Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Sachaufklärung
Orientierungssatz
Übersieht ein medizinischer Sachverständiger in seinem Gutachten einen noch beweisbedürftigen Fragenkomplex, so hat das Gericht den Sachverständigen auf die noch offenen Fragen hinzuweisen und auf Aufklärung hinzuwirken.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.03.1962) |
SG Köln (Entscheidung vom 28.07.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 1962 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, geboren ... 1890, leistete im ersten und zweiten Weltkrieg Wehrdienst. Am 30. September 1953 beantragte er erstmals Versorgung wegen eines Ohrenleidens; er führte dieses Leiden auf einen Sturz im Jahre 1940, der zu einem Nasenbeinbruch und anschließend zu Nasennebenhöhlenentzündungen geführt habe, auf unzulängliche Behandlung wegen der Folgen dieses Sturzes infolge seiner Teilnahme am Rußlandfeldzug und weiter auf Bombendetonationen zurück, die im Jahre 1945 in Jugoslawien in seiner unmittelbaren Nähe erfolgt seien; durch diese Detonationen habe sich sein Leiden verschlechtert; eine weitere Verschlechterung sei 1953 eingetreten. Das Versorgungsamt Aachen lehnte den Antrag mit Bescheid vom 21. September 1954 wegen Fristversäumnis ab, den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Nordrhein am 25. November 1954 zurück, die Klage wies das Sozialgericht Köln durch Urteil vom 28. Juli 1958 ab. Der Kläger legte Berufung ein. Im Termin vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen am 25. November 1960 erkannte der Beklagte beiderseitige hochgradige Schwerhörigkeit als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung an, beantragte jedoch Klagabweisung, soweit der Kläger Rente begehrte. Das LSG beschloß, weiteren Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu erheben über die Frage, ob die Schwerhörigkeit durch Einflüsse des Wehrdienstes entstanden oder verschlimmert worden sei, mit dem Sachverständigengutachten wurde Prof. Dr. L von der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Universität M beauftragt. Das Gutachten wurde am 16. Januar 1961 durch Prof. Dr. E von dieser Klinik erstattet, er kam zu dem Ergebnis, die Schwerhörigkeit des Klägers hänge ursächlich mit dem Wehrdienst nicht zusammen. Die Beteiligten äußerten sich zu dem Gutachten, der Beklagte erklärte, er halte sich an das "Teilanerkenntnis" nach diesem Gutachten nicht mehr für gebunden. Durch Urteil vom 15. März 1962 stellte das LSG fest, der Rechtsstreit sei "durch das angenommene Teilanerkenntnis des Beklagten vom 25. November 1960 insoweit in der Hauptsache erledigt". Im übrigen wies es die Berufung zurück. Es führte aus, die Schwerhörigkeit des Klägers sei in dem angefochtenen Bescheid zu Recht nicht als durch den Wehrdienst hervorgerufen festgestellt (anerkannt) worden. Die Schwerhörigkeit sei auch nicht durch den Nasenbeinbruch 1940 und seine etwaigen Folgen sowie durch deren unzureichende Behandlung verschlimmert worden, dagegen wahrscheinlich durch die Detonationseinwirkungen im Jahre 1945; auch unabhängig von der Frage der Versäumung der Anmeldefrist stehe dem Kläger aber Rente nicht zu, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht wenigstens 25 v. H. betrage, das ergebe sich aus den früheren Gutachten von Dr. Sch und Dr. V/Dr. P. Der Beklagte sei an sein Anerkenntnis des Ohrenleidens im Sinne der Verschlimmerung gebunden, er könne sich auch nicht darauf berufen, daß Prof. Dr. E später jeden ursächlichen Zusammenhang, also auch eine Verschlimmerung, verneint habe; Prof. Dr. E habe nur dargelegt, daß die Bombenexplosionen im Jahre 1945 die Schwerhörigkeit, die schon seit 1940 bestanden habe, nicht "verursacht", d. h. hervorgerufen haben könnten; zu der Frage, ob das Leiden durch diese Detonationseinwirkungen verschlimmert worden sei, habe Prof. Dr. E überhaupt nichts gesagt, er habe diesen Fragenkomplex "offenbar übersehen", sein Gutachten stehe deshalb aber auch nicht in Widerspruch zu den anderen Gutachten, die insoweit eine Verschlimmerung bejaht hätten; diese Gutachter hätten die Verschlimmerung aber mit weniger als 25 v. H. bewertet.
Das Urteil wurde dem Kläger am 11. Mai 1962 zugestellt. Am 5. Juni 1962 legte der Kläger Revision ein, ohne einen Antrag zu stellen. Mit Schriftsatz vom 9. Juni 1962, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 12. Juni 1962, beantragte er,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Bescheid vom 21. September 1954 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 1954 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die bei dem Kläger bestehende Schwerhörigkeit im Sinne der Entstehung als Schädigungsfolge in vollem Umfange anzuerkennen und ihm ab 1. September 1953 eine entsprechende Rente zu zahlen, soweit der Anspruch nicht durch das Teilanerkenntnis vom 25. November 1960 erledigt ist.
Am 3. Juli 1962 und - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 12. Juli 1962 begründete der Kläger die Revision. Er rügte Mängel des Verfahrens des LSG: Das LSG habe Prof. Dr. L mit der Erstattung eines Gutachtens auf Grund stationärer Beobachtung beauftragt, das Gutachten sei aber ohne Änderung des Beweisbeschlusses und ohne Benachrichtigung des Klägers durch Prof. Dr. E ohne stationäre Beobachtung, nach einer nur kurzen Untersuchung, erstattet worden. Dieses Gutachten sei unzulänglich; das LSG habe selbst in den Urteilsgründen ausgeführt, daß Prof. Dr. E eine der Beweisfragen "offenbar übersehen" habe, es habe deshalb nicht entscheiden dürfen, ohne eine Stellungnahme des Gutachters zu dieser Frage herbeizuführen. Das LSG habe auch außer acht gelassen, daß 1953 und 1954 von den anderen Gutachtern die MdE mit 40 und 60 v. H. bewertet und daß der Kläger wegen des Ohrenleidens invalidisiert worden sei, es habe deshalb zu Unrecht angenommen, der Kläger sei beruflich nicht besonders betroffen; auch hierzu habe Prof. Dr. E sich überhaupt nicht geäußert. Da das Ohrenleiden erstmals während des Krieges aufgetreten sei und sich seither laufend verschlechtert habe und da der Beklagte selbst die Verschlimmerung durch den Wehrdienst anerkannt habe, habe das LSG auch die Beweise unzutreffend gewürdigt, wenn es die wehrdienstbedingte Verschlimmerung auch bei Berücksichtigung des Berufs des Klägers nur mit einer MdE um 10 bis 15 v. H. bewertet habe.
Der Beklagte stellte keinen Antrag.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln. Der Kläger kann zwar nicht mehr mit Erfolg rügen, daß das Gutachten vom 16. Januar 1961 nicht, wie dies nach dem Beweisbeschluß des LSG vorgesehen gewesen ist, von Prof. Dr. L, sondern von Prof. Dr. E erstattet worden sei; es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG sich mit dem Gutachten eines anderen als des in dem Beweisbeschluß beauftragten Sachverständigen hat begnügen dürfen, obwohl es den Beweisbeschluß vom 25. November 1960 nicht geändert hat, und ob das LSG insoweit gegen § 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 360 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verstoßen hat; jedenfalls hat der Kläger insoweit das Recht zur Rüge eines etwaigen Verfahrensmangels dadurch verloren, daß er nach der Erstattung dieses Gutachtens, das ihm vor der Verhandlung in Abschrift mitgeteilt worden ist, erneut mündlich zur Sache verhandelt, diesen Mangel aber nicht gerügt hat (§ 202 SGG i. V. m. § 295 ZPO; BSG 3, 284 ff; 4, 60 ff); er hat sich zwar auch im Berufungsverfahren, ebenso wie im Revisionsverfahren, gegen den Inhalt dieses Gutachtens gewandt, er hat aber im Berufungsverfahren nicht gerügt, daß das Gutachten nicht von Prof. Dr. L, sondern von Prof. Dr. E erstattet worden sei.
Der Kläger rügt jedoch zu Recht, daß das LSG die Beweisaufnahme deshalb nicht als erschöpfend hat ansehen dürfen, weil Prof. Dr. E, wie das LSG selbst in den Urteilsgründen ausgeführt hat, sich zu der Frage, ob die Innenohrschwerhörigkeit durch Detonationseinwirkungen im Jahre 1945 verschlimmert worden sei, überhaupt nicht geäußert, sondern "diesen Fragenkomplex offenbar übersehen" und sich folglich auch nicht mit der Frage befaßt hat, inwieweit die MdE des Klägers etwa durch eine solche Verschlimmerung gemindert ist und wie sich diese Verschlimmerung etwa für den Beruf des Klägers ausgewirkt hat. Zwar haben dem LSG die Gutachten von Dr. Sch vom 28. Mai 1954 und von Dr. V/Dr. P von der Universitäts-Hals-, Nasen-Ohrenklinik H vom 22. Dezember 1959 vorgelegen, die übereinstimmend eine Verschlimmerung des Ohrenleidens durch Detonationsschädigungen im Jahre 1945 bejaht, den wehrdienstbedingten Verschlimmerungsanteil aber nur mit 10 bis 15 v. H. bewertet haben. Die Frage, ob die wehrdienstbedingte MdE etwa deshalb höher zu bewerten sei, weil der Kläger, wie er behauptet, infolge der Schwerhörigkeit seinen Beruf habe aufgeben müssen und deshalb beruflich besonders betroffen sei, hat Dr. Sch im Ergebnis deshalb verneint, weil er die Aufgabe des Berufs im wesentlichen auf Altersschwerhörigkeit zurückgeführt hat. Das Gutachten von Dr. V/Dr. P ist insoweit unklar, weil diese Gutachter für den wehrdienstbedingten Anteil der Verschlimmerung an der Gesamt-MdE 10 v. H. angenommen, gleichzeitig aber ausgeführt haben, für die eigentliche Ursache der Schwerhörigkeit im übrigen - also soweit sie nicht wehrdienstbedingt sei - lasse sich keine hinreichende Erklärung finden, durch das Lebensalter allein sei, auch wenn man eine vorzeitige Altersschwerhörigkeit annehme, "nur ein geringer Teil der Schwerhörigkeit zu erklären" und wenn sie abschließend trotzdem "die Gesamt-MdE auf Grund der Schwerhörigkeit in Anbetracht des Berufes" mit "mindestens 50 v. H." angenommen haben; dieses Gutachten läßt deshalb keinen Schluß darauf zu, wieweit die Gutachter im Hinblick auf den wehrdienstbedingten Anteil der MdE mit Rücksicht auf den Beruf des Klägers eine höhere Bewertung als 10 v. H. für geboten gehalten haben; es stimmt auch mit dem Gutachten von Dr. Sch nicht überein, weil es, anders als Dr. Sch, einer etwaigen Altersschwerhörigkeit keine wesentliche Bedeutung beigemessen hat. Erkennbar hat auch das LSG diese beiden Gutachten nicht als ausreichend für die medizinische Beurteilung angesehen; denn es hat in dem Termin vom 25. November 1960 von Amts wegen beschlossen, weiteren Beweis zu erheben, und es hat die Beweisfragen an den Gutachter ausdrücklich dahin formuliert, ob die Schwerhörigkeit des Klägers durch Einflüsse des Wehrdienstes "entstanden oder verschlimmert" und bejahendenfalls, "wie hoch die durch wehrdienstliche Einflüsse bedingte MdE zu schätzen sei". Diese Frage hat - worauf das LSG den Gutachter allerdings nicht hingewiesen hat - auch die Frage umfaßt, ob der Kläger etwa durch das Zusammentreffen wehrdienstbedingter und nicht wehrdienstbedingter Schädigungen seinen Beruf hat aufgeben müssen, auch insoweit ist die etwaige wehrdienstbedingte Verschlimmerung durch die Detonationsschäden im Jahre 1945 erheblich gewesen. Das LSG hat sich deshalb, da auch die beiden anderen Gutachten eindeutige medizinische Schlußfolgerungen nicht zugelassen haben, nicht mit dem Gutachten von Prof. Dr. E begnügen dürfen, wenn in diesem Gutachten ein noch beweisbedürftiger Fragenkomplex "offenbar übersehen" worden ist; es hat vielmehr zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts Prof. Dr. E auf diesen übersehenen Fragenkomplex hinweisen und zur Ergänzung seines Gutachtens veranlassen müssen. Es hat auch die Frage, ob der Kläger beruflich besonders betroffen sei, jedenfalls nicht schon deshalb verneinen dürfen, weil der wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil "nur verhältnismäßig geringfügig" sei. Abgesehen davon, daß das Urteil des LSG nichts darüber enthält, welchen Beruf der Kläger ausgeübt hat, hat es nicht von einer "verhältnismäßig geringfügigen" und damit auch für die Berufsausübung des Klägers nicht wesentlichen Verschlimmerung des Ohrenleidens ausgehen dürfen, wenn noch keine erschöpfenden medizinischen Gutachten darüber vorgelegen haben, wie hoch der wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil zu bewerten ist. Der Kläger hat sonach zu Recht gerügt, daß das LSG gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen habe; die Revision ist damit statthaft.
Die Revision ist auch frist- und formgerecht eingelegt; der Kläger hat den nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG erforderlichen Antrag am 12. Juni 1962 und damit noch innerhalb der Revisionsfrist, die an diesem Tage abgelaufen ist (der 11. Juni 1962 war ein Feiertag), gestellt (§ 64 Abs. 3 SGG). Die Revision ist damit zulässig; sie ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG, wenn es die noch erforderlichen Beweise erhebt und würdigt, zu einem anderen Ergebnis kommt. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob das LSG sachlich-rechtlich an das "Anerkenntnis" des Beklagten, daß das Ohrenleiden durch den Wehrdienst verschlimmert worden sei, gebunden gewesen ist. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben, die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen