Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 03.06.1958)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 3. Juni 1958 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der am 11. April 1937 geborene Kläger begehrt Anerkennung von Verletzungen an beiden Händen mit Verlust des rechten Zeigefingers als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und Gewährung von Rente. Am 31. Oktober 1951 hielten amerikanische Soldaten in der Nähe seines Heimatortes Gefechtsübungen ab. Der Kläger sammelte mit zwei anderen Jugendlichen nach Abschluß der Übungen weggeworfene Geschoßhülsen, spielte damit und erlitt nach einer Explosion die bezeichneten Verletzungen.

Die amerikanische Besatzungsmacht hat den geltend gemachten Schaden mit der Begründung abgelehnt, er sei durch Selbstverschulden entstanden. Den daraufhin vom Kläger gestellten Antrag auf Versorgung nach dem BVG hat das Versorgungsamt (VersorgA.) ebenfalls abgelehnt und dazu ausgeführt, der Unfall sei nach dem 31. Juli 1945 erfolgt. Der Anspruch auf Entschädigung richte sich deshalb nach besonderen, von der Besatzungsmacht erlassenen Vorschriften, nicht aber nach § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Auch im Wege des Härteausgleichs könne eine Versorgung nicht gewährt werden, weil die Besatzungsmacht die Schadensersatzforderung für den Unfall abgelehnt hat und Leistungen nach den Vorschriften für die Kriegsopferversorgung nicht bereits gewährt worden sind. Hiergegen hat der Kläger beim Oberversicherungsamt (OVA.) Nürnberg Berufung eingelegt, die als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Bayreuth übergegangen ist, und vorgetragen, es habe ihm trotz seines damaligen Alters von 14 Jahren an der nötigen Einsicht gefehlt, die Folgen seines Handelns zu überblicken, weil er ständig in ländlicher Umwelt gelebt habe.

Das SG. hat die Klage abgewiesen. Die vom Kläger gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG.) als unbegründet zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, für den geltend gemachten Anspruch seien weder die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. e noch die des Buchst. d BVG erfüllt; es könne auch nicht § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG zur Anwendung kommen. Da die Besatzungsmacht eine Schadensersatzleistung abgelehnt habe, könne auch eine Versorgung im Wege des Härteausgleichs nicht erfolgen. Der Anspruch des Klägers bestehe allein aus rechtlichen Gründen nicht.

Das LSG. hat die Revision „entsprechend dem Antrag des Klägers” mit der Begründung zugelassen: „Da der Senat nicht über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden hat und von keiner der in § 162 Abs. 1 Ziff. 1 Halbsatz 2 des Sozialgerichtsgesetzes angeführten Entscheidungen abgewichen ist, stützt sich die Zulassung der Revision auf § 162 Abs. 1 Ziff. 1 Halbsatz 1 des Sozialgerichtsgesetzes.”

Mit der Revision hat der Kläger beantragt,

1.) das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen;

2.) hilfsweise: das angefochtene Urteil und die diesem zugrunde liegenden Vorentscheidungen abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid über die Gewährung von Versorgung im Wege des Härteausgleichs zu gewähren;

3.) die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren, soweit Verurteilung erfolgt ist, dem Beklagten aufzuerlegen.

Die Revision, die sich für ihre Statthaftigkeit auf § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stützt, rügt eine Verletzung des § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG. Sie ist der Ansicht, daß der gegebene Tatbestand zunächst rein zeitlich noch den Begriff der „unmittelbaren Kriegseinwirkung” im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG erfülle. Es sei auch das Tatbestandsmerkmal des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, nämlich das Vorliegen einer besonderen Gefahr, die mit der Besetzung zusammenhängt, gegeben. Das Abhalten von kriegsmäßigen Manövern durch die Besatzungsmacht, der Gebrauch von Munition und das achtlose Liegenlassen derselben an allgemein zugänglichen Orten stelle eine typische Gefahr militärischer Besetzung dar. Die „besondere” Gefahr, die § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zu seiner Anwendung verlange, liege darin, daß im vorliegenden Falle die herumliegende Munition in der Hand spielender Kinder und Jugendlicher, die ihrer geistigen Entwicklung nach nicht die erforderliche Einsichts- und Willensfähigkeit besessen hätten, zu einer Gefahrenquelle besonderer Art geworden sei. Entgegen der Auffassung des LSG. habe dieses hiernach über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gehabt, so daß aus diesem Grunde: die ausgesprochene Zulassung bindend sei.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, die Revision sei kraft Zulassung statthaft; dagegen seien die gerügten Gesetzesverletzungen nicht gegeben.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 1, § 166 SGG). Sie ist vom LSG. zugelassen worden. Das Berufungsgericht hat im Urteil ausdrücklich ausgesprochen: „Die Revision wird zugelassen”. In den Entscheidungsgründen führt das LSG. dann aus, warum die Zulassung erfolgt ist. An dieser Zulassung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß in der Rechtsmittelbelehrung ausgeführt ist, die Revision ist „nur zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt werden kann (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) oder bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§. 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).” Hierbei handelt es sich offensichtlich um ein Versehen (vgl. dazu auch BSG. 5, 121 [122]). Trotz der ausgesprochenen Zulassung ist die Revision im vorliegenden Falle jedoch nicht statthaft (§ 162 Abs. 1 SGG).

Die Zulassung der Revision ist, wie das Bundessozialgericht (BSG.) bereits für die Berufung ausgesprochen hat (SozR. SGG § 150 Bl. Da 8 Nr. 19), eine Entscheidung. In der Sozialgerichtsbarkeit gehört zu der Prozeßbitte auf Entscheidung – begründet durch das mit der Klageerhebung entstandene Prozeßrechtsverhältnis (vgl. dazu Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., Std.: 1. Oktober 1958, § 2) – auch die Bitte, daß die Gerichte über den dem Rechtsuchenden nach § 150 Nr. 1 und § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG vom Gesetzgeber eingeräumten Anspruch auf Zulassung der Berufung oder der Revision mitentscheiden und diese zulassen, sofern die vom SGG dafür aufgestellten Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Dieser Anspruch richtet sich gegen das Land als den Träger der Hoheit der Sozialgerichtsbarkeit, das ihn durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu erfüllen hat. Dieses Recht ist Ausfluß des Umfangs, in dem in der Sozialgerichtsbarkeit den Rechtsuchenden nach dem SGG der Anspruch auf Rechtsschutz eingeräumt worden ist. Hieraus folgt, daß die Zulassung eines Rechtsmittels in der Sozialgerichtsbarkeit eine echte prozessuale Entscheidung ist.

Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung hat der Gesetzgeber den Sozialgerichten und die über die Zulassung der Revision den Landessozialgerichten übertragen (§ 150 Nr. 1; § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Das SGG hat im Unterschied zu § 53 Abs. 3 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVerwGG) eine Anfechtung der Nichtzulassung nicht vorgesehen. Die Entscheidung über die Zulassung liegt somit allein im Entscheidungsbereich der Sozialgerichte oder Landessozialgerichte und ist grundsätzlich von der höheren Instanz nicht nachprüfbar. Aus der Tatsache der grundsätzlichen Nichtnachprüfbarkeit dieser Entscheidung über die Zulassung folgt ohne weiteres die Bindung des übergeordneten Gerichts an diese. Dieser Grundsatz gilt nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG. vorbehaltlos bei der Nichtzulassung der Berufung oder der Revision (Urt. d. erk. Sen. v. 30.7.1959 – 10 RV 139/59 – u. d. dort zit. weit. Rechtspr.) und in der Regel auch bei ihrer Zulassung. Er ist bei der Zulassung der Revision für den Fall durchbrochen – wie der erkennende Senat in dem vorgenannten eingehend begründeten Urteil ausgeführt hat –, daß die Zulassung nach dem SGG offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgt ist. Hieraus folgt für den zur Entscheidung vorliegenden Fall, daß eine Nachprüfung der Zulassung, insbesondere auch der dazu gegebenen Begründung, dahin erfolgen muß, ob die Zulassung offensichtlich gegen das Gesetz erfolgt ist. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist eine solche offensichtlich gesetzwidrige Zulassung dann anzunehmen, wenn sich aus der gegebenen Zulassungsbegründung und dem Gesamtinhalt des Urteils des Berufungsgerichts eindeutig ergibt, daß keine der in § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG genannten Voraussetzungen gegeben ist, unter der die Revision zuzulassen ist (vgl. Urt. d. erk. Senats v. 30.7.1959 – 10 RV 139/59). Das ist hier der Fall. Die Zulassung der Revision verstößt offensichtlich zunächst gegen § 162 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 SGG, worauf sie das LSG. gestützt hat. Die Aufzählung der Zulassungsgründe in § 162 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz, 2 SGG ist erschöpfend. Der Wortlaut der Nr. 1 des Abs. 1 läßt eine andere Auslegung nicht zu. Danach sind die Möglichkeiten, die Revision zuzulassen, auf die Fälle der Zulassungspflicht beschränkt. Das Berufungsgericht kann mithin die Revision nicht nach freiem Ermessen, wie dies hier erfolgt ist, sondern nur in den Fällen zulassen, die in Nr. 1 Halbsatz 2 des § 162 SGG genannt sind. Diese Auslegung des § 162 SGG wird durch den Sinn und Zweck dieser Vorschrift bestätigt. Bei den dort aufgezählten Fällen handelt es sich um die allein denkbaren Möglichkeiten, bei denen das BSG. – wie auch die anderen Revisionsgerichte – seine Aufgaben der Fortbildung des Rechts und der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung erfüllen kann. Im Hinblick auf diese Aufgaben der Revisionsgerichte sind notwendige Begrenzungen der Statthaftigkeit der Revision nötig gewesen. § 162 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 enthält deshalb keinen selbständigen Zulassungsgrund und stellt auch die Zulassung nicht in das Ermessen des Berufungsgerichts, sondern besagt lediglich, daß das Berufungsgericht der Prozeßbitte auf Zulassung zu entsprechen hat, und zwar dann, wenn ein Fall des Halbsatz zwei gegeben ist.

Der Ausspruch der Zulassung der Revision ist im Urteilstenor uneingeschränkt erfolgt. In den Entscheidungsgründen ist weiter zur Begründung ausgeführt, daß die Zulassung nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung einer zu entscheidenden Rechtsfrage (§ 162 Abs. 1 Halbs. 2 – 1. Fall –) erfolgt ist, weil das LSG. über eine solche nicht zu entscheiden gehabt habe. Diese. Begründung kann nicht unberücksichtigt bleiben bei der Prüfung der Frage, ob die Zulassung der Revision offensichtlich gegen das Gesetz verstößt und deshalb das BSG. nicht bindet. Hierfür ist vielmehr gerade die Begründung mit maßgeblich. Der Ausspruch über die Zulassung der Revision muß in den Fällen, in denen er vom Berufungsgericht begründet worden ist – obgleich insoweit eine Begründungspflicht nicht besteht –, auf seine Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung überprüft werden. Das LSG. hat nun verneint, daß Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden waren. Die vom Senat vorzunehmende Prüfung muß deshalb die Frage miteinbeziehen, ob diese von der Berufungsinstanz für die Zulassung der Revision gegebene Begründung offensichtlich gegen das Gesetz verstößt. Nur insoweit ist eine Überprüfung der Begründung möglich; die Überprüfung ist daher auf die Frage der offensichtlichen Gesetzwidrigkeit beschränkt. Für eine solche offensichtliche Gesetzwidrigkeit der Begründung der Zulassung, soweit zu entscheiden war, ob eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt, gibt weder der Akteninhalt noch der Vortrag des Klägers im Revisionsverfahren irgend einen Anhalt. Die Zulassung der Revision bindet im vorliegenden Fall somit auch deshalb nicht, weil die gegebene Begründung dazu, daß keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden war, nicht offensichtlich gegen das Gesetz verstößt.

Gleiches gilt, soweit das LSG. zur Begründung der Zulassung ausgeführt hat, daß sie nicht auf § 162 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 SGG gestützt werde, weil das LSG. von keiner Entscheidung der in dieser Vorschrift erwähnten Spruchinstanzen abgewichen ist.

Die Revision war deshalb nicht statthaft und mußte nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig verworfen werden, ohne daß auf das sachliche Vorbringen des Klägers eingegangen werden konnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Tesmer, Dr. Plein, Mellwitz

 

Fundstellen

Haufe-Index 926304

BSGE, 269

NJW 1960, 311

MDR 1960, 172

DVBl. 1961, 176

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