Leitsatz (amtlich)

Soweit die Wartezeitfiktion des RVO § 1252 Abs 2 vom Eintritt des Versicherungsfalles (der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes) innerhalb von sechs Jahren "nach Beendigung einer Ausbildung" abhängt, ist - sinn- und sachgerecht - nur an eine Ausbildung anzuknüpfen, welche die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung verhindert hat. Ein Versicherter, der neben seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung einen Lehrgang absolviert hat, erfüllt diese Voraussetzung nicht.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff "Ausbildung" iS von RVO § 1252 Abs 2.

 

Normenkette

RVO § 1252 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 11.09.1978; Aktenzeichen L 2 J 249/77)

SG Speyer (Entscheidung vom 28.10.1977; Aktenzeichen S 16 J 90/77)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. September 1978 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 28. Oktober 1977 wird zurückgewiesen.

Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob die Wartezeit für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit als erfüllt gilt (§ 1252 Abs 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der 1949 geborene Kläger jugoslawischer Nationalität besuchte in seinem Heimatstaat bis August 1966 die Grundschule. Danach war er dort bis September 1967 fünf Monate als Bauarbeiter beschäftigt. Anschließend durchlief er eigenen Angaben zufolge in Jugoslawien einen dreimonatigen Kursus zur Erlernung des Schlosserhandwerks. In der Bundesrepublik Deutschland war er als Schweißer von Juni 1970 bis März 1974 (46 Monate) versicherungspflichtig beschäftigt. Er nahm vom 15. September 1970 bis zum 24. April 1971 an einem Einführungs- und Aufbaulehrgang des Deutschen Verbandes für Schweißtechnik (insgesamt 220 Stunden) teil und bestand die Abschlußprüfung im Elektroschweißen mit der Einschränkung, er habe wegen Sprachschwierigkeiten fachkundlich nicht ausreichend unterrichtet und geprüft werden können und solle deshalb nur unter verantwortlicher Aufsicht schweißen. Ein Unfall im März 1974 führte zum Verlust des linken Unterschenkels und zu einer schweren Verletzung am rechten Fuß mit bleibenden leistungseinschränkenden Folgen. Die Beklagte lehnte den im April 1975 gestellten Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 22. März 1977 ab, weil die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt sei.

Der Kläger meint, die Wartezeit gelte als erfüllt; der Unfall sei vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung des Schweißerlehrgangs, einer "Ausbildung" iS des § 1252 Abs 2 RVO, eingetreten. Die Beklagte ist der Ansicht, nur solche Ausbildungszeiten seien relevant, welche die Zeit und Arbeitskraft des Auszubildenden überwiegend in Anspruch nähmen; der Versicherte müsse durch die Ausbildung an der Entrichtung von Pflichtbeiträgen gehindert gewesen sein; diese Voraussetzung erfülle der Lehrgang nicht.

Das Sozialgericht (SG) Speyer hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Oktober 1977). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Beklagte verpflichtet, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. April 1975 bis zum 30. September 1977 zu gewähren. Es hat im Urteil vom 11. September 1978 ausgeführt: Die Teilnahme an dem Schweißerlehrgang sei als Ausbildung anzusehen. Dem Gesetzeswortlaut und den Motiven für die Einführung des Abs 2 des § 1252 RVO durch das Rentenreformgesetz (RRG) lasse sich kein Anhaltspunkt für eine enge Auslegung des Begriffs "Ausbildung" entnehmen.

Die Beklagte wendet sich mit der - vom LSG zugelassenen - Revision gegen die Rechtsauffassung des LSG zu § 1252 Abs 2 RVO und stellt in Frage, daß der Kläger erwerbsunfähig gewesen sei, weil er für Dezember 1974 und Mai bis September 1975 Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entrichtet habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. September 1978 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 28. Oktober 1977 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Berufungsurteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht entgegen der Ansicht des LSG kein Anspruch auf eine Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu; denn er war durch den Besuch des Schweißerlehrgangs nicht gehindert, seine versicherungspflichtige Beschäftigung fortzusetzen.

Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger durch einen Verkehrsunfall am 8. März 1974 erwerbsunfähig geworden und bis September 1977 geblieben. Ob der hiergegen erhobene Einwand der Beklagten, aus ihrer Rentenakte und der darin befindlichen Beitragsübersicht ergebe sich die Beitragsleistung des Klägers für Dezember 1974 und Mai bis September 1975 aufgrund eines Versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses, begründet oder auch nur schlüssig sein könnte (für Dezember 1974 wurde in der bescheinigten Höhe Weihnachtsgeld gezahlt, das Entgelt für Mai bis 6. September 1975 ist in dem Speicherausdruck mit dem Vermerk "Reha" versehen, vgl § 1227 Abs 1 Nr 8a Buchst a RVO idF vom 7. August 1974), braucht nicht näher erörtert zu werden. Denn die Wartezeit von 60 Kalendermonaten für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ist mit den bis März 1974 zurückgelegten Versicherungszeiten nicht erfüllt. Sie kann aber auch nicht als erfüllt gelten.

Nach § 1252 Abs 2 RVO - dieser durch das RRG vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) mit Wirkung vom 1. Januar 1973 angefügte Absatz kommt hier allein als Wartezeitfiktion in Betracht - gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung infolge eines Unfalls erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist und in den dem Versicherungsfall vorausgegangenen 24 Kalendermonaten mindestens für sechs Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat.

Entscheidend ist die Bedeutung des Begriffes "Ausbildung" (iVm der Sechsjahresfrist). Darunter ist - wie in § 1251 Abs 2 RVO - sowohl Schul- als auch Berufsausbildung zu verstehen (vgl Niemeyer BArbBl 1973, S 153, 154; VDR-Kommentar, Stand Januar 1978, § 1252 RVO RdNr 20c; Gesamtkommentar - Brockhoff/Müller, Stand 1974, Anm 8 zu § 1252 RVO; Hoernigk/Jorks, Rentenversicherung, Stand Februar 1979, Anm 12 zu § 1252 RVO; Mitt LVA Oberfranken und Mittelfranken 1973 S 374; Mitt LVA Rheinprovinz 1973 S 113, 114). So hatte es im Regierungsentwurf zu § 1251 Abs 2 Satz 2 Buchst a RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) auch noch "Schul- oder Berufsausbildung" geheißen und der Gesetz gewordene Wortlaut "Ausbildung" sollte insofern keine Sinnänderung herbeiführen (vgl SozR Nr 15 zu § 1251 RVO Aa 16). Andererseits hat der Gesetzgeber des RRG - allem Anschein nach bewußt - nicht an die enger und kasuistischer gehaltene Regelung des § 1259 Abs 1 Nr 4 RVO angeknüpft, wonach unter Ausfallzeiten ua die nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegende "abgeschlossene nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Lehrzeit sowie die weitere Schulausbildung oder abgeschlossene Fachschul- oder Hochschulausbildung" fällt. Zur Ausbildung iS des § 1252 Abs 2 RVO kann dabei neben der Berufsausbildung nicht nur die Ausbildung an einer weiterführenden Schule gehören, sondern muß auch diejenige an einer Hauptschule rechnen. Eine solche Auslegung mag zwar nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres, vom Begriff oder allgemeinen Sprachgebrauch abzuleiten sein; sie ergibt sich aber nach der Ansicht des Senats aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Hierüber geben die Gesetzesmaterialien Aufschluß.

Der 10. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, auf dessen Initiative die Vorschrift durch das RRG angefügt wurde, ging davon aus, daß die Fiktion der Wartezeiterfüllung künftig auch dann Platz greife, "wenn der Versicherte in so jungen Jahren oder so kurzer Zeit nach Beendigung seiner Ausbildung einen Versicherungsfall erlebt, daß es ihm normalerweise noch nicht möglich war, die sogenannte kleine Wartezeit zu erfüllen" (zu BT-Drucks VI 3767, Art 1 § 1 - Änderung des Vierten Buches der RVO -, Nr 9 - § 1252 S 14). Dies besagt im Zusammenhang mit dem Gesetzeswortlaut, daß auch derjenige nicht generell von der Vergünstigung des § 1252 Abs 2 RVO ausgeschlossen sein soll, der nach Beendigung der Hauptschule keine (weitere) Ausbildung irgendwelcher Art absolviert. Dafür spricht nicht zuletzt das Gebot der verfassungskonformen Gesetzesauslegung; es wäre eine sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber dem Hauptschüler ohne Berufsausbildung und widerspräche daher nach der Auffassung des Senats dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm dem Sozialstaatlichkeitsprinzip des Art 20 Abs 1 GG, wenn insoweit nur an eine qualifizierte (Schul-)Ausbildung angeknüpft würde.

Geht man vom Endzeitpunkt seiner Schulausbildung aus, scheitert der Anspruch des Klägers an der Sechsjahresfrist, innerhalb deren der auf einem Unfall beruhende Versicherungsfall eingetreten sein muß. Aus demselben Grund scheidet auch der vom Kläger erwähnte Dreimonatskurs als Anknüpfungspunkt aus, so daß dessen rechtliche Würdigung unerörtert bleiben kann.

Der "Einführungs- und Aufbaulehrgang" beim Deutschen Verband für Schweißtechnik, an dem der Kläger teilnahm, war zwar weniger als sechs Jahre vor dem Unfallereignis beendet; indessen führt er hier im Gegensatz zur Ansicht des LSG nicht zur fiktiven Erfüllung der Wartezeit iS des § 1252 Abs 2 RVO. Wie dargelegt, hat die Vorschrift nicht jedwede Ausbildung, sondern die Schul- oder Berufsausbildung zum Gegenstand. Was nun hier unter Berufsausbildung zu verstehen ist, läßt sich weder sprachlich bestimmen, noch kann die Bedeutung des Begriffs aus einem anderen sozialrechtlichen Gebiet auf den vorliegenden Regelungsbereich übertragen werden. Das gilt besonders für das Arbeitsförderungsgesetz (AFG), wenngleich die dort sanktionierte Differenzierung der Begriffe Ausbildung/Fortbildung/Umschulung dem äußeren Anschein nach Anhaltspunkte auch für die gesetzliche Rentenversicherung und damit für den vorliegenden Regelungsinhalt bieten könnte. Indessen hat der mit Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung befaßte 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) darauf hingewiesen, daß es gerade beim Begriff der Berufsausbildung auf den Gesamt- und Sinnzusammenhang des einzelnen Gesetzes ankommt (vgl insbesondere SozR 4100 § 41 Nrn 1 und 11). Soweit verschiedentlich - zumeist ohne nähere Erläuterung - zu § 1252 Abs 2 RVO zwischen Ausbildung und Fortbildung abgegrenzt wird (zB Niemeyer, BArbBl aaO, der allerdings von "Weiterbildung" spricht; VDR-Kommentar aaO; Gesamtkommentar aaO; Mitt LVA Oberfranken und Mittelfranken aaO sowie Mitt LVA Rheinprovinz aaO), kann aus dem AFG hierfür nichts Wesentliches gewonnen werden. Im vorliegenden Rechtsstreit führt die Unterscheidung zwischen den Begriffen schon deshalb schwerlich zu Erkenntnissen, weil auch berufliche Fortbildung regelmäßig die vorangegangene Ausbildung voraussetzt, an der es hier jedenfalls dann fehlt, wenn man darunter eine Ausbildung im herkömmlichen Sinn versteht. Überhaupt wird der Versuch, einer Berufsausbildung Maßnahmen zur beruflichen Anpassung gegenüberzustellen, eine Unterscheidung zwischen Berufsausbildung und Berufsförderung vorzunehmen oder darauf abzuheben, ob im Einzelfall mehr der Ausbildungszweck oder die Ausschöpfung besserer Verdienstmöglichkeiten sowie die Sicherung des Arbeitsplatzes im Vordergrund steht, nicht ohne weiteres eine brauchbare Handhabe zur Differenzierung sein können - unbeschadet dessen, daß diese Kriterien sämtlich gegen den Kläger sprechen, der schon vor Beginn des Schweißerlehrgangs als Schweißer gearbeitet und diese Tätigkeit in demselben Betrieb auch danach beibehalten hat.

Der Senat hält jedoch die von der Beklagten beschriebene Abgrenzung des Begriffs "Ausbildung" in § 1252 Abs 2 RVO für normgerecht. Die Ausbildung muß Zeit und Arbeitskraft des Versicherten ganz oder überwiegend in einem Umfang in Anspruch genommen haben, der ihn an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gehindert hat. Ähnliche Grundsätze hat die Rechtsprechung vor allem zu § 1267 RVO im Zusammenhang mit der "verlängerten" Waisenrente entwickelt, dort freilich unter dem Blickwinkel der Unterhaltsersatzfunktion jener Rentenart (vgl in letzter Zeit SozR 2200 § 1267 Nr 12 und die dort S 38 zitierten Entscheidungen; SozR Nr 13 zu § 1267 RVO Aa 13 R). Hier dagegen steht der Sinn des § 1252 Abs 2 RVO im Vordergrund: Die Vergünstigung soll demjenigen Versicherten zugute kommen, der wegen seiner Jugend oder wegen seiner Ausbildung normalerweise bis zum Unfallereignis die Wartezeit von 60 Kalendermonaten noch nicht hat erfüllen können (vgl zu BT-Drucks aaO). Es wird also ersichtlich auf die Verhinderung der versicherungspflichtigen Beschäftigung in einem bestimmten zeitlichen Ausmaß abgestellt. Dann kann ein Kursus oder Lehrgang, der nur nebenher (etwa abends oder über das Wochenende) absolviert wird und eine gleichzeitige versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit zuläßt, unter Umständen sogar mit ihr einhergeht, nicht rechtserheblich sein. So aber verhält es sich hier. Der Kläger hat an einem 80-stündigen Einführungs- und 140-stündigen Aufbaulehrgang teilgenommen. Die 220 Lehrgangsstunden haben sich auf über sieben Monate verteilt. Er ist während der gesamten Zeit versicherungspflichtig beschäftigt gewesen.

Der Senat übersieht nicht, daß diese an Sinn und Systematik des Gesetzes orientierte Auslegung auch andere hier nicht unmittelbar zu entscheidende Rechtsfragen zu § 1252 Abs 2 RVO berühren kann. Der Sinn und Zweck einer auszulegenden Vorschrift hat aber erhöhte Bedeutung stets dann, wenn der erkennbare Gedanke des Gesetzes im Wortlaut zu eng oder - wie nach der Ansicht des Senats in § 1252 Abs 2 RVO - zu weit zum Ausdruck gekommen ist (vgl BSG, Großer Senat, Beschluß vom 9. Juni 1961 = BSGE 14, 238, 239 = SozR Nr 2 zu § 1291 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd I/1 S 190 p VI mit Nachweisen weiterer höchstrichterlicher Rechtsprechung). Hinweise dafür, an welche Verbesserung bei der Wartezeiterfüllung ursprünglich gedacht war, enthält der Bericht der Bundesregierung zur Frage der Rentenversicherung vom 31. August 1970; dort sind unter der Überschrift "Verzicht auf die Wartezeit bei Personen unter 25 Jahren" Überlegungen im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Versicherten und dem Versicherungsrisiko angestellt worden (vgl BT-Drucks VI/1126 C III 2 c S 31). Diesen Gedanken hat der 10. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung aufgegriffen, als er die fiktive Wartezeiterfüllung auf diejenigen Versicherten erstreckte, die "in jungen Jahren" (oder in so kurzer Zeit nach Beendigung der Ausbildung) einen Versicherungsfall erlebten, daß sie normalerweise die Wartezeit nicht erfüllen konnten (vgl BT-Drucks VI/3767 aaO S 14). Die gegebene Begründung und der Gesetz gewordene Wortlaut decken sich indessen nicht. Weder sind in § 1252 Abs 2 RVO die alternativen Voraussetzungen der "jungen Jahre" oder der kurzen Zeit nach Ausbildungsende zum Ausdruck gekommen, noch wurde die Kausalität dieser Gründe für das Unvermögen, die Wartezeit zu erfüllen, erkennbar gemacht. Gerade nachdem aber nicht mehr ein bestimmtes jugendliches Lebensalter, sondern nur noch das Ende der Ausbildung als Anknüpfungszeitpunkt für die Sechsjahresfrist gewählt worden ist, muß angenommen werden, daß der Gesetzgeber des RRG die Zeit der Ausbildung als den Hinderungsgrund für die Erfüllung der Wartezeit vor Augen gehabt hat. Der Gesetzessinn legt es daher nahe, als "Ausbildung" in § 1252 Abs 2 RVO schlechthin nur eine nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Ausbildung zu verstehen (aA Hoernigk/Jorks; Wortlaut und Zweck der Vorschrift gegenüberstellend: Gesamtkommentar aaO).

Auch eine verfassungskonforme Auslegung führt zu diesem Verständnis des § 1252 Abs 2 RVO. Als Beispiel mögen zwei Hauptschüler dienen, von denen der eine anschließend eine dreijährige - versicherungspflichtige - Lehre zurücklegt, der andere im selben zeitlichen Umfang als Ungelernter versicherungspflichtig tätig ist; unterstellt man, daß beide etwa nach fünfzehnmonatigem Grundwehrdienst zunächst nicht der Versicherungspflicht unterliegen, hiernach sechs Monate eine versicherungspflichtige Beschäftigung verrichten und später als sechs Jahre nach Hauptschulabschluß einen zur Erwerbsunfähigkeit führenden Unfall erleiden, so gebietet die verfassungskonforme Auslegung des § 1252 Abs 2 RVO, beide Sachverhalte gleich zu behandeln. Das kann nur dazu führen, den (früheren) Lehrling ebenfalls wegen Überschreitens der Sechsjahresfrist von der Vergünstigung der Wartezeitfiktion auszunehmen; der Ausbildungstatbestand allein - ohne Rücksicht darauf, ob während dieser Zeit Versicherungspflicht bestand oder nicht - erscheint als sachgerechtes Kriterium für den Beginn der Sechsjahresfrist ungeeignet. Eine derartige - insoweit engere, aber verfassungskonforme - Auslegung ist stets geboten, wenn bei anderer Auslegung davon ausgegangen werden müßte, das Gesetz entspreche ganz oder zum Teil nicht dem Grundgesetz. Bei mehreren möglichen Auslegungen ist also derjenigen der Vorzug zu geben, die der Wertentscheidung der Verfassung am ehesten gerecht wird (ua Brackmann aaO und die dort sowie S 190 p VII zitierte Rechtsprechung und Literatur).

Nach alledem mußte die Revision der Beklagten Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1656023

BSGE, 47

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