Entscheidungsstichwort (Thema)
Ursachenzusammenhang bei einem Unfall aus innerer Ursache
Leitsatz (amtlich)
Verletzungen bei einem auf niedrigem Blutdruck beruhenden Ohnmachtsanfall (Kreislaufkollaps) infolge hastigen Aufstehens aus dem Bett sind auch dann nicht "durch", sondern nur "bei Gelegenheit" einer betrieblichen Tätigkeit entstanden, wenn der Anlaß des hastigen Aufstehens ein zutreffend vermuteter betrieblicher Telefonanruf war und nicht feststellbar ist, daß die Reaktion auf jeden anderen Telefonanruf wesentlich gelassener erfolgt wäre.
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Sinne der in der gesetzlichen Unfallversicherung maßgebenden Ursachenlehre sind Ursachen im Rechtssinne nur diejenigen Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben; die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Einzelfall als Ursache oder Mitursache im Rechtssinne zu gelten haben, ist aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten.
2. Ein Unfall, den eine versicherte Person bei der betrieblichen Tätigkeit erleidet, ist kein Arbeitsunfall, wenn der Unfall auf innerer Ursache beruht und in gleicher Weise auch bei unabhängigen Abläufen des täglichen Lebens eintreten kann.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.12.1978; Aktenzeichen L 4 U 59/78) |
SG Kiel (Entscheidung vom 20.06.1978; Aktenzeichen S 4 U 157/77) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte die Klägerin für einen Unfall zu entschädigen hat, den diese in ihrem Schlafzimmer auf dem Weg vom Bett zum Telefon erlitten hat.
Die 1925 geborene Klägerin ist die Ehefrau eines landwirtschaftlichen Unternehmers. Da dieser Mitglied der freiwilligen Feuerwehr seines Wohnortes ist, befindet sich im Schlafzimmer bei seinem Bett ein Telefonanschluß. Das Telefon steht nachts auf seinem Nachttisch. Am 30. August 1977 gegen 6.00 Uhr läutete das Telefon. Die Klägerin erwachte, stand hastig auf, ging um die Betten und erlitt auf dem Weg zum Telefon einen Kreislaufkollaps. Sie brach zusammen und fiel gegen das Waschbecken im Schlafzimmer. Das Gespräch kam deshalb nicht zustande; es stellte sich jedoch nachträglich heraus, daß ein Landwirt angerufen hatte, der vereinbarungsgemäß den Ausbruch von Jungvieh aus einer dem Ehemann der Klägerin gehörenden Weide mitteilen wollte. Der um 6.30 Uhr herbeigerufene Hausarzt behandelte die Klägerin wegen Schmerzen über dem unteren Brustbein und im Bereich des rechten unteren Rippenbogens; er schrieb sie bis zum 9. September 1977 arbeitsunfähig. Den Unfall führte er darauf zurück, daß der Kreislauf der Klägerin, die an niedrigem Blutdruck leide, durch das plötzliche Aufstehen dekompensiert und zum Kollaps geführt habe.
Den Antrag auf Unfallentschädigung lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 3. Oktober 1977 ab; den Widerspruch wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 25. November 1977), weil die Klägerin bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit aus innerer Ursache verunglückt sei.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Kiel den Facharzt für innere Krankheiten Dr H als Sachverständigen gehört. Er hat sich der Beurteilung des Hausarztes angeschlossen. Durch Urteil vom 20. Juni 1978 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, das Ereignis vom 30. August 1977 als Arbeitsunfall anzuerkennen und der Klägerin mit einem neuen Bescheid die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren. Das SG hat in dem betrieblich bedingten Anruf, der die Klägerin aus dem Schlaf geschreckt und zu überhastetem Aufrichten veranlaßt habe, eine Mitursache ihres Unfalls erblickt. Die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. Dezember 1978 zurückgewiesen. Es hat den Weg der Klägerin von ihrem Bett zum Telefon als betriebliche Tätigkeit gewertet, weil sie in der Vorstellung gehandelt habe, einen das Jungvieh des Ehemannes betreffenden Anruf entgegenzunehmen. Auf eine innere Ursache sei der Unfall deshalb nicht zurückzuführen, weil nicht die Kreislaufverhältnisse, sondern das hastige Aufstehen und die plötzliche Lageveränderung die wesentliche Ursache des Kollapses gewesen seien. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil ihm klärungsbedürftig erschien, ob und in welchem Umfang die Vorstellung des Verletzten, eine betriebliche Tätigkeit ausüben zu wollen, für die Annahme eines Arbeitsunfalls bestimmend sein kann.
Mit der Revision rügt die Beklagte sinngemäß eine Verletzung des § 548 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Klägerin habe sich auf dem Weg zum Telefon noch nicht im betrieblichen, sondern im privaten Bereich befunden, zumal sie den Weg zum Telefon in Unkenntnis der Person des Anrufers und deshalb in der grundsätzlichen Bereitschaft zurückgelegt habe, von jedermann einen Anruf jeglichen Inhalts entgegenzunehmen, sogar eine Fehlverbindung aufzuklären. Von der Vermutung, daß es sich um einen betrieblichen Anruf handeln könne, dürfe der Versicherungsschutz deshalb nicht abhängig gemacht werden, weil er dann im Falle des betriebsbezogenen Anrufs bei Erwartung eines privaten Anrufs versage.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgerichts vom 20. Dezember 1978 sowie
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 20. Juni 1978
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Das Bundessozialgericht (BSG) ist gem § 160 Abs 3 SGG an die vom LSG ausgesprochene Zulassung der Revision gebunden, wenn auch die vom LSG für klärungsbedürftig erachtete Frage durch die Rechtsprechung des BSG bereits geklärt ist (vgl BSGE 5, 168, 172; 20, 215, 218).
Die Revision ist begründet. Die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben; die Klage ist abzuweisen. § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist verletzt, wenn auch nicht in der von der Revision gerügten Weise.
Der Auffassung der Revision, die Klägerin habe sich noch im privaten und nicht im betrieblichen Bereich befunden, als sie, vom Klingeln des Telefons geweckt, aufstand und sich in der zutreffenden Erwartung dem Telefon näherte, einen Anruf über das Ausbrechen des Jungviehs aus der Weide zu erhalten, kann der Senat nicht folgen. Nach den Feststellungen des LSG, die von der Revision nicht angegriffen und somit gem § 163 SGG für das BSG bindend sind, hatte der Ehemann der Klägerin mit dem in der Nähe seiner Jungviehweide wohnhaften Landwirt L ausgemacht, daß ihn dieser anrufen sollte, wenn Jungvieh ausbrechen würde. Diese Vereinbarung war besonders deshalb zweckmäßig, weil das Telefon wegen der Mitgliedschaft des Ehemannes der Klägerin bei der freiwilligen Feuerwehr ohnehin in den Nachtstunden auf seinem Bettisch stehen mußte. Denn auf diese Weise wurde auch für die Zeit der Nachtruhe eine betriebliche Bereitschaft organisiert, die bei Ausbruch von Jungvieh ein möglichst schnelles Eingreifen des Betriebsinhabers und seiner Hilfskräfte gewährleistete. Deshalb verrichtete die Klägerin eine betriebsdienliche Tätigkeit, als sie auf das Klingeln des Telefons hin in der - zutreffenden - Erwartung aufstand und schnell zum Telefon lief, eine Mitteilung über das Ausbrechen von Jungvieh zu erhalten. Der Revision kann nicht dahin gefolgt werden, daß allein auf die räumlichen Verhältnisse abzustellen ist. Denn bei dieser formalen Betrachtungsweise müßten von den Unternehmern zur Wahrnehmung ähnlicher Bereitschaftsdienste zweckwidrig weite Wege zum Telefon in Kauf genommen werden, um der räumlichen Trennung Rechnung zu tragen, welche die Revision fordert. Behinderungen im Betriebsablauf können aber nach dem Zweck der Unfallversicherung nur dann gefordert werden, wenn sie zur Verminderung der Unfallgefahr führen, nicht aber, wenn sie längere Wege bedingen und dadurch die Unfallgefahr eher vergrößern als verringern.
Das LSG hat mithin zutreffend das vom Läuten des Telefons veranlaßte Aufstehen der Klägerin aus dem Bett und ihren Weg zum Telefon als eine betriebliche Tätigkeit gewertet. Es genügte insoweit, daß sich die Klägerin davon leiten ließ, dem Betrieb zu dienen (vgl BSGE 5, 168, 172; 20, 215, 218).
Obgleich sich somit das Urteil des LSG in dem von der Revision beanstandeten Punkt als zutreffend erweist, ergibt die weitere Prüfung, daß § 548 Abs 1 Satz 1 RVO, wenn auch von der Revision so nicht ausdrücklich gerügt, verletzt ist. Die Verletzung materiellen Rechts hat das Revisionsgericht gem § 202 SGG iVm § 559 Satz 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ohne Bindung an die geltend gemachten Revisionsgründe zu beachten (vgl BSG SozR Nr 2 zu § 559 ZPO; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand April 1980 § 170 Anm 1; Meyer-Ladewig, SGG § 170 Anm 3).
Beachtlich ist hier zunächst die unzutreffende Anwendung der in der Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung - häufig als Theorie der wesentlich mitwirkenden Ursache bezeichnet - (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand April 1980, Seite 480e mwN). Danach sind als Ursache und Mitursache unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Bedingungen wesentlich den Erfolg mitbewirkt haben, ergibt sich aus der Abwägung der einzelnen Bedingungen gegeneinander, die nach der Erfahrung des praktischen Lebens vorzunehmen ist (BSGE 1, 72, 76; 12, 242, 246; 38, 127, 129). Daß eine Bedingung für den Erfolg wesentlich gewesen ist, ist ein Tatbestandsmerkmal der Kausalitätsnorm. Bei der Subsumtion von Tatsachen unter die Kausalitätsnorm wird diese angewandt. Es handelt sich nicht darum festzustellen, was als erwiesen anzusehen ist, sondern es wird beurteilt, welche Bedingungen nach der Kausalitätsnorm zu den Ursachen im Rechtssinne gehören (BSGE 7, 288, 291 = SozR Nr 106 zu § 162 SGG). Der Senat ist deshalb nicht gehindert, die Beurteilung des LSG nicht die Kreislaufverhältnisse der Klägerin seien die wesentliche Ursache des Kollapses gewesen, sondern das hastige Aufstehen und die plötzliche Lageveränderung, der rechtlichen Nachprüfung zu unterziehen. Diese muß zunächst zu dem Ergebnis führen, daß ohne die iS eines Blutniederdrucks veränderten Kreislaufverhältnisse der Klägerin hastiges Aufstehen und plötzliche Lageveränderung nicht zu ihrem Kollaps hätten führen können. Daraus folgt, daß die Kreislaufverhältnisse der Klägerin in bezug auf den eingetretenen Unfall nicht als unwesentlich außer Betracht bleiben können. Entgegen der Auffassung des LSG sind die Kreislaufverhältnisse mithin wesentliche Ursache des Kollapses der Klägerin.
Bei Unfällen aus innerer Ursache hat das BSG bislang den für die Entschädigung erforderlichen betrieblichen Zusammenhang nur dann angenommen, wenn der Unfall dem Verletzten ohne die betriebliche Tätigkeit in derselben Art oder Schwere wahrscheinlich nicht zugestoßen wäre (vgl BSG SozR Nr 18 zu § 543 RVO aF, Nr 28 zu § 548 RVO). Der Zusammenhang ist verneint worden, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar war, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte (vgl BSG SozR Nr 47 zu § 542 RVO aF).
Neben dem Blutniederdruck als innerer Ursache des Kollapses der Klägerin gewinnt das hastige Aufstehen und die damit verbundene plötzliche Lageveränderung deshalb rechtlich wesentliche Bedeutung nur dann, wenn es gerade die besondere Eigenart des betrieblich bedingten Anrufes war, ein hastiges Aufstehen mit plötzlicher Lageveränderung zu bewirken und dadurch den im Blutniederdruck vorbereiteten Kreislaufkollaps auszulösen. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist der Kollaps und damit der Unfall der Klägerin durch die betriebliche Tätigkeit herbeigeführt und nicht nur bei Gelegenheit der betrieblichen Tätigkeit entstanden. Der Schutz der Unfallversicherung dient nämlich nicht dazu, bei betrieblichen Tätigkeiten augenscheinlich werdende Gesundheitsstörungen zu entschädigen; entschädigt werden vielmehr nur durch die betriebliche Tätigkeit herbeigeführte Gesundheitsstörungen. Die Betriebstätigkeit der Klägerin stellt sich somit nur dann als Ursache und nicht als bloßer Anlaß des Kreislaufkollapses dar, wenn das hastige Aufstehen und die plötzliche Lageveränderung nur durch den betrieblich bedingten Telefonanruf, nicht aber auch durch andere Telefonanrufe oder sonstige alltäglich vorkommende Ereignisse verursacht worden wären. Gerade das kann jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht angenommen werden.
Das LSG hat die Angabe der Klägerin in seine Feststellungen übernommen, der Anruf sei für sie überraschend gekommen, deshalb sei sie hastig aus dem Bett aufgesprungen und gegen ihre Gewohnheit nicht geruhsam aufgestanden. Weiter hat das LSG festgestellt, daß die Klägerin durch das Läuten des Telefons erst erwacht war. Ist aber die Klägerin vom Telefon aus dem Schlaf aufgeschreckt und hastig aus dem Bett gesprungen, so folgt daraus, daß jeder die Klägerin im Schlaf überraschende Telefonanruf und jedes ähnliche Ereignis bei ihr zu derselben Reaktion geführt und den im Blutniederdruck vorprogrammierten Kreislaufkollaps ausgelöst hätte. Eine Feststellung des Inhalts, daß die Klägerin nicht aus dem Schlaf aufgeschreckt und sofort aus dem Bett gesprungen wäre, wenn sie in dem Augenblick, als das Telefon läutete, zu der Überzeugung gelangt wäre, der Anruf beträfe nicht den landwirtschaftlichen Betrieb, sei möglicherweise privater Natur oder beruhe gar auf dem Versehen eines Fernsprechteilnehmers, hat das LSG nicht getroffen und nach den Umständen des Falles auch nicht treffen können. Es fehlt somit an der Voraussetzung, daß gerade die besondere Belastung oder Gefährdung durch die Betriebstätigkeit (vgl BSG SozR 2200 § 555 Nr 2) und nicht nur eine auch anderweit jederzeit mögliche Belastung oder Gefährdung anläßlich der Betriebstätigkeit, die zusammen mit dem Blutniederdruck der Klägerin zum Kreislaufkollaps führende Bedingung und deshalb Mitursache im Rechtssinne für den Unfall der Klägerin gewesen ist. Ihre betriebliche Tätigkeit ist zwar Bedingung des Unfalls im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne; ihre Wertung als rechtlich wesentliche Bedingung - als Mitursache des Unfalls im Rechtssinne - muß jedoch daran scheitern, daß der Unfall der Klägerin in gleicher Weise auch den betriebsunabhängigen Abläufen des täglichen Lebens entspringen konnte.
Hat somit die Klägerin den Unfall vom 30. August 1977 nicht durch eine unfallversicherungsrechtlich geschützte Tätigkeit, sondern nur anläßlich einer solchen Tätigkeit durch das Wirksamwerden innerer Ursachen erlitten, stand sie dabei nicht im Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wie die Beklagte im Ergebnis zutreffend festgestellt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen