Leitsatz (amtlich)
1. Als Neufeststellung der Rente wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des RVO § 1608 Abs 1 ist auch die Umwandlung einer vorläufigen Rente in eine Dauerrente anzusehen.
(Anschluß an RVA GrS 2849 Nr 3 in AN 1916, 314).
2. Die erweiterte Rechtsmittelwirkung des RVO § 1608 Abs 1 kam auch einem Rekurs zu, der form- und fristgerecht eingelegt, aber unstatthaft war (Abweichung von RVA GrS Nr 3134 in AN 1923, 193 und V. Rekurs-Senat in EuM 22, 123).
3. Galt einer neuer Bescheid eines Versicherungsträgers nach RVO § 1608 Abs 1 durch ein Rechtsmittel gegen einen früheren Bescheid als mitangefochten und schwebte das Verfahren hinsichtlich des Zweitbescheides am 1953-12-31 noch vor dem OVA, so konnte das nach Inkrafttreten des SGG mit dem Erstbescheid befaßte LSG das Verfahren hinsichtlich des Zweitbescheides nicht auf Grund des RVO § 1608 Abs 2 an sich ziehen.
Normenkette
RVO § 1608 Abs. 1 Fassung: 1925-07-14; SGG § 96 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1608 Abs. 2 Fassung: 1925-07-14
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 27. Mai 1955 wird insoweit aufgehoben, als es die Berufung des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. April 1952 zurückgewiesen hat.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger hat als Soldat des zweiten Weltkrieges ein Herzleiden und ein Blasenleiden davongetragen. Er bezieht deswegen eine WDB-Rente, die nach den vom Landessozialgericht (LSG.) getroffenen Feststellungen 40 v. H. beträgt. Nach einem Bescheid des Versorgungsamts Dortmund vom 18. Juli 1956, den der Kläger in Fotokopie im Revisionsverfahren vorgelegt hat, ist er infolge der angeführten Wehrdienstbeschädigung seit dem 1. August 1947 um 60 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt.
Vom 20. November 1949 an betrieb der Kläger das selbständige Gewerbe eines Schädlingsbekämpfers. Am 5. Januar 1950 stürzte er auf einem Betriebswege mit dem Motorrad und zog sich dadurch eine schmerzhafte Schultersteife mit Kraftlosigkeit in den Fingern der rechten Hand zu. Deshalb gewährte die Beklagte dem Kläger auf Grund eines Gutachtens der Chirurgischen Universitätsklinik Göttingen vom 9. Februar 1951, das von dem Assistenzarzt Dr. K. erstattet und von dem Direktor der Klinik, Prof. Dr. H. auf Grund eigener Untersuchung und Urteilsbildung gebilligt und mitgezeichnet worden ist, durch Bescheid vom 21. März 1951 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 30 v. H. von der 27. Woche nach dem Unfall bis zum 6. Oktober 1950 und von 20 v. H. für die Folgezeit.
Der Kläger sah diese Rente nicht als ausreichende Entschädigung an. Er hat den Bescheid der Beklagten mit der Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) Hildesheim angegriffen und Zahlung der Vollrente vom Unfalltag bis zur Erlangung eines Arbeitsplatzes, die individuelle Festsetzung des Grades der MdE., Zahlung eines Kindergeldes und Hilfe durch die Berufsfürsorge zur Erlangung eines Arbeitsplatzes begehrt. Das OVA. hat die Berufung durch Urteil vom 14. August 1951 als unbegründet zurückgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger binnen Monatsfrist insoweit Rekurs eingelegt, als ihm die nachgesuchte Rente versagt worden ist. Mit Schreiben vom 3. Mai 1952 an das OVA. hat er gebeten, sein Rechtsmittel als weitere Berufung zum Oberverwaltungsgericht (OVG.) Lüneburg anzusehen. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat das OVG. die Sache an das LSG. Celle abgegeben.
Vor dem OVG. und dem LSG. hat der Kläger vorgebracht: Er sei infolge des Unfalls bis Mitte März 1951 arbeitsunfähig und somit auch erwerbsunfähig gewesen. Dies ergebe sich aus von ihm vorgelegten Bescheinigungen des praktischen Arztes Dr. Sch vom 22. Februar 1952 und der Allgemeinen Ortskrankenkasse Northeim vom 17. Januar 1952. Für die spätere Zeit betrage die MdE. 50 v. H. Die niedriger liegende Schätzung der Sachverständigen Prof. Dr. H. und Dr. K. werde den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht. Außerdem sei die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit unrichtigerweise an der normalen anstatt an der individuellen Erwerbsfähigkeit gemessen worden. Da seine individuelle Erwerbsfähigkeit infolge seines Kriegsleidens nur noch 60 v. H. der normalen Erwerbsfähigkeit betragen habe und diese nach dem Gutachten der Chirurgischen Universitätsklinik durch den Unfall zunächst um 30 v. H., später um 20 v. H. gemindert gewesen sei, müsse die für die Rentenfeststellung maßgebende MdE. jedenfalls auf 50 v. H. bzw. 33 1/3 v. H. festgesetzt werden.
Demgegenüber hat die Beklagte die Auffassung vertreten, sowohl die Sachverständigen der Universitätsklinik als auch das OVA. seien bei der Bewertung der MdE. des Klägers nicht von der normalen, sondern von der individuellen Erwerbsfähigkeit ausgegangen.
Durch Bescheid vom 25. April 1952, also nach Einlegung der weiteren Berufung durch den Kläger, setzte die Beklagte die zuletzt gewährte vorläufige Rente von 20 v. H. vom 1. Mai 1952 an als Dauerrente fest.
Diesen Bescheid hat das LSG. in sein Verfahren einbezogen. Es hat am 27. Mai 1955 "die Berufung des Klägers gegen das Urteil des OVA. Hildesheim vom 14. August 1951 verworfen und gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. April 1952 zurückgewiesen." Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG. ausgeführt: Hinsichtlich des Erstbescheides sei die Berufung nicht statthaft, weil das Urteil des OVA. als eine Entscheidung, die ausschließlich eine vorläufige Rente betreffe, nach § 1700 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht mit dem Rekurs und nach § 145 Nr. 3 SGG auch nicht mit der Berufung anfechtbar sei. Der Dauerrentenbescheid vom 25. April 1952 sei trotz Unzulässigkeit der Berufung hinsichtlich des Erstbescheides gemäß § 96 in Verbindung mit § 153 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Insoweit sei die Berufung jedoch unbegründet, denn der vom Kläger gerügte Verstoß gegen den Grundsatz, daß von der individuellen Erwerbsfähigkeit ausgegangen werden müsse, liege nicht vor. Es könne unterstellt werden, daß ein so erfahrener Sachverständiger wie Prof. Dr. H. die Vorbeschränkung des Klägers berücksichtigt habe, daß er also mit seiner Schätzung von 20 v. H. die Minderung der individuellen Erwerbsfähigkeit meine.
Gegen das ihm am 23. Juni 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. Juli 1955 Revision eingelegt und diese am 23. August 1955 begründet.
Nachdem er ursprünglich einen weiter gehenden Antrag gestellt hatte, beantragt er nunmehr,
unter Änderung des Urteils des LSG. Celle vom 27. Mai 1955 und des Bescheides der Beklagten vom 25. April 1952 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Mai 1952 an eine Dauerrente nach einer MdE. von 50 v. H. zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Revision sieht einen Verstoß gegen § 128 Abs. 1 und § 103 SGG und damit einen wesentlichen Mangel des Verfahrens darin, daß das LSG. unterstellt hat, die Sachverständigen Prof. Dr. H. und Dr. K. hätten bei der Schätzung der durch den Unfall verursachten MdE. die Vorbeschränkung berücksichtigt. Die Revision meint, das LSG. hätte eine Rückfrage bei den Sachverständigen halten müssen.
Die Beklagte tritt diesen Ausführungen entgegen.
Sie beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
II
Die Revision greift das Urteil des LSG. Celle nur insoweit an, als es die Berufung des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. April 1952 zurückgewiesen hat.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; denn die erhobene Verfahrensrüge ist gerechtfertigt. Ist ein Unfallverletzter vorbeschädigt, so ist bei der Feststellung der auf dem Unfall beruhenden MdE. - diese Auffassung wird von beiden Beteiligten geteilt - von der Erwerbsfähigkeit des Verletzten im Zeitpunkt des Unfalls auszugehen, also von seiner unter Berücksichtigung der Vorbeschädigung verbliebenen individuellen, nicht von einer allgemeinen Erwerbsfähigkeit (vgl. Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., Stand 15. März 1957, S. 568, mit Zitaten aus der Rechtsprechung des RVA.). Ob die Schätzungen der Sachverständigen Prof. Dr. H. und Dr. K. in diesem Sinne zu verstehen sind, ist nach der Auffassung des Senats zweifelhaft. Auf den Seiten 2 und 7 ihres Gutachtens vom 9. Februar 1951 ist zwar die Kriegsdienstbeschädigung in der "Vorgeschichte" und in der "Beurteilung" erwähnt, bei der abschließenden Schätzung des Grades der MdE. ist aber nicht - wie dies bei formularmäßigen Rentengutachten zu geschehen pflegt - klargestellt, ob die angegebenen Vomhundertsätze sich auf die allgemeine oder auf die individuelle Erwerbsfähigkeit des Klägers beziehen. Daß die Schätzung im letzteren Sinne zu verstehen sei, ist nicht selbstverständlich; es läßt sich nicht ausschließen, daß die Sachverständigen ihre die Grundlage für die Rechtsfindung bildende Tätigkeit mit der schon das Aufgabengebiet des Richters berührenden Bewertung der allgemeinen Erwerbsfähigkeit als abgeschlossen ansahen und es dem Richter überlassen wollten, die ihm ohne Schwierigkeiten mögliche Umwertung auf die individuelle Erwerbsfähigkeit vorzunehmen. Zu Zweifeln an der Richtigkeit der Unterstellung des LSG. konnten auch die Bescheinigungen des Dr. Sch. und der AOK. Northeim Anlaß geben, die der Kläger in der Berufungsinstanz mit Schriftsatz vom 20. September 1952 vorgelegt hat. Nach der Bescheinigung des Dr. Sch. war der Kläger jedenfalls bis März 1951 arbeitsunfähig. Bei der gegebenen Sachlage hätte das LSG. die sich aufdrängenden und vom Kläger auch bereits im Berufungsrechtszuge zum Ausdruck gebrachten Zweifel durch eine Rückfrage bei den Sachverständigen beheben müssen. Die Unterstellung, die Sachverständigen hätten die individuelle MdE. gemeint, bedeutet einen Verstoß gegen §§ 128, 103 SGG und damit einen wesentlichen Mangel des Verfahrens.
Den Mangel hat der Kläger den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechend gerügt. Die Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist somit zulässig.
III
Obwohl die Revision nicht in Zweifel gezogen hat, daß das LSG. berechtigt gewesen sei, sich mit dem Dauerrentenbescheid vom 25. April 1952 zu befassen, mußte der Senat diese Frage prüfen; denn ihre Verneinung bedeutet, daß es an einer Prozeßvoraussetzung für den vorliegenden Rechtsstreit, soweit er nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, fehlt (vgl. BSG. 2 S. 225 (226)).
Die Auffassung des Vorderrichters, daß der Bescheid vom 25. April 1952 auf Grund des § 96 in Verb. mit § 153 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sei, trifft nicht zu. § 96 SGG ist, wie auch der 5. und 8. Senat des BSG. entschieden haben, nicht anwendbar, wenn der ändernde oder ersetzende Verwaltungsakt vor dem 31. Dezember 1953 ergangen ist (5. Senat in SozR SGG § 96 Bl. Da 1 Nr. 1 und 8. Senat vom 14.2.1957 - 8 RV 691/55 -). Dies folgt insbesondere daraus, daß es eine Klagerhebung im technischen Sinne vor dem 31. Dezember 1953 nicht gab, aber auch aus dem Fehlen einer Übergangsvorschrift, die erforderlich gewesen wäre, um Unzuträglichkeiten aus einer Kollision zwischen § 96 SGG und § 1608 Abs. 1 RVO entgegenzuwirken (so auch Bayer. LSG. im Bayer. Amtsbl. 1954 Nr. 13 S. B 144 und LSG. Celle in Ns. Min. Bl. 1956 Rspr. Beil. S. 38; a. A. Bayer. LSG. in Sgb. 1954 S. 205 und LSG. Berlin in Breith. 1955 S. 896).
Auch § 1608 RVO bot dem LSG. keine Handhabe, über den Dauerrentenbescheid zu entscheiden, obwohl die Voraussetzungen, unter denen § 1608 Abs. 1 RVO dem gegen einen früheren Bescheid eingelegten Rechtsmittel die Wirkung verleiht, daß auch ein neuer Bescheid als angefochten gilt, nach der Auffassung des Senats gegeben waren.
§ 1608 Abs. 1 RVO setzt einen neuen Bescheid voraus, durch den die Rente "wegen Änderung der Verhältnisse" neu festgestellt wird. Diesem Begriff hat das RVA. nicht die gleiche Bedeutung beigelegt wie dem Begriff der "wesentlichen Änderung der Verhältnisse" nach § 608 RVO. Es hat § 1608 RVO unter Hinweis auf den Zweck der Vorschrift, dem Verletzten einen möglichst wirksamen Schutz gegen den Verlust von Rechtsmitteln zu gewähren, auch auf einen Bescheid angewendet, durch den die Rente in der früheren Höhe als erste Dauerrente festgesetzt wurde; in einem solchen Falle hat es in dem Eintritt des Beharrungszustandes eine Änderung der Verhältnisse gesehen (AN. 1916 S. 314 und 1918 S. 364; RVO-Mitgl. Komm., 2. Aufl., § 1608 Anm. 3). Dieser Rechtsprechung hat sich der Senat angeschlossen.
Auch die weitere Voraussetzung, daß die frühere Entscheidung noch nicht rechtskräftig geworden war, als der neue Bescheid erteilt wurde, hat der Senat als erfüllt angesehen. Gegen den Erstbescheid war rechtzeitig Rekurs eingelegt worden; allerdings war das Rechtsmittel, wie der Vorderrichter zutreffend ausgeführt hat, nach § 1700 Nr. 7 RVO ausgeschlossen, weil der angefochtene Bescheid eine vorläufige Rente betraf. In der Frage, ob auch unzulässigen Rekursen die erweiterte Rechtsmittelwirkung des § 1608 Abs. 1 RVO zuzuerkennen ist, war die Rechtsprechung des RVA. Wandlungen unterworfen. Der Große Senat hat die Frage in seiner grunds . Entscheidung Nr. 2849 (AN. 1916 S. 314) mit Rücksicht auf das Erfordernis des Vertrauensschutzes bejaht. Darin hat er ausgeführt, der mit den gesetzlichen Vorschriften nicht vertraute Arbeiter werde zumeist die Zulässigkeit des Rekurses nicht zu beurteilen vermögen und glauben, daß der von ihm eingelegte Rekurs die Nachprüfung seines Rentenanspruchs durch die höhere Instanz im ganzen Umfang, also auch hinsichtlich des zweiten Bescheides, zur Folge haben werde. Später ist das RVA. von dieser Rechtsprechung abgewichen. In der grunds . Entscheidung Nr. 3054 (AN. 1921 S. 152) hat der Große Senat zunächst einem verspäteten Rekurs die erweiterte Rechtsmittelwirkung versagt, weil jedenfalls in diesem Falle kein Schutzbedürfnis bestehe, alsdann hat er in der grunds . Entscheidung Nr. 3134 jedem unzulässigen Rekurs die Wirkung des § 1608 Abs. 1 RVO mit der Begründung abgesprochen (AN. 1923 S. 193), daß eine Entscheidung, gegen die kein Rechtsmittel mehr zulässig sei, rechtskräftig sei und die Rechtskraft nicht dadurch wieder beseitigt werden könne, daß trotzdem in unstatthafter Weise ein Rechtsmittel eingelegt werde. In dieser Entscheidung sind keine Ausführungen darüber enthalten, in welchem Zeitpunkt Urteile der Oberversicherungsämter, die aus einem der in § 1700 RVO angeführten Gründe ausnahmsweise nicht mit dem Rekurs angefochten werden können, Rechtskraft erlangen. Mit dieser Frage hat sich das RVA. in der zu § 1700 Nr. 8 RVO ergangenen grunds . Entscheidung Nr. 3275 (AN. 1927 S. 421) befaßt und sie in Anlehnung an die Rechtsprechung und Rechtslehre zu § 705 ZPO mit eingehender Begründung dahin beantwortet, daß Urteile der Oberversicherungsämter auch in den Fällen des § 1700 RVO nicht vor Ablauf der Rekursfrist rechtskräftig werden und daß der Eintritt der Rechtskraft durch die rechtzeitige Einlegung des Rekurses gehemmt werde. Dieser Auffassung ist der Senat in Übereinstimmung mit BSG. 1 S. 204 beigetreten. Sie entspricht der herrschenden Meinung über den Eintritt der Rechtskraft zivilprozessualer Urteile (Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Komm. zur ZPO, 18. Aufl., § 705 Anm. II, 1; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 703; zustimmend für die Soz. Vers. Brackmann a. a. O. S. 256 mit weiteren Nachweisen). Hiernach erlangt ein Bescheid des Versicherungsträgers, wenn die Berufungsentscheidung des OVA. rechtzeitig mit einem unstatthaften Rekurs angefochten worden ist, keine Rechtskraft, solange nicht die höhere Instanz über die Zulässigkeit des Rekurses entschieden hat. Bis zum Erlaß dieser Entscheidung ist der in unstatthafter Weise eingelegte Rekurs infolgedessen geeignet, die erweiterte Rechtsmittelwirkung des § 1608 Abs. 1 RVO nach sich zu ziehen.
Eine andere Auffassung läßt sich auch nicht daraus herleiten, daß dem Berechtigten nach dem durch das Zweite Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl. I S. 97) eingefügten § 1608 Abs. 3 RVO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen ist, wenn er es mit Rücksicht auf ein gegen den früheren Bescheid eingelegtes Rechtsmittel versäumt hat, gegen den neuen Bescheid ein Rechtsmittel einzulegen, das eingelegte Rechtsmittel aber unzulässig war und er dies infolge entschuldbaren Irrtums nicht wußte. § 1608 Abs. 3 RVO ist bei der zweiten Lesung des angeführten Gesetzentwurfs im 9. Reichstagsausschuß (Soziale Angelegenheiten) eingefügt worden. Über die Gründe dieser Einfügung läßt sich den Gesetzesmaterialien nichts entnehmen (vgl. Verhandlungen des Reichstags, II. Wahlperiode 1924, Bd. 402, Nr. 1060 S. 26, 165, 214). In der Entscheidung des V. Rekurssenats des RVA. vom 26. März 1927 (EuM. 22 S. 123 (124)), die sich der o. a. grunds . Entscheidung Nr. 3134 des Großen Senats anschließt, wird ausgeführt, die Einfügung hätte keinen Sinn und wäre überflüssig, wenn einem unzulässig erhobenen Rekurs die erweiterte Rechtsmittelwirkung gegenüber einem später im Laufe des Rekursverfahrens ergangenen neuen Bescheid zugestanden würde. Dieser Auffassung ist der Senat nicht gefolgt. Es fehlt an jedem Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber des Zweiten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 § 1608 Abs. 1 RVO durch Einfügung des Abs. 3 im Sinne der Meinung des V. Rekurssenats authentisch interpretieren wollte. Näher liegt die Annahme, daß für die Regelung des Abs. 3 keine Veranlassung bestand, solange der Vertrauensschutz für den Verletzten durch die angeführte ältere Rechtsprechung des RVA. zu § 1608 Abs. 1 RVO sichergestellt war, daß aber eine gesetzliche Abhilfe geboten erschien, nachdem durch die grunds . Entscheidung Nr. 3134 vom 7. Mai 1923 offenkundig geworden war, welchen Nachteilen der Versicherte infolge der Schwierigkeit, die Zulässigkeit des Rekurses richtig zu beurteilen, ausgesetzt war. Die Einfügung des Abs. 3 ist daher eher unter dem Gesichtspunkt einer vorsorglichen gesetzlichen Regelung für den Fall zu betrachten, daß sich aus der grunds . Entscheidung Nr. 3134 eine ständige Rechtsprechung des RVA. entwickelte. Im übrigen könnte der Vertrauensschutz des Versicherten, wenn man § 1608 Abs. 1 RVO im Sinne der vom Senat abgelehnten Auffassung auslegt, durch den eingefügten Abs. 3 nur unvollkommen sichergestellt werden. Die Verweisung auf §§ 131 bis 134 RVO hat zur Folge, daß auch § 132 Abs. 3 RVO anzuwenden, also nach Ablauf von zwei Jahren keine Wiedereinsetzung mehr möglich ist. Der Versicherte wäre also bei einer Verfahrensdauer von mehr als zwei Jahren ohne Schutz.
Die vom Senat vertretene Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG. zu der weitgehend auf dem Grundgedanken des § 1608 RVO beruhenden Vorschrift des § 96 SGG. Nach dieser Rechtsprechung wird unter bestimmten Voraussetzungen ein während des Berufungsverfahrens erlassener neuer Verwaltungsakt auch dann Gegenstand des rechtshängigen Verfahrens, wenn die Berufung gegen den früheren Bescheid unstatthaft ist (vgl. BSG. 4 S. 24 und vom 28.5.1957 - 2 RU 18/55 -).
Nach alledem hatte der rechtzeitig eingelegte, aber unstatthafte Rekurs des Klägers zur Folge, daß der Dauerrentenbescheid vom 25. April 1952 Gegenstand eines Verfahrens vor dem OVA. Hildesheim geworden ist. Ob das OVG. Lüneburg als die Stelle, die bis zum Inkrafttreten des SGG berufen war, über das Rechtsmittel des Klägers zu entscheiden, das Verfahren über den Dauerrentenbescheid auf Grund des § 1608 Abs. 2 RVO hätte an sich ziehen können, braucht nicht entschieden zu werden, weil das OVG. eine solche Maßnahme nicht getroffen hat. Das Verfahren über den Dauerrentenbescheid hat demnach bis zum Inkrafttreten des SGG vor dem OVA. geschwebt und ist mit diesem Zeitpunkt gemäß § 215 Abs. 2 und 4 SGG als Klage auf das Sozialgericht Hildesheim übergegangen. Das LSG. konnte das Verfahren nicht auf Grund des § 1608 Abs. 2 RVO an sich ziehen, weil diese Vorschrift am 1.1.1954 durch die Neuregelung des § 96 SGG abgelöst worden, also außer Kraft getreten ist (§ 224 Abs. 3 SGG) und eine entsprechende Übergangsvorschrift im SGG nicht enthalten ist (so auch BSG. vom 14.2.1957 - 8 RV 691/55 -). Das LSG. hat also in unzulässiger Weise über einen anderweitig, nämlich beim SG. Hildesheim, rechtshängigen Anspruch entschieden. Hierin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, der von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Die anderweitige Rechtshängigkeit ist negative Prozeßvoraussetzung; ihre Nichtbeachtung bedeutet einen in der Revisionsinstanz fortwirkenden, dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufenden Verstoß gegen prozeßrechtliche Grundsätze, deren Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist (vgl. BSG. 1 S. 158 und 2 S. 253; Brackmann a. a. O. S. 250 w; Rosenberg a. a. O. S. 408 und 465; Stein-Jonas-Schönke-Pohle a. a. O. § 274 Anm. I 2 a; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 24. Aufl., § 263 Anm. 4 und § 274 Anm. 5; RGZ 160 S. 338 (344)).
IV
Der festgestellte Verfahrensmangel mußte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen, soweit die Berufung des Klägers gegen den Bescheid des Beklagten vom 25. April 1952 zurückgewiesen worden ist. Für eine ersetzende Entscheidung des Senats war kein Raum. Zur Verhandlung und Entscheidung des noch nicht rechtskräftig erledigten Teils des Rechtsstreits ist das SG. Hildesheim berufen, bei dem das Verfahren seit dem 1.1.1954 schwebt.
Gemäß § 193 SGG hat der Senat ausgesprochen, daß die Beklagte dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten hat, weil die Revision des Klägers zur Aufhebung des unzutreffenden Teils des angefochtenen Urteils geführt, also Erfolg gehabt hat. Mit den ihm im Berufungsverfahren entstandenen Kosten bleibt der Kläger belastet, weil seine Berufung gegen das Urteil des OVA. erfolglos war.
Fundstellen