 bei der Arbeit die linke Hand. Für die Folgen dieses Unfalls gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 40 v. H. Nach einem Gutachten der Städtischen Chirurgischen Klinik Ulm, welche die MdE. mit 20 v. H. bewertete, stellte die Beklagte durch Bescheid vom 28. Januar 1952 die erste Dauerrente in dieser Höhe vom 1. März 1952 an fest.
Der Kläger wurde in dem Verfahren über seine dagegen eingelegte Berufung von den Ärzten Dr. R, Dr. S und Dr. P untersucht und begutachtet. Dr. R schätzte die durch Unfall verursachte MdE. des Klägers auf 40 v. H.; er ging davon aus, daß der Kläger bereits vor dem Unfall in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt gewesen sei, und zwar durch ein schon von den früheren Gutachtern erwähntes bis 1938 durch Gewährung einer Rente entschädigtes Kriegsleiden, ferner durch schlechten Allgemeinzustand, Arteriosklerose und sonstige Alterserscheinungen. Dr. R schätzte die schon vor dem Unfall vorhanden gewesene MdE. auf unter 20 v. H., die Gesamt-MdE. vom 1. März 1952 an auf 60 v. H.. - Dr. S bewertete die durch Unfall verursachte MdE. wegen des Alters und des Allgemeinzustandes des Klägers mit 30 v. H. und bemerkte, bei einem jüngeren, sonst gesunden Unfallverletzten wären 25 v. H. angemessen. Auch Dr. P schätzte die MdE. auf 30 v. H. und hielt die vor dem Unfall vorhandenen Leiden für unerheblich. - Die Beklagte, die sich zur Erhöhung der ersten Dauerrente auf 30 v. H. bereit erklärt hatte, ist vom Oberversicherungsamt (OVA.) verurteilt worden, dem Kläger vom 1. März 1952 an eine Dauerrente von 40 v. H. zu gewähren.
Der fristgerecht eingelegte Rekurs, mit dem die Beklagte hauptsächlich die vorinstanzlichen Feststellungen über die vor dem Unfall anzunehmende Erwerbsbeschränkung des Klägers bemängelte, ist vom Bayerischen Landesversicherungsamt auf das Landessozialgericht (LSG.) als Berufung übergegangen. Dieses hat durch Urteil vom 7. Oktober 1954 die Berufung verworfen und die Revision zugelassen: Das als Rekurs zulässig gewesene Rechtsmittel sei ausgeschlossen durch § 145 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Auch § 150 Nr. 1 SGG, dessen Voraussetzungen - im Unterschied zu einem früher von demselben Senat entschiedenen Fall (Breithaupt 1954 S. 753) - hier an sich vorlägen, könne nicht die Zulässigkeit der Berufung bewirken. Aus dieser Vorschrift seien - im Gegensatz zu dem vom 8. Senat des Bayerischen LSG. vertretenen Standpunkt (Breithaupt 1954 S. 415) - keine rückwirkenden Schlüsse zu ziehen. Hierfür fehle es an einer besonderen Übergangsregelung im SGG. Auch nach § 150 Nr. 2 SGG sei die Berufung nicht zulässig, denn die von der Beklagten gerügten Mängel im Verfahren des OVA. seien nicht gegeben.
Gegen das am 1. Februar 1955 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. Februar 1955 Revision eingelegt und diese am 25. März 1955 begründet. Sie rügt unrichtige Anwendung der §§ 215 Abs. 3, 150 Nr. 1 und 2, 145 Nr. 4 SGG. Materiell macht sie geltend, das OVA. habe zu Unrecht bei der Beurteilung der Rentenhöhe angenommen, daß bei dem Kläger schon vor dem Unfall eine nennenswerte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit bestanden habe. Das für das OVA. maßgebende Gutachten des Dr. Rauch sei insoweit unklar. Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der Urteile des LSG. und des OVA., und unter Klagabweisung im übrigen, den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 1952 dahin abzuändern, daß die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. März 1952 ab eine Dauerrente von 30 v. H. zu gewähren hat;
hilfsweise
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit an das LSG. zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Daß die dem LSG. vorgelegene Rechtssache grundsätzliche Bedeutung gehabt habe (§ 150 Nr. 1 SGG), stellt er nicht in Abrede.
II
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§ 164 SGG).
Beim Übergang des Rechtsmittels nach § 215 Abs. 3 SGG ist, wie das Bundessozialgericht (BSG.) in ständiger Rechtsprechung erkannt hat, die Zulässigkeit sowohl nach bisherigem Recht als auch nach den Vorschriften des SGG zu prüfen (BSG. 1 S. 208, 264; 2 S. 129, 225; 3 S. 24). Hiervon abzuweichen bietet die von der Beklagten angeführte Entscheidung des großen Senats des Reichsversicherungsamts (RVA.) in AN. 1916 S. 533 Nr. 2886 keinen Anlaß; der von der Beklagten daraus hervorgehobene Satz, das RVA. habe "stets den Standpunkt angenommen, daß sich die Zulässigkeit des Rekurses nach dem Zeitpunkt der Einlegung des Rekurses bestimme", findet sich nur beiläufig in den Entscheidungsgründen. Diese betreffen im übrigen eine mit der Problematik des § 215 SGG nicht vergleichbare Sach- und Rechtslage.
Das LSG., das zutreffend davon ausgegangen ist, daß der frühere Rekurs der Beklagten nach den §§ 1699, 1700 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zulässig war, hat hiernach ebenfalls ohne Rechtsirrtum angenommen, daß das als Berufung übergegangene Rechtsmittel durch § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen gewesen ist. Entgegen der Auffassung der Beklagten betrifft nämlich der Streit um den "Grad der MdE." im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG gerade die erste Feststellung der Dauerrente nach § 1585 Abs. 2 RVO (Peters-Sautter-Wolff Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 9. Nachtr., § 145 Anm. 5 a S. III/20-2; Mellwitz, SGG 2. Aufl. § 145 Anm. 26/27 S. 263; Hofmann-Schröter, SGG, 2. Aufl. § 145 Anm. 1; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 5. Aufl. S. 250 l, m; Podzun in BG. 1955 S. 208; LSGe. Nordrhein-Westfalen und Celle in BG. 1955 S. 82; LSG. Schleswig in BG. 1955 S. 346; LSG. Celle in BG. 1955 S. 524; LSG. Nordrhein-Westfalen in Breithaupt 1955 S. 1120; LSG. Baden-Württemberg in Soz. Entsch. I/4 zu § 145, Nr. 3; a. M. Hastler, Sozialgerichtsbarkeit § 145 Anm. 4 b). Der Versuch der Beklagten, die Worte "Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit" und "wegen Änderung der Verhältnisse" unmittelbar aufeinander zu beziehen, kann sprachlich und sinngemäß nicht überzeugen. Auch für Erwägungen darüber, ob die Nachprüfbarkeit durch regelmäßig nur eine Gerichtsinstanz der weittragenden Bedeutung des ersten Dauerrentenbescheides ausreichend gerecht wird, ist bei dem eindeutigen Gesetzeswortlaut kein Raum. Um eine Gradstreitigkeit bei der ersten Feststellung der Dauerrente handelt es sich im vorliegenden Falle, da nur streitig ist, ob die MdE. für diese Rente 30 oder 40 v. H. beträgt. Auch die strittige Vorerwerbsbeschränkung des Klägers berührt ausschließlich die Höhe dieser MdE. Andere Auswirkungen - etwa auf den Jahresarbeitsverdienst nach § 938 RVO (so beim Urteil des Bayerischen LSG. vom 3.2.1955 - SGb. 1955 S. 248) - hat dieser Streitpunkt im vorliegenden Falle nicht.
Das LSG. hat jedoch verkannt, daß bei den Übergangsfällen des § 215 Abs. 3 SGG auch die Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG, und zwar sinngemäß, zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke anzuwenden ist. Den insoweit im angefochtenen Urteil vertretenen gegenteiligen Standpunkt hat das BSG. in ständiger Rechtsprechung abgelehnt (BSG. 1 S. 62, 78, 264; 2 S. 129; 3 S. 24; Sozialrecht SGG § 215 Bl. Da 4 Nr. 17, Da 13 Nr. 40). Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, diese Rechtsprechung aufzugeben. Es kommt also darauf an, ob für den vom LSG. entschiedenen Rechtsstreit die Voraussetzungen des § 150 Nr. 1 vorgelegen haben, d. h. ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung gehabt hat. Das LSG. hat diese Frage in den Gründen des angefochtenen Urteils bejaht. Diese Ausführungen sind allerdings für den erkennenden Senat nicht bindend, da sie die angefochtene Entscheidung nicht tragen. Jedoch bestehen keine durchgreifenden Bedenken dagegen, in Übereinstimmung mit dem LSG. sowie mit der Ansicht beider Beteiligter einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beizumessen, in welcher es sich ausschlaggebend darum handelt, nach welchen Gesichtspunkten den vom Unfall unabhängigen Leiden ein Einfluß auf die Höhe der Verletztenrente beizumessen ist; in der Rechtsprechung ist insoweit der Grundsatz anerkannt, daß vor dem Unfall bestehende Leiden die Folgen des Unfalls verstärken und deshalb Anlaß bieten können, die MdE. im Einzelfall höher als sonst üblich einzuschätzen (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., S. 106 Anm. 4 zu § 559 a RVO mit weiteren Nachweisen). Da das Urteil des OVA., wie die Beklagte zutreffend vorträgt, Zweifel aufkommen läßt, ob es nicht darüber hinaus auch erst nach dem Unfall eingetretene Verschlechterungen im Allgemeinzustand des Klägers bei der Schätzung der MdE. berücksichtigt hat, dürfte für das LSG. hinreichender Anlaß bestanden haben, diesen Fall im Hinblick auf die erwähnte bisherige Rechtsprechung einer grundsätzlichen Prüfung zu unterziehen.
Das LSG. hat demnach zu Unrecht eine sachliche Prüfung der durch sinngemäße Heranziehung des § 150 Nr. 1 SGG zulässigen Berufung unterlassen. Schon deshalb mußte sein Prozeßurteil aufgehoben werden. Auch die weitere Revisionsrüge, die Berufung sei bei sinngemäßer Heranziehung des § 150 Nr. 2 SGG wegen wesentlicher Mängel im Verfahren des OVA. als zulässig zu erachten gewesen, erscheint nicht abwegig. Einer abschließenden Prüfung dieser Frage bedarf es jedoch nicht, weil das Urteil des LSG. schon aus den vorstehenden Gründen aufzuheben war.
Eine Entscheidung des erkennenden Senats in der Sache selbst war nach Lage des Falles untunlich (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG. zu berücksichtigen haben, daß das Gutachten des Dr. R dem das OVA. gefolgt war, die nötige Klarheit vermissen läßt. Insbesondere unterscheidet dieser Gutachter bei den von ihm ermittelten unfallfremden Leiden des Klägers nicht deutlich genug zwischen denjenigen, die zweifelsfrei schon vor dem Unfall bestanden haben und solchen Gesundheitsstörungen, die möglicherweise erst in der Zeit zwischen dem Unfall und der Begutachtung im Oktober 1952 hinzugetreten sind. Dr. R wäre auf diese Unklarheiten hinzuweisen und müßte auch wohl zu einer abschließenden Stellungnahme - insbesondere unter Berücksichtigung der beiden anderen im Verfahren vor dem OVA. erstatteten Gutachten - aufgefordert werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen