Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 23.01.1957)

SG Frankfurt am Main (Teilurteil vom 23.10.1956)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 1957 in vollem Umfang, das Teilurteil des Sozialgerichts Frankfurt/M. vom 23. Oktober 1956 insoweit aufgehoben, als es die Beitragsforderung der Beklagten für den Beigeladenen N. als begründet angesehen hat. Der Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 1952 wird auch insoweit aufgehoben, als er die Beiträge für den Beigeladenen N. für die Zeit vom 1. Januar 1951 an betrifft.

Die Beklagte hat dem Beigeladenen N. die ihm erwachsenen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits, der Klägerin die ihr durch den Streit über die Beitragspflicht des Beigeladenen N. entstandenen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

I.

Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) forderte mit Bescheid vom 16. Dezember 1952 von der Klägerin für 26 Milchsammler, u. a. auch für den Beigeladenen N. die Nachzahlung von Beiträgen zur Kranken-, Invaliden- und Arbeitslosenversicherung für die Zeit vom 1. Januar 1950 bis 30. November 1952 in Höhe von 24.468,23 DM, weil diese Milchsammler in einem persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zur Klägerin stünden und somit versicherungspflichtig seien. Für den Milchsammler N. den Beigeladenen zu 2), berechnete die Beklagte die Gesamtsozialversicherungsbeiträge nach einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 140,– DM. Der Streit über die Beitragspflicht, der zunächst beim Versicherungsamt anhängig war (§405 ReichsversicherungsordnungRVO –), ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht (SG) Frankfurt a.M. über; dieses verfügte die getrennte Verhandlung über die für den Beigeladenen N. zu entrichtenden Beiträge.

Der Milchsammler N. der in N. einen landwirtschaftlichen Betrieb von ca. 5 ha selbst bewirtschaftet, ist nach einem auf 10 Jahre mit der Klägerin abgeschlossenen Vertrag verpflichtet, die gesamte Milch seines Ortes zu erfassen, zu sammeln, zu kühlen und nach den Vorschriften des Milchgesetzes pfleglich zu behandeln. Er hat bei der Abnahme der Milch die genaue Menge jedes Erzeugers festzustellen, einzutragen und sie zur Abholung durch die Molkerei bereitzuhalten; Fehlmengen gehen dabei zu seinen Lasten. Außerdem muß er im Namen und für Rechnung der Molkerei den Milcherzeugern Magermilch, Futtermilch und Butter nach den Anweisungen der Molkerei aushändigen. Er hat für die Reinigung der Kannen zu sorgen und haftet der Molkerei für Kannenverluste. Pur seine Tätigkeit erhält er je Liter abgelieferter Milch bis zu 6 000 Liter 1 Pfennig, bis zu 12 000 Liter 0,9 Pfennig und für die Butterverteilung 0,4 Pfennig je Kilogramm. Die Tätigkeit als Milchsammler nimmt den Beigeladenen Niederhäuser täglich etwa 1 bis 1 1/2 Stunden in Anspruch. Er hat der Klägerin auf Grund eines am 22. Mai 1948 abgeschlossenen Mietvertrages einen auf seinem Hof gelegenen, als Milchsammelstelle eingerichteten Raum für 3,– DM monatlich vermietet; dieser ist u.a. mit einem von der Klägerin zur Verfügung gestellten Milchkühler und zwei Meßeimern ausgestattet.

Mit Teilurteil vom 23. Oktober 1956 änderte das SG den Bescheid der Beklagten in bezug auf den Beigeladenen N. dahin, daß von der Klägerin vom 1. Januar 1951 an Beiträge zur Kranken- und Invalidenversicherung nach Maßgabe der an N. zahlten Sammler- und Verteilerprovision abzüglich der ihm durch die Instandhaltung der Sammelstelle und die Reinigung der Gerätschaften erwachsenen Unkosten zu entrichten sind. Das SG führte zur Begründung aus, N. in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis, denn er sei in die Betriebsorganisation der Klägerin eingeordnet und unterstehe ihrem Direktionsrecht. Da es sich aber um eine geringfügige Beschäftigung im Sinne des §75 a des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) aF handele, bestehe Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung. Der Anspruch auf Beitragsrückstände für die Zeit bis 31. Dezember 1950 sei verjährt.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die gegen dieses Urteil von der Klägerin eingelegte Berufung mit Urteil vom 23. Januar 1957 unter Zulassung der Revision zurück: Die persönliche Abhängigkeit und damit die Versicherungspflicht des Beigeladenen N. ergebe sich daraus, daß ihm bestimmte Tätigkeiten vorgeschrieben seien, daß er durch die Ausübung dieser Verrichtungen in den Betrieb der klagenden Genossenschaft eingegliedert sei und über seine Arbeitszeit nicht frei bestimmen könne. Daran ändere es auch nichts, daß eine feste Arbeitszeit nicht vorgeschrieben sei, der Beigeladene zu 2) sich vielmehr den Melkgewohnheiten der Milcherzeuger anzupassen habe.

Mit ihrer am 9. Mai 1957 gegen das am 13. April 1957 zugestellte Urteil eingelegten Revision beantragt die Klägerin, unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Beitragsbescheid der Beklagten vom 16. Dezember 1952 in bezug auf den Beigeladenen N. in vollem Umfang aufzuheben. Sie rügt eine Verletzung der §§165, 1226 aF RVO.

Die beklagte AOK und die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) beantragen, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet.

Der Beigeladene N. steht als Milchsammler nicht in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis (§§165, 1226 RVO aF). Ein solches abhängiges Beschäftigungsverhältnis wird vor allem durch die Eingliederung des Arbeitenden in den Betrieb und seine Unterstellung unter das Direktionsrecht des Betriebsinhabers gekennzeichnet, wobei es für die Beurteilung der Versicherungspflicht auf das Gesamtbild der Tätigkeit ankommt (vgl. BSG 3, 30, 35; 8, 278, 282; 11, 257, 259 ff; BSG SozR RVO §165 Bl. Aa 6 Nr. 8, Aa 11 Nr. 16).

Der Milchsammler N. ist nicht an Einzelweisungen der Klägerin in bezug auf die Ausführung seiner Arbeit gebunden, wenn auch in dem zwischen ihm und der Klägerin abgeschlossenen Vertrag seine Pflichten eingehend geregelt wurden. Die vertraglichen Vereinbarungen, wonach N. die gesamte Milch seines Ortes zu sammeln, zu kühlen, die Milchmenge festzustellen und einzutragen, saure Milch in besondere Kannen zu füllen, von den Erzeugern bestellte Milcherzeugnisse zu verteilen, das Kannenmaterial zu säubern hat u. a.m., beschreiben nur den von N. übernommenen Pflichtenkreis; sie regeln aber den Arbeitsablauf nicht derartig, daß Niederhäuser in der Gestaltung der von ihm vertraglich übernommenen Tätigkeit nicht mehr frei, sondern in bezug auf die Ausführung seiner Arbeit an Weisungen der klagenden Genossenschaft gebunden gewesen wäre (vgl. BSG 13, 196, 200 f). Im übrigen wiederholen diese Vertragsbestimmungen zu einem wesentlichen Teil nur die dem Beigeladenen N. nach §§6, 7, 8 des Milchgesetzes vom 31. Juli 1930 (BGBl I, 421) i. d. F. vom 20. Juli 1933 (RGBl I, 143, 327) als Milchsammler obliegenden Pflichten. Die dem Beigeladenen N. darüber hinaus obliegenden vertraglichen Pflichten – so die Feststellung und Eintragung der abgelieferten Milchmenge – dienen dem Abrechnungsverfahrens, durch das das Milchgeld der einzelnen Erzeuger und die „Provision” des N. ermittelt werden. Abgesehen von dieser im Interesse eines geregelten Geschäftsablaufs festgelegten Abgrenzung der pflichten des Milchsammlers hat die Klägerin diesem nur in einem Falle eine – schriftliche – Anweisung (betreffend die Behandlung „ansaurer Rohmilch”) erteilt, die jedoch für sich allein den Schluß auf eine Weisungsgebundenheit des Milchsammlers nicht zuläßt. Gegen eine Eingliederung in den Betrieb der Klägerin spricht, daß N. sich zur Erfüllung seiner Verpflichtungen der Hilfe seiner Familienangehörigen bedienen kann und an keine feste Arbeitszeit gebunden ist. Zwar ist er in seiner Zeiteinteilung nicht völlig frei, da er sich bei seiner Sammlertätigkeit nach den Melkzeiten der Erzeuger und den Abholzeiten der Klägerin richten muß. Diese zeitliche Bindung beruht jedoch nicht auf einem Direktionsrecht der Klägerin, sondern folgt zwangsläufig aus der Art der Tätigkeit des Milchsammlers.

Die Zuweisung eines bestimmten Sammelgebietes und die damit gegebene Aufgabenzuteilung und andererseits Beschränkung der Tätigkeit des Milchsammlers ist ebenfalls nicht Ausfluß eines Direktionsrechts der Klägerin 9 sondern kann ungezwungen als allein schuldrechtliche Regelung der Tätigkeit des Milchsammlers verstanden werden; es liegt in der Art der vertraglich übernommenen Aufgabe, daß die Einzugsgebiete der verschiedenen, für ein und dieselbe Molkerei tätigen Milchsammelstellen voneinander abgegrenzt werden. Auch das Gesetz über den Verkehr mit Milch, Milcherzeugnissen und Fetten vom 28. Februar 1951 (BGBl I, 135) i.d.F. vom 10. Dezember 1952 (BGBl I, 811) sieht die Möglichkeit vor, daß die oberste Landesbehörde die sich auf die Molkereien nach §1 beziehende Annahmeverpflichtung auf die Milchsammelstellen erstrecken und somit ein Einzugsgebiet auch für die Milchsammelstellen festlegen kann (vgl. §§1, 3 des Milch- und Fettgesetzes). N. übt zwar seine Tätigkeit als Milchsammler in einem eigenen, aber für einen Betrag von monatlich 3,– DM an die Klägerin vermieteten und als Sammelstelle eingerichteten Raum aus. Da er von diesem geringfügigen „Mietzins” die Kosten für den Strom- und Wasserverbrauch begleichen muß, mithin dem Mietverhältnis wirtschaftlich keine Bedeutung beigemessen werden kann, vermag es die Selbständigkeit der Stellung des Beigeladenen N. nicht entscheidend zu beeinflussen. Jedenfalls kann aus der mietweisen Überlassung dieses Raumes und aus dem Fehlen größerer Betriebsmittel bei der Beurteilung des Gesamtbildes der von dem Beigeladenen übernommenen Pflichten nicht auf seine Unselbständigkeit geschlossen werden.

Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der Stellung des Milchsammlers ist seine im Vertrage vorgesehene Haftung für Kannenverluste und die Vereinbarung, daß Fehlmengen bei der Milchablieferung zu seinen Lasten gehen (§§3 und 7 des Vertrages). Diese vertragliche Regelung zeigt, daß N. nicht nur mit einem – je nach Milchanfall – schwankenden Verdienst rechnen muß 9 sondern auch mit einem echten, wenn auch nicht großen Unternehmerrisiko belastet ist. Entgegen der Ansicht des LSG handelt es sich dabei nicht um eine Mankohaftung eines abhängig Beschäftigten; eine solche Mankohaftung wird in der Regel auf schuldhaftes Handeln des Arbeitnehmers beschränkt (vgl. Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Erster Band, 6. Aufl. 1959 S. 211, Fußnote 33) oder es wird eine der gesteigerten Haftung entsprechende höhere Vergütung gewährt (vgl. Nikisch, Arbeitsrecht, Erster Band, 3. Aufl. S. 191, 304; vgl. auch Kaskel-Dersch, Arbeitsrecht, 5. Aufl. S. 145 f). Der mit der Genossenschaft geschlossene Vertrag läßt aber nicht erkennen, daß N. eine der gesteigerten Haftung entsprechende höhere Vergütung erhält. Abgesehen davon, daß er bei Fehlmengen – ohne Rücksicht auf sein Verschulden – für den entstandenen Schaden aufkommen muß, mindert sich in diesem Falle auch noch sein Verdienst entsprechend der geringeren Milchablieferung.

Das Gesamtbild der Stellung des Milchsammlers N. gegenüber der Molkereigenossenschaft wird auch dadurch als selbständig gekennzeichnet, daß sein Vertrag auf die für einen Arbeitsvertrag nicht leitender Arbeitskräfte ganz ungewöhnlich lange Dauer von 10 Jahren abgeschlossen und für die Erledigung von Streitigkeiten ein Schiedsgericht vereinbart ist. Der damit gekennzeichneten selbständigen Stellung des Milchsammlers entspricht es, daß er den Betriebsangehörigen der Klägerin in bezug auf Entlohnung, Urlaub sowie Teilnahme an den sozialen Einrichtungen des Betriebs nicht gleichgestellt ist, vielmehr gegenüber der „Belegschaft” des Betriebes eine Sonderstellung einnimmt.

Da bei Abwägung aller Umstände nach dem Gesamtbild der Stellung des Beigeladenen N. persönliches Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der Klägerin nicht vorliegt, besteht keine Versicherungspflicht zur Kranken- und Rentenversicherung. Das Urteil des LSG war daher in vollem Umfang, das Urteil des SG, soweit es die Beitragsforderungen als begründet angesehen hat, und der Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 1952, auch soweit er die Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 1951 an betrifft, aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Bogs, Dr. Langkeit, Richter

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926335

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